Andre Krammer

Andre Krammer ist selbstständiger Architekt und Urbanist in Wien.


Die documenta 11 wurde als ehrgeizig und ambitioniertes Projekt angekündigt: man nahm sich nichts Geringeres vor, als die scheinbar bekannte Weltkarte der Kunstproduktion neu zu zeichnen. Ein Gedanke scheint der Konzeption vorausgegangen zu sein: Im hegemonialen Globalisierungsdiskurs entstehen Leerstellen und blinde Flecken. Die Disziplin der Kartographie ist keine neutrale Wissenschaft, sondern ein politisches Instrument, mit realem Einfluss auf spezifische Territorien: To be »on the map« wird zu einer Maxime, an die konkrete soziale, wirtschaftliche und kulturelle Möglichkeiten geknüpft sind. Insofern kann es auch keine »unpolitische« documenta geben. Die diesjährige Schau nahm diese Situation ernst und stellte bewusst eine eigene, kritische Weltkarte zusammen, in die auch Blickwinkel von marginalisierten Territorien aus eingeflossen sind. Das Team der documenta 11, bestehend aus dem künstlerischen Leiter Okwui Enwezor und sechs Ko-KuratorInnen hat versucht, durch eine neue Organisationsstruktur und eine Auswahl von KünstlerInnen, die sich nicht am Kunstmarkt, sondern an inhaltlichen Parametern orientierte, dem westlich geprägten Blick vergangener documentas einen neuen, global ausgewogeneren, gegenüber zu stellen.

Struktur

Eine wesentliche Neuerung lag in der Idee, die documenta in 5 Plattformen zu gliedern. Die ersten vier waren Diskussions- und Vortragsveranstaltungen: In Wien, Berlin, Neu Dehli, St.Lucia und Lagos diskutierte man Demokratie, Recht, hybride Identitäten und Urbanismus. Ziel der Plattformen war das Sichtbarmachen von Prozessen und Netzwerken gegenwärtiger Wissensproduktion, die den Hintergrund aktueller Kunstproduktion bilden. Gleichzeitig fällt ein wesentlicher Unterschied zu vergangenen documenta - Ausstellungen auf: Joseph Beuys beispielsweise setzte die Kunst unmittelbar in Beziehung zum offenen, »politischen« Raum der Stadt Kassel und deren BewohnerInnen (mit Aktionen im öffentlichen Raum), während dieses Jahr der unmittelbare, lokale Kontext in den Hintergrund gedrängt wurde. Eine Ausnahme bildete das Bataille-Projekt von Thomas Hirschhorn in der Friedrich-Wöhler-Siedlung in der Nordstadt.

Repräsentation

Die ausgestellten Arbeiten zeigten beinahe durchgängig einen Hang zu »dokumentarischen« Darstellungsformen: Photographie, Film und Video dominierten, Malerei oder Skulptur waren kaum vertreten. Die passive Haltung des Kunstflanierens wurde herausgefordert, von den RezipientInnen Arbeitsbereitschaft verlangt. Die Vielzahl an Filmen und Videos und deren Längen, die schnellen Konsum verweigerten, zwangen all jene, deren Zeit begrenzt war, zu einer fragmentierten Rezeption. Der Vorwurf mancher Kritik, die Schau sei »aseptisch« und »unsinnlich«, kann aber durch viele Arbeiten widerlegt werden. Ein Beispiel ist der Film »Western Deep« von Steve Mc Queen: 20 Minuten lang taucht die Kamera als Begleiterin von Arbeitern in die unterirdische Welt einer Goldmine in Südafrika ein. Die Phänomenologie und der soziale Inhalt des Films verschmelzen, die Distanz zwischen Diskurs und Sichtbarkeit löst sich auf.
Die Positionierung der Arbeiten schien selten aus einem bewussten Nebeneinanderstellen heraus entwickelt zu sein, als wollte man/frau einen allzu eindeutig didaktischen Beigeschmack vermeiden. Nur in Ausnahmefällen tauchten Querverweise auf: Im Kulturbahnhof fanden sich die Architekturvisionen von Constant A. Nieuwenhuys (die Architekturmodelle konnten wieder begeistern) im Raum über den Architekturphantasien Bodys Isek Kingelez. Die Stadtuto-pien Yona Friedmans wurden wiederum weit entfernt in der Binding Brauerei untergebracht und wirkten dort seltsam isoliert. Die Idee, ältere KünstlerInnen wieder einzubeziehen und die Auswahl auch »trans-generational« zu gestalten, erschien interessant, allerdings vermisste man/frau genauere Verweise zur Gegenwart.

»Patchwork«-Biographie und »transnationale« Ausstellung

Auffallend ist, dass sich das Konzept einer »transnationalen« Ausstellung auch in den Biographien vieler KünstlerInnen spiegelte: Geboren in Russland, Istanbul, Libanon oder Uganda – lebt und arbeitet in London, New York, Paris etc. Die Tatsache, dass eine große Zahl der gezeigten KünstlerInnen mit Herkunft aus Territorien, die von der Kunstwelt oft übersehen werden, heute im Westen lebt und arbeitet, führt zur Frage, ob sich der documenta-Blick diesmal wirklich gänzlich vom westlichen Background lösen konnte: Das »Andere« wird immer auch durch den Filter des Vertrauten betrachtet. Anderseits wurde konsequenterweise gerade die Infragestellung nationaler Grenzziehungen, klar definierter Identitäten und das Pendeln zwischen geographischen und mentalen Räumen auffällig zum gemeinsamen Nenner, der viele Arbeiten verband: Seltsame Rituale an der Grenze zwischen Pakistan und Indien tauchen auf (Amar Kanwar), Chantal Akermans Videoinstallation »From the other Side« zeigt das Grenzterritorium zwischen Mexiko und den USA und das Elend der mexikanischen ImmigrantInnen, die von der Grenzpolizei aufgegriffen werden. Issaac Julien zeigt in der Videoarbeit »Paradise/Omeros« eine Collage an kulturellen Codes und Sehnsüchten, die auf »den Westen« projiziert werden, sich überlagern und durchdringen.

Netzwerke

Die spannendsten Arbeiten stellen der Realität territorialer Grenzziehungen Netzwerke aus verborgenen Zusammenhängen gegenüber, deren Sichtbarmachen Formen des Widerstands suggeriert. Die Arbeit »From-To« des Künstlers Fareed Armaly (Armaly wurde in Amerika geboren und besitzt libanesisch-palästinensische Wurzeln) und des palästinensischen Filmemachers Rashid Masharawi kann dafür als pars pro toto dienen: Die Arbeit ist eine komplexe Installation, die die aktuelle politische Situation Palästinas thematisiert. Die Landkarte des Territoriums wird in den Ausstellungsraum projiziert (als Wegenetz) und durch eine Informationsstruktur aus Filmen, Soundarbeiten, Internet, Postkarten, Tondokumenten, Landkarten ergänzt. Ein Stein, ein »objet trouvé« aus einem Brachland in Palästina, fungiert als Ausgangspunkt: Er symbolisiert die potentielle Intifada (als Wurfgeschoß), die Vergrößerung seiner Struktur zeigt ein Netzwerk aus Linien, das wiederum auf palästinensische Trampelpfade und Routen verweist.
Im Hamburger Projekt »Park Fiction« geht es um Interventionen im realen Raum: Das kollektive Parkprojekt in Hamburgs St. Pauli Viertel stellt die Konventionen traditioneller Stadtplanung in Frage. Man/frau versucht, eine Freifläche vor der Bauspekulation zu retten und kreiert die Idee eines Parks, der aus gemeinschaftlicher »Wunschprojektion« (dessen Archiv zu sehen war) heraus entworfen wird. Kunst, Stadtplanung, Subkultur und Politik werden neu in Beziehung gesetzt. So werden Handlungen im »realpolitischen« Raum ins Zentrum des »entrückten« geschützten Raums der Kunst (und der Theorie) gestellt, der zum Refugium kritischer Praxis wird. Viele der gezeigten Arbeiten verweisen auf politische Vorgänge außerhalb des musealen Raums. Die Koordinaten dieser Diskurse und Praktiken werden vermittelt und der Rezipient wird aufgefordert, sich dieses Instrumentariums zu bedienen.


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