» Texte / Novi Beograd: Differentiated Neighbourhoods

Elke Krasny

Elke Krasny ist Kuratorin, Stadtforscherin und Professorin für Kunst und Bildung an der Akademie der bildenden Künste Wien.


In Südosteuropa ist die Rasanz urbaner Transformationen durchdrungen vom ökonomischen Paradigma des kapitalintensiven Neoliberalismus. Die Logiken des Informellen auf allen Ebenen und des Marktes in vielen Facetten beherrschen den städtischen Alltag. Alle stabilen Anhaltspunkte und langfristigen Kontinuitäten sind durchbrochen. Vorherrschend sind Turboakzeleration und Kapitallogik. In deren Folge sind Sprünge und Risse, Widersprüche und Konflikte auszumachen, die den sozialen und kulturellen urbanen Raum in Bedrängnis versetzen. Novi Beograd/New Belgrade ist ein exemplarisches Labor der Ideologien und der Ökonomien.

In dieser explosiven Melange der Veränderungen initiierte Zoran Eric, Kurator des Centre for Visual Culture am Museum of Contemporary Art (MoCAB) in Belgrad, das langfristig angelegte künstlerische und urbanistische Rechercheprojekt Differentiated Neighbourhoods. Das Zentrum für visuelle Kultur kann als paradigmatisch für die ideologischen Veränderungen des Kulturbegriffs im spezifischen lokalen Kontext von Belgrad angesehen werden. Es war in den 1970er Jahren gegründet worden, hatte sich aus der Museumspädagogik heraus entwickelt und verfolgte den Anspruch durch Kunst zu erziehen. Es setzte auf die soziale Rolle von Kunst und kooperierte in seinen Seminaren und Aktivitäten mit Schulen, mit Fabriken, mit öffentlichen Firmen, mit Universitäten. Als Zoran Eric 2005 an diesem Zentrum für visuelle Kultur die Stelle des Kurators annahm, galt es, dessen Rolle in den veränderten Rahmenbedingungen der Verhältnisse zwischen Gesellschaft, Kultur, Staat und Stadt neu zu definieren. Wiewohl manche der Begriffe gleich geblieben sein mögen, ist es ihr Bedeutungsinhalt und ihr Kontext, der neue Ansprüche stellt, andere Inhalte und Zusammenhänge konstruiert. Die Publikation Differentiated Neighbourhoods of New Belgrade ist als eine Nachlesespur aus dem Recherche- und Untersuchungsprojekt in und über Novi Beograd geblieben.

Trotz globalisierter Bewegungsströme sind nicht alle Orte der Welt gleichermaßen im System von Austausch und Mobilität mit eingeschlossen. Das Buch Differentiated Neighbourhoods of New Belgrade, das mit einem Zitat des Globalisierungstheoretikers Arjun Appadurai über die Produktion von Neighbourhoods beginnt, ist wegen Auslieferungsrestriktionen nicht international auslieferbar, es muss direkt über das Museum of Contemporary Art in Belgrad (www.msub.org.rs) erworben werden.

Um einen kritischen Diskurs und eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Novi Beograd zu führen, wurde im Februar 2006 ein erstes Treffen des Teams veranstaltet. Der Hintergrund der Auseinandersetzung ist zum einen die Gegenwart in Novi Beograd, in der Eric die „perverse Ehe von neoliberalem, räuberischem Kapitalismus und aggressivem orthodoxem Christentum“ betont. Zum anderen ist es das spezifische historische Erbe dieses Stadtteils als Moderneexempel des Sonderwegs Jugoslawiens zwischen Ost und West. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Novi Beograd von jugoslawischen Arbeitsbrigaden errichtet. 1961, das im heutigen Westen als jenes Jahr in kollektiver Erinnerung geblieben ist, in dem der Mauerbau in Berlin begann, fand in Belgrad die Gründungssitzung der Bewegung der Blockfreien Staaten statt, initiiert vom jugoslawischen Präsidenten Tito, vom ägyptischen Staatschef Nasser, vom indonesischen Präsidenten Sukarno sowie vom indischen Premier Nehru.

Der über ein Jahr währende Prozess der lokalen Stadtfeldforschung Differentiated Neighbourhoods führte zu drei Themenschwerpunkten. Zum einen wurde eine Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe Novi Beograds als Verwaltungshauptstadt des sozialistischen Jugoslawiens und mit der Frage der sozialräumlichen Homogenisierung versus Differenzierung geführt. Ein zweiter thematischer Schwerpunkt konzentrierte sich auf die aktuellen urbanen Transformationen und den bedrohlich-überwältigenden Vormarsch von neoliberalen, kapitalintensiven Kräften, die in die leeren Räume von Novi Beograd eindringen und diese in Besitz nehmen. Der dritte Angelpunkt der künstlerischen und urbanistischen Recherchen setzte auf eine Innensicht, auf die subkulturellen, marginalisierten und segregierten neighbourhoods und die kollektiven Orte, an denen ein Gefühl der Identifikation und der lokalen Identität (wieder) entstehen kann. Hier stellte sich auch zentral die Frage, wie Community Building durch künstlerische oder urbanistische Strategien und Methoden mitinitiiert und befördert werden kann.

Das Buch und die dazugehörige DVD versammeln nun Einsichten in dieses prozessbasierte, diskursreiche und rechercheintensive Kunstprojekt. Die Vielzahl der Essays und der fotografischen Dokumente beinhaltet unter anderem einen Essay von Ljiljana Blagojevic zu New Belgrade: The Capital of No-City's Land, den Beitrag von Mark Terkessidis The Space in-between the Blocks. Learning from Local Modes of Place-making, die Auseinandersetzung von Sabine Bitter und Helmut Weber mit NEW, Novi Beograd 1948 - 1986 - 2006, die Untersuchungsmethode von Dubravka Sekulic, Dunja Predic und Davor Eres We Ask Architects Who are Asked: As Those Asked about New Belgrade, Stefan Römers Road-movie Boulevard der Illusionen oder Bik van der Pols Art is either Plagiarism or Revolution, or: Something is Definitely going to Happen Here.

Im Zuge der intensiven künstlerischen Stadtfeldforschungen fand eine Wiederentdeckung des Textes von Henri Lefebvre zum städtebaulichen Wettbewerb zu Novi Beograd aus dem Jahr 1986 statt. Aus diesem Fund gestalteten Sabine Bitter und Helmut Weber in Folge das Künstlerbuch Autogestion or Henri Lefebvre in New Belgrade. Lefebvre sah die Stadt als partizipatives Oeuvre aller. Gegen die obrigkeitsverordnete Stadtplanung wurde das Potenzial der Selbstorganisation gestellt. Differentiated Neighbourhood, erschienen auf Englisch und auf Serbisch, ist intellektuelle Aufbauarbeit, sich mit dem Denkmöglichen von Stadt in rasanten Transformationsprozessen intensiv auseinanderzusetzen.


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