» Texte / Plädoyer für einen neuen städtischen Raum

Vanessa Müller


Der Text zum Gemeinwesen in städtischen Räumen von Mathias Heyden, dem der Ausstellungstitel entlehnt ist, versteht sich als Plädoyer für einen neuen städtischen Raum: ein Raum, der konstant einladend und im Entstehen begriffen ist, der nicht nur geteilt wird, sondern das Teilen selbst mitbestimmt. Dem Mainstream partizipativer Prozesse stellt dieser Raum das Verlangen nach tatsächlicher Teilhabe entgegen. Dabei geht es um Ermächtigung, um Selbstverwaltung und darum, dass dem Mitbestimmen auch das Mitentscheiden folgen muss. Wie aber wird die Welt als geteilter Raum zu einem Ort für alle, die in ihm wirken?
        Die Schule des Wir, wie sie hier skizziert ist, braucht zunächst einmal eine gemeinsame Stimme, die das Ich in ein Wir verwandelt, und den Ort, von dem aus gedacht wird, pluralisiert. Diese Wir-Stimme bietet einen ersten Einstieg in eine relationale Grammatik – eine Art zu denken, die notwendigerweise in der Beziehung zu anderen begründet ist. Und genau das versucht das Ausstellungsprojekt bei in Graz, das Formen weitestgehend partizipativer Kunst im Ausstellungsraum neben künstlerisch gestaltete Plattformen im Stadtraum stellt. Als Besucher*in besetzt man zunächst die Position eines Außenstehenden, doch die Einladung zur Teilhabe ist emphatisch. Ein zentraler Begriff des Projektes, das im Rahmen des verlängerten Grazer Kulturjahres 2020 entstand und lange unter den Restriktionen der Pandemie leiden musste, ist nämlich die Konvivialität: eine Form des Zusammenseins, die auf Beziehungen und Kooperationen basiert und eine erweiterte Form unbedingter Gastfreundschaft darstellt.
        Auch wenn sie vielleicht gar nicht so sehr im Fokus der Besucher*innen stehen, sind die für das Grazer Annenviertel entstandenen fünf Inseln des Zusammenseins vermutlich das wichtigste Projekt im Sinne des Gefühls von Zugehörigkeit: temporäre Plateaus, die als Sitzgelegenheiten, Bühnen und Orte der Zusammenkunft genutzt werden können. Von verschiedenen Künstler*innen unter Mitwirkung zahlreicher Nachbar*innen und lokaler Initiativen entstanden, präsentieren sie sich als Alternativen zur Stadtmöblierung mit ihren impliziten Regulierungen und der um sich greifenden Verwandlung öffentlichen Raums in Konsumationszonen. Sie laden dazu ein, durch aktives Handeln in Besitz genommen zu werden, ohne dass es ein definiertes Format ihrer Verwendung gibt, präsentieren sich als Arbeitsarena, in der gelernt, diskutiert und darüber nachgedacht werden kann, was Arbeit eigentlich ist (gestaltet von der Belgrader Künstler*innengruppe minipogon) oder als Garten, der gemeinsam gepflegt werden will (Elina Otta, Garten der wachsenden Erkenntnis).
        Im selbst bietet sich ein Parcours durch unterschiedlich farbige Räume, die jeweils andere Sinne ansprechen wollen. Der Eingangsraum lädt zum Gestalten von Gefäßen aus Ton ein, während sich im grünen Raum eine von Nayarí Castillo initiierte Sammlung von Ritualen des Zusammenlebens findet, die aus Leihgaben von Nachbar*innen aus dem Viertel besteht und eine konvivialistische Praxis anregen soll. Das kann ein Fußball sein, eine Gießkanne oder ein großer Schöpflöffel. Weiters gibt es ein Studienkabinett, das Wissen über und die Wirkung von Heilkräften präsentiert, und eine Installation des italienischen Künstlerinnen-Duos Grossi Maglioni, die unter dem Titel Occupazioni: Die Blume, Mutterbiest, Das beobachtende Kind ein mythologisch anmutendes, von Kinderstimmen vorgetragenes Narrativ entfaltet. Ein kindliches Wesen und eine Furcht einflößende Mutterfigur loten Care-Beziehungen aus und das transformative Potenzial einer normalerweise symbiotisch gedachten Beziehung. Occupazioni verbindet einen postfeministischen mit einem anthropologischen Diskurs, weiß um Psychoanalyse und Science Fiction und schöpft aus verschiedenen Workshops mit Müttern und Kindern. Unter Zeltbahnen auf einem großen sternförmigen Kissen liegend, klingen die Stimmen und ihre irritierende Erzählung wie eine Vorahnung dessen, wie andere Arten des Seins, des Wissens und der Beziehungen tatsächlich einmal aussehen könnten.
        Eine wachsende Bibliothek als Teil der Ausstellung teilt dieses Interesse am Neuausloten menschlicher und nicht-menschlicher Beziehungen. Sie gibt einen Eindruck, was das theoretische Fundament oder vielleicht besser: das Inspirationsmaterial der Schule des Wir ist. Ein Katalog von Helio Oiticia liegt neben einer Ausgabe des Magazins South as a State of Mind, Zeichnungen von Quallen neben Büchern über Korallen. Donna Haraways Unruhig bleiben, Édouard Glissants Poetics of Relation und sein Traktat über die Welt bieten sich der Lektüre an, ebenso Silvia Federicis Die Welt wieder verzaubern zu Feminismus, Marxismus und den Commons. Man spürt die Begeisterung für diese Denker*innen, merkt spätestens an dieser Stelle aber auch, dass der Transfer von Theorie in Praxis kein einfacher ist. Das seit einiger Zeit kursierende Interesse an der Sozialität der Meerestiere, dem in Flora und Fauna inkorporierten Wissen und das oft zitierte Verlernen der logozentristischen Weltsicht produzieren spannende Werke, aber nicht automatisch inklusivere Formen künstlerischer Praxis. Die Potenziale kollektiver und solidarischer, selbstermächtigender, selbstorganisierter und selbstverwalteter Produktion – sie liegen wahrscheinlich tatsächlich vor allem in jenem Raum, der früher einmal der öffentliche hieß. Was nicht heißt, dass auch der institutionelle kein konvivialer werden kann. Es wird vermutlich nur noch eine Weile dauern.


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