Iris Meder


„In Tel Aviv drängen sich die Mietshäuser auf Grundstücken von 15 mal 50 m, gehen auf enge, staubige Straßen hinaus; aber all das ist ,modern‘. Eckfenster, Betonplatten zum ,Schutz‘ von ich weiß nicht was, allenfalls zu Schutz der ästhetischen Theorien ihrer Architekten; zu breite, zu niedrige Fenster, brutale Öffnungen, durch die das Licht abrupt in die Schlafzimmer fällt, statt wie in Frankreich durch irgendeine ,Vorrichtung‘ zwischen der Lichtquelle und dem Inneren gefiltert zu werden. Beim Anblick eines Hauses kann man sagen: Dein Architekt hat 1926 Stuttgart (oder Breslau) verlassen. Er ist bei diesem letzten Schrei von vorgestern geblieben. Er hat nie geahnt, daß Palästina nicht Schlesien ist und daß es bei gewissen Problemen der Architektur seit 1926 einen Fortschritt gegeben hat.“

Der Brief, den Julius Posener, Doyen der deutschen Architekturkritik, an Le Corbusier schrieb, stammt vom November 1935. Es war die Hoch-Zeit des Baus von Tel Aviv, der 1909 als autonome Kolonie neu gegründeten Siedlung neben dem alten Jaffa. Es ist wohl unfreiwillig, dass die im Az W zu sehende Ausstellung Posener zunächst nur zu bestätigen scheint, wenn sie mitteleuropäische Vorbilder und in Tel Aviv realisierte Bauten nebeneinanderstellt – wobei eben oft tatsächlich zehn Jahre dazwischen liegen. Das war in den Dreißigern unter Umständen eine ganze Menge. Und die Vorbilder aus den Zwanzigern heißen meist Erich Mendelsohn (dessen Kaufhaus Schocken jeder 1926 aus Stuttgart weggegangene Architekt kannte) und Hans Scharoun (für Breslau), weniger Le Corbusier, Walter Gropius und Bruno Taut. Plastizität, Massivität, Körperlichkeit und Dynamik waren gefragt im heißen Klima Palästinas, tiefe, schattenspendende Loggien prägen sinnvollerweise das Äußere der Häuser, und Poseners Furor ist nicht überall nachvollziehbar. Jedenfalls wäre er der erste, jenen, auch israelischen, Architekturhistorikern und –historikerinnen beizupflichten, die sich dagegen aussprechen, das seit 2003 als UNESCO-Weltkulturerbe klassifizierte Ensemble Tel Aviv als „weltgrößte Bauhaus-Siedlung“ zu etikettieren, ähnlich wie ein Fremdenverkehrs-Slogan der Stadt Wien einmal den Karl-Marx-Hof als „zwei Kilometer Art Déco“ vermarkten wollte. Auch dieser wird in der Ausstellung übrigens als Vorbild für Tel Aviver Bauten reklamiert.

Aus der Distanz von siebzig Jahren sieht man allerdings nicht nur die von Posener beklagte oft leicht retardierte Architekturentwicklung Palästinas, sondern wird den Planern und Planerinnen auch die Neuartigkeit der Aufgabe zugestehen müssen, in einer sprachlich, kulturell und geografisch meist völlig fremden Umgebung und in einer Stadt, die zwischen 1930 und 1935 von 50.000 auf 120.000 Einwohner und Einwohnerinnen anwuchs, jenes Gefühl des Zuhauseseins zu schaffen, das sich bei Posener so gar nicht einstellen wollte. Und da orientierte man sich eben an dem, was modernen Menschen ein europäisches Zuhause geboten hatte.

So sind es denn auch weniger spektakuläre Einzelleistungen als vielmehr das Ensemble, auch als Zeitdokument, das den Weltkulturerbe-Status rechtfertigt und die Stadt zum Gegenstand der sehenswerten Wanderausstellung macht. Eine Fülle von bemerkenswerten Bauten tut sich auf, mit großen Fotos, wenigen, aber sehr schönen Modellen, konzisen erläuternden Texten und Displays mit Plänen und gut gemachten Visualisierungen von Konstruktionsschemata und nicht zuletzt mit einer langen Wand voller Lebensläufe der in Tel Aviv bauenden Architekten und Architektinnen. All dies bietet eine Fülle von Informationen, ohne zu erschlagen, und fordert zum Wiederkommen, Vertiefen und Nachlesen auf. Denn das vom Az W herausgegebene begleitende „Hintergrund“-Heft bietet zwar einige gute und wichtige Aufsätze, gerade zu österreichischen Architekten in Palästina, die ausführlicheren Publikationen zur Ausstellung sind aber leider alle ebenso opulent wie kostspielig.

Ausstellung
The White City of Tel Aviv
Tel Aviv’s Modern Movement
Architekturzentrum Wien
21. Februar bis 19. Mai 2008


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