Paris. Die Poetik des anthropologischen Ortes
Geschichte der Urbanität, Teil 11; Die Stadt im 19. Jahrhundert IIIDer Verlust des Zentrums hat eine überraschende und unvorhersehbare Entwicklung der Stadt zur Folge, wie am Beispiel Paris erneut nachgewiesen werden soll. Merkwürdigerweise kommen durch die Öffnung der Stadt und ihre beginnende Expansion die alten anthropologischen Strukturen des Ortes und des Territoriums - die über lange Zeit von den zentralistischen Strukturen überlagert, dominiert worden und vergessen gewesen sind - aufgrund der Wiederentdeckung durch Schriftsteller und ihre Übertragung in die Sprache der Poesie zu neuer Bedeutung. Victor Hugo ist in Hinblick auf diese topologische Überprüfung der Stadt und des Aufspürens alter Substanzen an erster Stelle zu nennen. Seine Romane und Texte sind Belege für eine urbane Feinfühligkeit und erzeugen eine zweite, imaginäre Schicht der Stadt, ein neues Gewebe der Bedeutung. So kommen in seinem Werk Les Misérables die uralten Zonen der Artemis, das städtische Umland, die Peripherie ebenso zur Sprache wie der Zugang zum Untergrund und die Unterwelt selbst. Dort entstehen neue Orte der Imagination, die im Schicksal der Romanfiguren eine wichtige Rolle spielen, aber zugleich auf die Einbildungskraft des Lesers einwirken und real werden. Komplementär zu dieser Entwicklung der poetischen Beschreibung verläuft der Expansions- und Zirkulationsprozess mit seiner Neustrukturierung des Verhältnisses zwischen Körper und Stadtraum. Durch das Aufkommen des Omnibusses entsteht eine erste Form der beschleunigten Massenbewegung, die nur drei Jahrzehnte später zur U-Bahn in London führt. Die Möglichkeit zur schmerzfreien Ent-fernung hat neue Näheverhältnisse des Urbanen sowohl räumlicher als auch sozialer Art zur Folge.
Die Entdeckung der Peripherie
Die Idee des Zentrums beginnt sich bereits im 18. Jahrhundert aufzuweichen, indem die städtische Aristokratie in Frankreich Paris verlässt und wieder auf das Land zieht. Paris umgibt sich mit galanten Horten, den »folies«, kytherischen Inseln, die auch Charles Baudelaire beschrieben hat, von wo aus sich eine äußerst verfeinerte Rokokokultur ausbreitet. Im 19. Jahrhundert wird das Land durch die Eisenbahn neu entdeckt, die Landschaft und der Bauer werden mit neuen Augen gesehen, und durch die aufkommende Siedlungstätigkeit, die von neuartiger Naturliebe inspiriert ist, entstehen die Vorstädte, die banlieus. Die Gründe für diese Verschiebungstendenz vom Zentrum zur Peripherie liegen neben der Hauptursache der Revolution und der Demontage des Königs in der damit einhergehenden Abnahme der Strahlungskraft des Zentrums -- im Sinne einer symbolischen Abwertung des zentralistischen Denk- und Machtmodells. Doch die Ablösung dieses Jahrtausende alten, religiös motivierten und anthropologisch begründeten Modells erzeugt nicht notwendigerweise eine topographisch einleuchtende und emotional nachvollziehbare Nachfolge-Morphologie. Jedenfalls fließen nun die Ideen der Grenze, der Peripherie, der Öffnung und Dispersion nach und versuchen eine geistige Besetzung des alten Terrains, um es neu zu gestalten. Das revolutionäre Motiv der Aufsprengung korreliert mit der Entdeckung der Peripherie, die zwar in dieser Phase dem Zentrum noch nicht entgegengesetzt wird, aber erstmals Beachtung findet. Damit einher geht auch der sich ankündigende Verlust der Perspektive in der Kunst, der im 19. Jahrhundert vorbereitet wird und der die Aufgabe einer zentralistischen, ursprünglich aristokratisch privilegierten Sichtweise eines Weltausschnittes zur Folge hat. Die Dezentrierung der Darstellung und des Blickes werden noch weitreichende Auswirkungen auf die Stadtwahrnehmung und die Gestaltung haben. Vorläufig fühlen sich die Künstler vom Jahrhunderte währenden Blickzwang auf das Zentrum befreit und entdecken in der Bewegung des Sich-Umdrehens die Peripherie, als den Raum zwischen innen und außen. Dieser neue Raum der Grenze, der Barriere und der Vorstadt hat durchaus mythenbildende Potenz, zumal die zentrifugale Kraft, von der er durchflutet ist, für die Entwicklung des 19. Jahrhunderts bestimmend sein wird. Die Kolonialexpansion kann sich nur aufgrund dieses zentrifugalen Zuges entwickeln und wahrscheinlich bedeutet die Entdeckung der Peripherie nur die erste Station jener expansiven Bewegung, die zu der ganz großen Ausdehnung der europäischen Völker dieser Zeit führt.
Im Zeichen des Saturn. Die Melancholie der Vorstadt
Victor Hugo beschreibt in Les Misérables die Vorstadt aus der Perspektive des Flaneurs und legt damit ein frühes Bekenntnis der Topophilie zur Peripherie ab. Zugleich erkennt er genau die Schwelle zwischen Stadt und Umwelt, zwischen Kultur und Natur. »Sinnend umherirren, das heißt bummeln, ist ein guter Zeitvertreib für Philosophen, besonders in dieser etwas zwitterhaften, ziemlich häßlichen, aber bizarren und aus zwei Welten bestehenden Flur, die gewisse Großstädte und Paris umgibt. Die Bannmeile beobachten heißt ein Amphibium beobachten. Ende der Bäume, Beginn der Dächer, Ende des Grases, Beginn des Pflasters, Ende der Furchen, Beginn der Läden, Ende der Wagenspuren, Beginn der Leidenschaften, Ende des göttlichen Gemurmels, Beginn der menschlichen Unruhe, das macht sie ungemein interessant. (…) Der Schreiber dieser Zeilen vagabundierte lange Zeit vor den Toren Paris herum, und für ihn ist das eine Quelle weit zurückreichender Erinnerungen. Dieser kurze Rasen, diese steinigen Pfade, die Kreide, der Mergel, der Gips, die herbe Monotonie des brachliegenden Landes, die Gärtner zwischen dem Frühgemüse, die man plötzlich in einer Senke sieht, diese Mischung von Wildem und Bürgerlichen, diese verlassenen weiten Flächen, auf denen die Trommler aus der Garnison lärmend üben und eine Art Schlachtgestotter hervorbringen, diese Einöden tagsüber, Räuberhöhlen in der Nacht, die Mühle, die sich langsam im Winde dreht, die Förderräder der Steinbrüche, die Schenken an den Ecken der Friedhöfe, der geheimnisvolle Reiz der hohen düsteren Mauern, die unversehen riesige, unbebaute und von der Sonne überflutete Grundstücke voller Schmetterlinge eingrenzen, das alles zog ihn an. Fast niemand auf Erden kennt diese eigenartigen Orte (...) [-]die Pierre Plate bei Châtillon, wo es einen alten, stillgelegten Steinbruch gibt, der nur noch dazu dient, Pilze wachsen zu lassen, und den an der Erdoberfläche eine Falltür aus morschen Bohlen verschließt. Die römische Campagne ist ein Begriff, die Pariser Bannmeile ein anderer. In dem, was uns ein Horizont bietet, nichts weiter als Felder, Häuser oder Bäume sehen, heißt nicht tiefer eindringen. Die Stelle, an der eine Ebene in eine Stadt übergeht, ist stets von ergreifender Schwermut durchdrungen. Natur und Menschheit sprechen hier gleichzeitig zu einem«[1].
Die tiefe Melancholie der Übergangszone wird hier erstmals ganz deutlich ausgesprochen. Zudem breiten sich dort jene Orte aus, die Michel Foucault später als die »Heterotopien« bezeichnen wird, also jene Orte, die in der Geschichte der Stadt immer schon an der Grenze angesiedelt gewesen sind. Kasernen zum Grenzschutz, Friedhöfe, die sich allerdings bis ins 18. Jahrhundert im Herzen der Stadt neben der Kirche befunden haben und erst dann aufgrund eines fundamentalen Einstellungswechsels und aufkommender Distanz zu den Toten nach außen verlegt worden sind. Auch das Gewerbe mit seinem Eindringen in die Naturzonen, wie die Steinbrüche, ebenso die Gärtner, die den postrevolutionären Gourmets der Stadt das Frühgemüse liefern. Die düsteren Schenken und Räuberhöhlen ergänzen dieses romantische Bild durch die soziale Dimension der outlaws, also jener sozialen Randgruppen, die sich nach ihrem Status in der sozialen Topographie möglichst weit außerhalb der Stadt ansiedeln müssen, um sich dem Arm des Gesetzes zu entziehen. Der Charakter dieser Zone mit dem Übergang von innen nach außen, der nach den uralten Regeln des anthropologischen Territorialismus verläuft, ist hier noch räumlich mit der Stadtgrenze identisch. Musste man sich früher beim Wiedereintritt in die Stadt oder in das geschützte Territorium einem speziellen Reinigungsritual unterziehen, so tritt merkwürdigerweise nach dem Entfallen dieses Ritus die Melancholie an seine Stelle. Der sanfte Schmerz, der zugleich schön ist und der die meisten bei der Betrachtung der Peripherie befällt, jene unbestimmte Traurigkeit also, die so eng mit der Wahrnehmung dieser Zone verbunden ist, verbindet sich in der Moderne mit dem moralisch Erhabenen im Sinne Kants.
Kant hält die melancholische Stimmung für eine Vorstufe der moralischen Haltung. Der Himmelskörper der Melancholie ist der Saturn, weil in den alten astrologischen Aussagen als ein düsterer Himmelsherrscher beschrieben. Saturn ist die lateinische Bezeichnung des Titanen Kronos, der auch der Vater des Zeus ist, und der von seinen eigenen Söhnen entthront wurde. Die Zuordnung zum Traurigen beruht auf seinem katastrophalen Schicksal, seiner Misshandlung und seiner Gefangenschaft im Tartarus. Er ist, so die Verse des Manilius, von seinem Thron gestürzt und von der Schwelle der Götter verjagt und an das umgekehrte Ende der Himmelsachse verbannt worden, um dort seine Kräfte auszuüben. In der Astrologie beherrscht er die Fundamente des Universums, nämlich den »imum coeli« genannten untersten Abschnitt des Himmels, von dem aus er die ganze Welt gleichsam in umgekehrter Perspektive, von einem grundsätzlich feindseligen Standpunkt aus anblickt.[2] Diese Stellung in der äußersten Zone des Himmels, der Saturn ist damals der äußerste Planet, den man vor der Erfindung des Fernrohres sehen kann und der daher als Begrenzung des Himmelssystems gedacht wird, hat ihn zum Gott der Peripherie gemacht, später auch zu einem italienischen Flurgott. Seine Traurigkeit im Sinne der Charakterlehre beruht aber auf der Distanz zum Zentrum und seiner Stellung in der Verbannung. Diese melancholische Stimmung ist der Peripherie auch heute zu eigen und es ist schwer zu sagen, ob dafür die Schwingungen, die der Zentrumsverlust des Saturn ausgelöst hat, oder der Übergang von Stadt zu Land, von Kultur zu Natur verantwortlich sind.
Unterwelt und Mundus
»Paris steht über einem Höhlensystem, aus dem Geräusche der Métro und Eisenbahn heraufdröhnen, in dem jeder Omnibus, jeder Lastwagen langaushallenden Widerhall erweckt. Und dieses große technische Straßen- und Röhrensystem durchkreuzt sich mit den altertümlichen Gewölben, den Kalksteinbrüchen, Grotten, Katakomben, die seit dem frühen Mittelalter Jahrhunderte hindurch gewachsen sind. (…) Auch sonst warf diese unterirdische Stadt für die, die sich in ihr ausgekannt haben, ihren greifbaren Nutzen ab. Denn ihre Straßen schnitten die große Zollmauer, mit der die fermiers généraux ihre Rechte auf Abgaben von der Einfuhr sich sicherten. Der Schmuggelverkehr im sechzehnten und achtzehnten Jahrhundert ging zum größten Teil unter der Erde vor sich. Wir wissen auch, dass in Zeiten öffentlicher Erregung sehr schnell unheimliche Gerüchte über die Katakomben umliefen, zu schweigen von den prophetischen Geistern und weisen Frauen, die von rechtswegen dahin zuständig sind«[3]. So notiert Walter Benjamin im Kapitel »Antikisches Paris, Katakomben, démolitions, Untergang von Paris«, die Rede ist von den alten Kalksteinbrüchen aus römischer Zeit, die ein miteinander verbundenes unterirdisches System von Kavernen bilden, und gibt damit einen Hinweis zu diesem merkwürdigen Sachverhalt eines subterranen, aber zugleich urbanen Raumes. Lässt sich ein derartiger Zusammenhang historisch rechtfertigen oder ist er nur ins Reich der Phantasie zu verweisen? Zu Benjamins Zeiten war die Forschungslage zu diesen Fragen vielleicht noch unklarer, heute weiß man genauer über den realen Hintergrund dieser Unterweltverbindung, der aus der Tradition der Stadtgründung kommt, Bescheid. Der Mundus war ein Loch, das in der Antike anlässlich des Stadtgründungsritus in die Erde gegraben wurde und das eine oder zwei Kammern beinhaltete, die den Göttern der Unterwelt geweiht waren. Er war ein Höllenloch, das die Verbindung zu den Göttern der Unterwelt herstellen sollte. Die Siedler füllten Früchte und andere Gaben in dieses Loch in der Hoffnung die Götter gütig zu stimmen. Dann bedeckten sie das Loch, stellten einen viereckigen Stein auf und entfachten ein Feuer. Strukturell gleicht dieser Ritus den Fruchtbarkeitsbräuchen, die ebenfalls durch Opfer, die in Erdlöcher und Gruben gelegt werden, charakterisiert sind. Der Glaube an die Geburt aus der Tiefe der Erde beruht auf dem Mythos der großen Mutter und stellt einen klassischen Fruchtbarkeitskult der Agrarvölker dar, der in allen Kulturkreisen zu finden ist und auch stets eine große Nähe zum Tod aufweist. Diese Verbindung zur Unterwelt wird nun durch Hugos Roman wiederaufgenommen und damit eine Markierung jener Räume der Fruchtbarkeit und des Todes, der Geburt und des Begräbnisses vorgenommen. Bei Hugo werden die Ideen der künftigen Menschheit in der Unterwelt entwickelt, die Revolutionen beziehen ihre Energie ebenfalls von unten. Der Begriff der Subversion ist im 19. Jahrhundert die erste Erscheinungsform der politischen Idee und kann sich nur von unten her ausbreiten.
Taupe Crime. Der Maulwurf Verbrechen
Die Unterhöhlung der Stadt eröffnet eine zusätzliche, unterirdische Szenerie des Verborgenen. Neben der Vernetzung durch ein gigantisches Röhrensystem zur Versorgung und Entsorgung ist das Höhlensystem der Stadt die Beherbergungsstätte einer Art von Parallelgesellschaft, die in der Abgeschiedenheit des Untergrundes lebt, sich aber eines Tages wieder an das Licht begeben wird, wenn der Zeitpunkt der Revolution gekommen ist. Die Unterhöhlung der Stadt entspricht zugleich der der Gesellschaft. Im Untergrund werden verborgene Diskurse geführt, die den Boden für eine neue Gesellschaft vorbereiten sollen und deren Protagonisten auf den richtigen Moment der Erhebung warten. Zunächst setzt Hugo mit einer Metapher der Bühne und ihrer Versenkungsmechanismen ein: »Die menschliche Gesellschaft hat das, was in den Theatern Versenkung genannt wird. Ihr Boden wird allenthalben unterminiert, bald für das Gute, bald für das Böse.« Noch eindringlicher setzt er mit dem Gleichnis des Bergwerks, seinen Stollen, Minen und Schächten fort. Immer wieder seien im Lauf der Geschichte die großen Veränderungen emporgestoßen um zu stürzen, was oben bestimmend war, die alten Regeln umzustoßen, um der gesellschaftlichen Entwicklung neue, bessere Wege zu weisen. »Unter dem Bau der Gesellschaft, diesem großartigen, kunstvollen Gemäuer, finden sich Aushöhlungen aller Art. Da gibt es die Mine der Religion, der Philosophie, der Politik, der Ökonomie und der Revolution. Der eine hackt mit dem Gedanken, der andere mit der Zahl, der dritte mit dem Zorn. Man ruft und gibt sich Antwort von einer Katakombe zur anderen. Sie verzweigen sich darin in alle Richtungen. Manchmal begegnen und verbrüdern sie sich«[4]. Die großen geistigen Rebellen und politischen Revolutionäre von Luther über Descartes und Voltaire bis zu Robespierre, Marat, Babeuf. Diese Männer mussten so lange im Untergrund verbringen, bis sich ihre Überlegenheit über die oben verwirklichte. Ihre Unterdrückung ist eine geschichtsphilosophische Notwendigkeit und das Wissen um ihre künftige Überlegenheit lässt sie in der Tiefe verharren. »Die Geburtswehen der Zukunft gehören zu den Visionen der Philosophen. Eine Welt als Fötus in der Vorhölle, was für ein unerhörtes Bild«[5].
Karl Marx hat den proletarischen Kampf, der im 19. Jahrhundert durch Europa verlief durch das Bild des Maulwurfs, der seine unterirdischen Gänge gräbt, illustriert. Dieser Maulwurf kommt in den Zeiten offener Klassenkonflikte an die Oberfläche, um sich dann wieder in den Untergrund zurückzuziehen. Aber diese Zeit wird nicht vergeudet, sondern er gräbt weiter seine Tunnel um im richtigen Moment an die Oberfläche zurückzukehren. »Brav gewühlt, alter Maulwurf!«[6]
In den oberen Abschnitten des Untergrunds wird die Zukunft gedacht, in diesem großen, dem Licht unzugänglichen Raumgeflecht der Katakomben, aber es gibt noch tiefere Schichten des Untergrundes, die nur mehr Verbrecher beherbergen, doch dort wo Verbrechen und dumpfe Stupidität herrschen, ist nichts Produktives zu erwarten: »Unter all den Minen und Stollen, unter dem ganzen unermesslichen, unterirdischen, Adergeflecht und der Utopie, noch viel tiefer in der Erde (...) eine fürchterliche Stätte. Sie haben wir Versenkung genannt. Hier ist das Reich der inferi, und es geht dem Abgrund zu. Hier verschwindet die Uneigennützigkeit. Der Dämon zeichnet sich undeutlich ab; jeder für sich. Das augenlose Ich heult, sucht, tastet und nagt. Der soziale Ugolino steckt in diesem Schlund. Die scheuen Silhouetten, die in dieser lichterlosen Gruft umherstreichen, fast Tiere, fast Gespenster, fragen nicht nach dem allgemeinen Fortschritt, sie ahnen nichts vom Gedanken und vom Wort, ihr einziger Wille ist die individuelle Sättigung. Sie sind nahezu ohne Bewusstsein und innerlich auf erschreckende Weise ausgelöscht«[7]. Doch auch sie sind im Grund ohne Schuld, denn das Licht der Aufklärung und der Vernunft hat sie nie erreicht, Bücher haben sie nie in die Hand bekommen. »Zerstört den Keller der Unwissenheit und ihr rottet den Maulwurf Verbrechen (taupe crime) aus«.[8]
Die Barrikade: Verbote des Surrealismus
Aus dieser räumlichen Disposition des Unten kommt es durch die Erhebung, ein Begriff der den Aufstieg von unten impliziert, zur Szene der Barrikadenschlacht, die auf dem Aufbegehren der Unteren beruht, die sich ihr Recht erkämpfen wollen. Der Kampf der Unterdrückten geht in einer spontanen, explosionshaften Bewegung aus der Tiefe der Stadt selbst hervor. Die Aufständischen nützen die besondere räumliche Situation der verwinkelten Gassen, die ihr Territorium darstellen und verwenden auch spontan die Materialien, die sie in die Hand bekommen können, für den Kampf. Gewehre und Pistolen kommen aus den Waffenläden, die Barrikaden aus den Pflastersteinen, aus Türen, Matratzen und umgekippten Wagen. Die Barrikaden sind strategisch meist ohne Wert und eher Ausdruck des Aufbegehrens und der Wut.
Bemerkenswert ist neben der politischen Bedeutung jedoch die Komposition der Materialien, die die Jahrzehnte spätere Erfindung des Surrealismus antizipiert und übertrifft. »Die Barrikade von Saint-Antoine war ungeheuerlich. Drei Stockwerke hoch und siebenhundert Fuß lang, versperrte sie von einer Ecke zur anderen die breite Zufahrt zur Vorstadt, das heißt drei Straßen (...) Die Frage: Wer hat das gebaut? war ebenso berechtigt wie die Frage: Wer hat das zerstört? Es war die unvorbereitete Aufwallung. Da, nehmt die Tür, das Gitter, das Vordach, den Fensterrahmen, das zerborstene Fensterbecken, den gesprungenen Kochtopf! Gebt alles her! Werft alles, alles hin! Schiebt, wälzt, schuftet, zerschlagt, verwüstet, reißt alles ein! Mitgewirkt hatten hier das Pflaster, der Bruchstein, der Balken, die Eisenstange, der Lumpen, die zerbrochene Fensterscheibe, der Stuhl ohne Strohsitz, der Kohlstrunk, der Fetzen, der Plunder und die Verwünschung. Das war groß und zugleich klein, war der an Ort und Stelle vom wüsten Durcheinander parodierte Abgrund. Die unförmliche Maske neben dem Atom, das losgerißene Mauerstück und der verbeulte Blechnapf, eine bedrohliche Verbrüderung der Trümmer«[9].
Doch im Verlauf des Aufstands zeigt sich die Unterlegenheit der Aufständischen gegen die Ordnungskräfte des reichen Paris, diese machen den HöhlenbewohnerInnen die Stadt streitig und drängen sie zunächst in die Seitengassen ab. Die Ausgänge werden abgeschnitten. Die Situation der nächtlichen Hetzjagd ist ausweglos, Fluchtversuche nach oben durch Überklettern der Mauer scheinen unmöglich. Es gibt nur mehr einen Rückweg, zurück in die Unterwelt, durch einen Kanaldeckel in die Kloaken: »Der Untergrund von Paris, könnte das Auge durch seine Oberfläche dringen, würde den Anblick einer riesenhaften Buschkoralle bieten. Ein Schwamm besitzt kaum mehr Öffnungen und Gänge als die sechs Meilen im Umkreis messende Erdscholle, auf der die uralte große Stadt ruht. Abgesehen von Katakomben, die einen gesonderten Keller ergeben, abgesehen von dem unentwirrbaren Gitterwerk der Gasleitungen und ganz zu schweigen von dem weitverzweigten Röhrensystem für die Quellwasserverteilung auf die Straßenbrunnen, bilden die Kanäle für sich allein auf beiden Ufern ein gewaltiges, geheimnisvolles Netz, ein Labyrinth, dessen Faden sein Gefälle ist.« Graham Green als der Verfasser von Der Dritte Mann hat seinen Hugo gelesen, eine Ausbildung in Oxford und Agententätigkeit im britischen Geheimdienst tragen eben Früchte, die Unterweltszene hat ein berühmtes literarisches Vorbild.
Der Omnibus. Verkehr wird öffentlich
1828 wurde auf den Boulevards mit der Station Porte Saint-Martin die erste regelmäßig befahrene Strecke des öffentlichen Verkehrs geschaffen. Diese Verkehrslinie wurde von Droschken mit einem Fassungsraum für sechzehn Passagiere in regelmäßigen Intervallen befahren, hatte Haltestellen zum Zusteigen und ihre Preise waren so günstig, dass sie von allen benützt werden konnte. Daher gab das Unternehmen diesem ersten System des öffentlichen Verkehrs den Namen »Omnibus«, das vom lateinischen omnibus, für alle, kommt. Ein Begriff, der sich in der Welt des Verkehrs bis heute erhalten hat. »Durch die Verbindungen, die zwischen den verschiedenen Wagen eingeleitet worden sind, ist jetzt Paris wie mit einem Omnibusnetz überzogen, dessen Maschen so eng ineinandergreifen, dass man für den geringen Preis von 6 sous sich von allen Punkten nach allen Punkten hin begeben kann.«[10] Nach 1830 kamen durch die Deregulierung zahlreiche andere Linien dazu, die zumeist von unterschiedlichen jeweils konkurrierenden Unternehmen befahren wurden. Der Omnibus vermittelt einige Grunderfahrungen der Urbanität, die heute so selbstverständlich sind, dass sie nur durch Abstraktion wieder vorstellbar werden. Als wichtigstes Erlebnis gilt den Zeitgenossen die Erfahrung der égalite, der Gleichheit, durch die vermischte Präsenz aller Bevölkerungsschichten. So sitzen Livrierte neben eleganten Damen, Arbeiter im Kittel neben Aristokraten. Im Omnibus wird die Erfahrung des beliebigen Kontaktes gelernt. Ein Zitat von Georg Simmel erinnert uns daran, dass zuvor die gemeinsame Präsenz von Menschen automatisch zur Kommunikation führte. Es wäre unvorstellbar gewesen, dass Menschen in einem Zugabteil sitzen ohne miteinander zu sprechen. Vor der Erfindung der öffentlichen Verkehrsmittel im 19. Jahrhundert waren die Menschen nach einem Simmeldiktum überhaupt nicht in der Lage, sich minuten- bis stundenlang gegenseitig anzublicken, ohne miteinander zu sprechen. Da aber in Zeiten der wachsenden Menschenmengen dieser kommunikative Kontakt nicht immer erwünscht ist, kommt es durch eine spezifische Haltung des Großstädters zur Verweigerung der Kommunikation, die Simmel als Reserviertheit und Blasiertheit bezeichnet.[11] Diese Haltung entsteht aufgrund der psychohygienischen Notwendigkeit einer Vermeidung innerer Reaktionen und des sich nicht immer Einlassen-Könnens bei fortwährender Berührung mit anderen Menschen. Der Vorteil dieser Reaktion liegt aber auch in der gleichgültigen Akzeptanz von Erscheinungen, die eine innere Aversion hervorrufen und erhöht damit auch die persönliche Freiheit. Dieser so selbstverständlich scheinende doch grundlegende anthropologische Lernschritt des Sich-Distanzierens trotz gemeinsamer Präsenz ist ein klassischer Topos der Urbanität, der von Simmel entdeckt und beschrieben wurde. »Im allgemeinen betrachtet ist der Omnibus das ergötzlichste Panorama von der Welt. Außer den Kaffeehäusern und Kirchhöfen, ist er der einzige Ort auf Erden, wo alle Menschen vollkommen gleich sind, d.h. alle Menschen welche 30 Centimes Vermögen haben. Eine Omnibusfahrt hat endlich eine tief philosophische Bedeutung; sie gleicht dem menschlichen Leben. Wie Omnibus-Passagiere kommen wir hiernieden an, niemand weiß, woher; nehmen nebeneinander Platz und machen vorübergehende Bekanntschaften mit Leuten, welche der selbe Reisezweck mit uns zusammenführt. Wenn sie unterwegs aussteigen, erlöscht ihr Andenken gar bald in unserem Gedächtnis, weil andere Reisende ihre Stelle besetzen«[12].
Schmerzlose Geschwindigkeit. Urbane Entfernung
Bewegung im Raum, die Überwindung größerer Distanzen ist eine körperliche Leistung, die in ihrer Kapazität limitiert ist. Wer die Grenzen seiner Möglichkeiten überschreitet, wird dies durch eine körperliche Antwort des Schmerzes erfahren. Auf diese Weise ist der Bewegungsraum des Menschen zunächst auf natürliche Weise eingeschränkt, erst durch die Domestizierung des Pferdes seit der Antike lassen sich auch am Land größere Distanzen überwinden, durch die Einführung des Postverkehrs und der Kutsche werden überregionale Verkehrslinien möglich. In der Stadt, die zunächst auf eher engem Raum innerhalb ihrer Mauern existiert, besteht vor ihrer Phase der Ausdehnung kein großer Bedarf an Verkehrsmitteln, da die EinwohnerInnen an ihre Viertel durch Arbeit und Wohnen gebunden sind. Pferdefuhrwerke dienen hauptsächlich dem Warentransport.
In der Möglichkeit zur anstrengungsfreien Bewegung liegt eines der Geheimnisse des urbanen Fortschrittes, Komfort scheint zunächst nicht mehr als ein Mittel zur Befriedigung der Bequemlichkeit zu sein, tatsächlich aber reichen seine Leistungen weiter und dienen der Abschirmung von äußeren und inneren Reizen des Körpers. Das Gehen und Laufen, jene Bewegungsarten, die der Mensch kraft eigener Organe beherrscht, sind den Sinnesorganen angepasst, übermäßige Steigerungen führen zum Schmerz und einem Anzeigen der Grenzen der Belastbarkeit. Höhere Geschwindigkeiten erfordern daher eine Lösung des Fußes vom Boden und eine Verlagerung auf andere, fremde Ebenen wie Tierrücken oder Fahrgestelle ebenso wie eine Veränderung der Sinnlichkeit. Bereits die Verlagerung auf den Rücken des Pferdes ist nur durch eine Zähmung des Tieres und neue Kontrolle über den eigenen Körper möglich. Die Erfindung des Stuhles und seine Anbringung am Fahrzeug, kurz die Erfindung des Gefährts initiieren einen Prozess zunehmenden Tempos, der die Sinne anspannt und langfristig überfordert.[13]
Mit der Erfindung der öffentlichen Verkehrsmittel, die zunächst noch mit Pferden betrieben werden, ergibt sich noch keine dramatische Beschleunigung, jedoch eine schleichende Veränderung der Größe des Stadtraumes durch Öffnung des herkömmlichen Bewegungsradius, der auf die unmittelbare Wohnumgebung beschränkt war. Diese Aufhebung der realen Größe der Stadt macht den Anfang einer Zerstörung der sozialen Nähe und des anthropologischen Ortes, die beginnende städtische Omnipräsenz steht in enger Beziehung mit dem gleichzeitig stattfindenden Prozess der territorialen Ausdehnung. Durch den Verlust des urbanen, sakralen Zentrums entsteht ein zentrifugaler Sog, der aufgrund der Möglichkeit zur Vereinigung zweier gegensätzlicher Elemente - Unbewegtheit und Beschleunigung - zum Auslöser einer Fluchtbewegung wird. Die Unbewegtheit bzw. Schmerzfreiheit des Körpers durch das Sitzen führt zur Flucht nach innen und einer Steigerung der Einbildungskräfte. Die Mobilität führt zur Flucht nach außen, zu steigender Geschwindigkeit und räumlicher Desorientierung. Die Steigerung der Einbildungskräfte wirkt wiederum nach außen durch den Wunsch nach Zunahme der Beschleunigung, die aufgrund wachsender technischer Kompetenz realisierbar wird. Das 19. Jahrhundert ist durch eine fortwährend wachsende Reisegeschwindigkeit gekennzeichnet. Die Möglichkeit zur schmerzlosen, sitzenden Bewegung erzeugt die fließende Ablösung vom anthropologischen Ort und die Auflösung der territorialen Bindungskräfte im reizstarken urbanen Raum. Nur in der Poesie lebt dieser Raum weiter.
Fußnoten
Victor Hugo, Die Elenden. München: Manesse Verlag, 2000, S. 670. ↩︎
Raymond Klibansky, Erwin Panovsky und Fritz Saxl, Saturn und Melancholie. Frankfurt: Suhrkamp 1990, S. 220. ↩︎
Walter Benjamin, Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften. Bd. VI., Frankfurt: Suhrkamp, 1983, S. 137. ↩︎
Victor Hugo, a.a.O. S. 827. ↩︎
Victor Hugo, a.a.O. S. 828. ↩︎
Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke. Bd. 8. Berlin: Dietz, 1972. ↩︎
Victor Hugo, a.a.O. S. 829. ↩︎
Victor Hugo, a.a.O. S. 831. ↩︎
Victor Hugo, a.a.O. S. 1305. ↩︎
Eduard Kolloff, Paris. Reisehandbuch. Paris: 1849, S. 124; dazu auch: Walter Benjamin, a.a.O. S. 534. ↩︎
Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben. In: ders., Aufsätze und Abhandlungen. Gesamtausgabe. Bd. 7. Frankfurt: Suhrkamp, 1995. ↩︎
Eduard Kolloff, Schilderungen aus Paris. Bd. 1. Hamburg: 1839, S. 413. ↩︎
dazu: Die Werke von Paul Virilio, Der negative Horizont. München: Carl Hanser, 1989; ders., Fahren, Fahren, Fahren. Berlin: Merve, 1978. ↩︎
Manfred Russo ist Kultursoziologe und Stadtforscher in Wien.