Silvester Kreil

Studierte an der Akademie der bildenden Künste Wien - Institut für Kunst und Architektur (MArch 2020). Er interessiert sich für die Parameter der räumlichen Verteilung, die verborgenen politischen und finanziellen Prozesse der Architekturproduktion und alternative Ansätze. Er arbeitet ua. in den Bereichen: Architekturtheorie, Architekturkonzeption, Dokumentation, raumgreifende Performances/Installationen und Stadtforschung.


Im Herbst 2020 ist das Buch Belgrads Radikale Ränder im Hamburger Adocs Verlag erschienen. Ein Titel, der eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den peripheren Gebieten der serbischen Hauptstadt vermuten lässt und sich doch auf etwas ganz anderes bezieht. Nämlich auf die Frage, wie Identitäten, Ein- und Ausschlüsse sowie eine ideologisch geprägte Geschichtsschreibung mittels Architektur und Stadtplanung geschaffen und ins Stadtbild eingeschrieben werden. Und welche Möglichkeiten es gibt, dieser, von den Regierenden angestrebten Hegemonie, eine demokratisch-plurale Identitäts- und Erinnerungskultur entgegenzusetzen.
        In Linda Lackners Erstlingswerk dient die turbulente Stadtentwicklungsgeschichte Belgrads und ein deshalb von vielen Überschreibungen und Überlagerungen geprägtes Stadtgefüge als Ausgangs­punkt für eine historische Betrachtung und kritische sowie gegenhegemoniale Stadtforschung. Die radikalen Ränder, die hier beleuchtet werden, beziehen sich auf die unsichtbaren und marginalisierten Randgruppen einer (Stadt-)Gesellschaft und ihre, zumindest aus geographischer Sicht, oft überraschend zentral gelegenen Identifikations- und Lebensräume. Die Autorin interessiert sich dabei besonders für Orte, »an denen die Risse zwischen den unterschiedlichen Ordnungen sicht­bar werden« und die dadurch auch als Anfang für eine radikaldemokratische Stadtpolitik dienen könn(t)en. Um ihre Untersuchungen greif- und lesbarer zu machen, beschränkt sie sich auf eine konkrete Auswahl und untersucht den Ort des ehemaligen Konzentrations- und Anhaltelagers Sajmište in Neu-Bel­grad; den Turm des früheren Hauptquartiers des Zentralkomitees des Bundes der Kommunisten Serbiens, ebenfalls in Neu-Belgrad gelegen; das einstmalige Verteidigungsministerium in Alt-Belgrad, das nach einem Bombentreffer im Jugoslawienkrieg (1999) heute als serbo-nationalistischer Gedenkort dient; sowie die ehemalige Roma-Siedlung Beograd Gazela und die im Zuge des höchst aktuellen Belgrade Waterfront Projekts zerstörten Bahnarbeiterbaracken am Save-Ufer.
        Die oftmals absichtlich übersehene Pluralität, die an diese Orte geknüpft war und ist — unterschiedliche Nutzer*innen­gruppen, Bedürfnisse und Schicksale —, wird von der Autorin genauso beleuchtet wie die Produktion von hegemonialen Geschichtserzählungen, welche von den serbischen Machthaber*innen der letzten hundert Jahre genutzt wurden, um die Deutungshoheit über den Stadtplanungs- und Erneuerungsprozess Belgrads zu erlangen. Alle Epochen — ob nun Monarchie, Tito-Kommunismus, der in der Milosˇevic-Ära angestoßene Turbokapitalismus oder die heutige nationalistisch-neoliberale Politik von Aleksandar Vucˇic und seiner SNS — haben gemein, dass sie versuch(t)en bestimmte Elemente der jeweils vorangegangenen Ordnung aus dem Stadtbild zu löschen oder durch Unkenntlichmachung in die neue Norm einzugliedern. Über­dimen­sionale Architektur- und Stadtplan­ungsprojekte waren und sind dabei nur allzu oft Erfüllungsgehilfen.
        Besonders das Megaprojekt Belgrade Waterfront dient als Paradebeispiel für den aktuell angewandten Modus Operandi in Belgrads Stadtentwicklung und darf als zentrale Case Study in diesem Buch nicht fehlen. Wenn Lackner darauf hinweist, dass die derzeitige Belgrader Stadt- wie auch serbische Nationalregierung bei der Entwicklung urbaner Räume primär hyper-rationale und nationalistische Ziele verfolgt, oder wie Lackner es auch ausdrückt, in Belgrad die »totale Ökonomisierung von Raum« beobachtbar ist, schwingt immer auch eine große Portion Neoliberalismuskritik mit. Projekte wie Belgrade Waterfront zeigen uns, dass dieser Investorenurbanismus und seine generischen und marktkonformen Architekturen nur ein Ziel haben: die Angleichung und Eingliederung von Erinnerungs- und Lebensorten in ein möglichst neutrales und verkaufbares Idealbild. Willkommen in der postpolitischen Stadt.
        Wie also auf die Mechanismen der postpolitischen Stadt reagieren? War der vordere Teil des Buches in erster Linie historischer Überblick, so werden im hinteren die bereits beschriebenen Orte erneut betrachtet und ihr subversives Potenzial mithilfe von Chantal Mouffes agonistischem Demokratiemodell und Jacques Rancières Begriff der Polizei — in den auch Stadtplanung als Instrument der Unterdrückung fällt — untersucht.
        Abschließend wird ein kurzer Ausblick darauf gewagt, wie »die Produktion von unterschiedlichen Vergangenheiten« zu einem »emanzipativen Projekt« werden kann und »bisher exkludierte, parallele und marginalisierte Erzählungen von Orten und Menschen« mehr Platz erhalten. Als Beispiel fungiert unter anderem die Initiative Ne da(vi)mo Beograd (Wir lassen Belgrad nicht untergehen), die durch eine groß angelegte und breite Kampagne das öffentliche Interesse der Bevölkerung an städtischer Teilhabe zu stärken versucht und so auch auf verdeckte stadtpolitische Vorgänge, Pläne und Risiken aufmerksam macht (siehe dazu dérive 59).
        Lackner verfolgt dasselbe Ziel, das auch die philosophischen Positionen von Mouffe und Rancière anstreben, das »Aufbrechen und Offenlegen« eines viel zu oft vorhandenen Verständnisses von Stadtdemokratie als rein konsensorientierte Hegemonie. Ihr Buch untersucht den Sachverhalt nüchtern und zeigt, dass der im Moment unumstößlich scheinende Status quo ganz schnell von einer neuen Geltungsepoche, einer neuen ideologisch-politischen Prägung überschrieben werden kann und es gerade deshalb so wichtig ist, eine plurale Teilhabemöglichkeit für alle Stadtbewohner*innen zu erstreiten.
        Dieses schön gestaltete und ausführlich recherchierte Buch zu lesen zahlt sich aus. Bleibt zu hoffen, dass Lackner das Thema auch weiterhin bearbeitet und besonders die konkreten Möglichkeiten einer radikaldemokratischen Stadtplanung in einem Folgewerk mehr Platz erhalten.


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