Thomas Northoff


Historische Beispiele

Die Geschichte der Graffiti als Ausdrucksform des Protests dürfte nicht wesentlich kürzer sein als jene der Schrift. Schon aus dem alten Pompeji haben tausende Graffiti »überlebt«. Ein Teil davon formulierte bereits Protest gegen politische, wirtschaftliche und soziale Zustände. In Rom, der Metropole des Imperiums, machte sich der in Graffiti gefasste antike Unmut gegen die Machthaber am häufigsten breit. Vor allem der dipinti genannten offiziellen Sprache an den Wänden, wie Wahlaufschriften, wurden Verhöhnungen, Alternativvorschläge oder Argumente zustimmender oder ablehnender Natur gegenübergestellt. Ein Vorgang, dessen heutige Entsprechung, in neuralgischen Zeiten wie Wahlkampfperioden, ihm sogar in der fehlerhaften Rechtschreibung gleicht. Der Unterschied besteht im »technischen« Fortschritt der Schreibwerkzeuge und der seinerzeit bildlosen Form der Werbung um Sympathie. Mussten in der Antike den offiziellen Wandinschriften von Protestierenden karikierende Gesichter des Werbenden beigefügt werden, so präsentieren sich auf heutigen Wahlplakaten viele Kandidaten mittels Foto ohnehin als Karikaturen ihrer selbst. Da ergibt es sich zwangsläufig, dass beispielsweise auf Plakaten des ehemaligen Bezirksvorstehers der Inneren Stadt (Wien) die Bemerkung »Mister Bean« erschien.
Aus der Kreuzzugs- und Pilgerepoche des Mittelalters kann man die inschriftlichen Spuren von den europäischen Ausgangspunkten bis nach Kleinasien und Ägypten verfolgen. Bekannt sind u.a. Graffiti der Landsknechte Karls. V., die im Jahre 1527 Rom verwüsteten und an den Wänden ihre Empörung gegenüber dem päpstlichen Rom als »Hure Babylons« anbrachten. Unter den historischen Beispielen seien auch die Graffiti im Inquisitionsgefängnis in Palermo und die Inschriften im Tower von London hervorgehoben, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen und größere historische Ereignisse widerspiegeln. Hier liest man Aussagen von Häftlingen, die sich in den Protokollen der Folterer und der Herrschaft nicht finden. »Ich habe immer geschwiegen«, als Widerstandsruf in die Wand geritzt, gemahnt heute an jene Graffiti, die in jüngerer Zeit an den teilweise museal erhaltenen Wänden der Gestapo-Gefängnisse auftauchten. Ein subtiles Zeichen des Protests für jene, denen keine Mitsprache zugestanden wurde, setzte im 18. Jahrhundert der Engländer V. Roberts. Mit der Intention einer Gegenüberstellung von inoffiziellen Äußerungen und »gelehrten Studien des höfischen Teils der Welt« sammelte er in Gasthäusern, Toiletten und an öffentlichen Plätzen die anonymen Botschaften an den Wänden. Dieses Anliegen griffen in der Folge zahlreiche Sammler auf. So existiert mit dem rund 23 000 Beispiele aus den letzten zwei Jahrzehnten fassenden »Österreichischen GraffitiArchiv für Literatur, Kunst und Forschung« die international größte Dia-Sammlung solcher Belege.

Politische Massenbewegungen

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war in mehreren Metropolen eine Phase reger Bautätigkeit und Zuwanderung hoffnungsloser und unzufriedener Menschen. Die vielen Bau-Planken, Reklameflächen etc. animierten zum Anbringen unerfragter Botschaften. Das geht auch aus einem Gesetzestext zu den im 19. Jahrhundert in vielen Städten aus dem Boden geschossenen Litfasssäulen, also »Anschlag«-Säulen, hervor, in dem Verfremder von Plakaten und offiziellen Anschlägen mit Strafe bedroht werden.
Durch die extreme Bevölkerungszunahme vor allem der Hauptstädte, durch das Auftreten politischer Massenbewegungen und den erhöhten Grad der Alphabetisierung – die in Wien von ca. 70% im Jahr 1880 auf ca. 90% bis zum Jahr 1920 wuchs – gewannen Graffiti an den Wänden und als Schriften auf Transparenten bei Demonstrationen zunehmende Bedeutung als Vermittlungsform von Protest.
Alte wie neue Untersuchungen über Graffiti bestätigen, dass es sich bei diesen unerfragten schriftlichen Darbringungen sehr oft um eine echte Kommunikationsform handelt, bei der im Schutz der Anonymität Botschaften zur Diskussion gestellt werden können, die man öffentlich nicht ohne Gewärtigung sozialer Repressionen kundtun darf.
Auch in den heutigen Städten lassen sich jene Botschaften gehäuft beobachten, in welchen vorgefasst und wenig spontan, oft sogar strategisch in Nachtaktionen, zu Problemen der Tagespolitik oder zu internationalen Problemen und Tendenzen vermittels Schrift-Graffiti Stellung genommen wird.

Gesellschaftliche Diskursbildung

Die Gruppe der GraffitistInnen ist jedoch keine homogene. Die an die Wände gebrachten Protestäußerungen sind einander inhaltlich oft diametral entgegengesetzt. Nichtsdestotrotz - oder gerade deshalb - begleiten viele Protest-Graffiti die gesellschaftliche Diskursbildung oder gehen ihr sogar insofern voraus, als sie in expressiver Kurzform Bilder an den Wänden entwerfen, die nach und nach von so vielen Menschen anerkannt werden können, dass sie schließlich zu allgemein verstandenen Symbolen werden. Aus der Popmusik übernommene Graffiti-Klassiker wie »Give Peace a Chance«, »Eat the Rich« oder »Keine Macht für Niemand« sind mittlerweile in Wort und Schrift auch von Gruppierungen gedrungen, deren VertreterInnen keineswegs als soziale Randfiguren angesehen werden können.
Protest-Graffiti können Indikatoren für zeit-, gruppen- und geschlechtsspezifische Befindlichkeiten und deren Wandel sein.
In ihrer Gesamtschau können sie den Zeitgeist ankündigen oder widerspiegeln.
In der Rückschau helfen sie, ansonsten öffentlich kaum bis nicht repräsentierte Diskurse zu rekonstruieren.
Zu den inhaltlich berühmtesten und bis heute immer wieder reproduzierten Wider­stands-Graffiti gehören Georg Büchners Kampfruf »Friede den Hütten, Kampf den Palästen« oder Michail Bakunins »Kein Gott - kein Staat - kein Sklave«, welches dieser 1853 in riesigen Lettern an die Zürcher Börse schrieb. Auch der Titel des 1848 im Umfeld der badischen Revolution in Deutschland verbreiteten Liedes »Die Gedanken sind frei« erlebte, vor allem in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, in Graffiti eine Renaissance.
Gehäuft wurde hierorts »Friede den Hütten, Kampf den Palästen« zuletzt während des Nato-Eingriffs in den Kosovo-Krieg von Serbien-SympathisantInnenen an Wiener Wände gebracht. Keinesfalls vergessen werden darf an dieser Stelle die Parole von 1789: »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!«, welche entweder als einzeln stehendes Graffito aufscheint oder, viel öfter noch, als unausgesprochene konsensuale Inschrift spezifischere Inhalte überlagert.
Jene rechtsgerichteten Botschaften, die sich leider seit Beginn der achtziger Jahre in Schrift und Zeichnung in allen westeuropäischen und nach 1990 sogar in den Hauptstädten des ehemaligen Ostblocks in den Vordergrund schoben, waren, wie sich mittlerweile deutlich herausgestellt hat, Vorboten von Kommendem und zwischenzeitlich Eingetroffenem.

»05«

Zur Frage, ob Graffiti in ihrer vielschichtigen Ganzheit als Indikatoren für das Klima eines Gesellschaftsgefüges gesehen werden können, sei stellvertretend für lange Ausführungen theoretischer Natur an eine tragische Epoche der Graffiti erinnert:
1936 schrieb in München ein Schriftsetzer auf eine Skulptur: »Hitler ist unser Unter­gang«. Zwei Jahre Haft und sieben Jahre KZ für ihn. Zur gleichen Zeit im Austrofaschismus: Naziparolen und Nazisymbole, Gegenparolen. Im selben Jahr erschien in Madrid »No Pasaran!« (= Sie kommen nicht durch!) massenhaft an den Wänden, nachdem der Franco-Aufstand in Marokko auf Spanien übergegriffen hatte.
1938 wurden jüdische BürgerInnen in Wien von den Nazis gezwungen, Parolen der Austrofaschisten mit Reißbürste und Aufreibfetzen wegzuwaschen. Dröhnende Dritte-Reich-Symbolik ist Allgegenwart. Alsbald Beschmierungen von Geschäften in jüdischem Besitz: »Bin in Dachau!« auf heruntergelassenen Rollbalken.
»05« (= Oesterreich), ab 1943 an Hausmauern und Kirchenwänden, bedeutete: Widerstand existiert. Daneben erste, teils handgeschriebene Streuzettel gegen das System.
Aus Berichten, von Fotos und aus LiteratInnen-Texten (z. B. in Andreas Okopenkos »Kindernazi«) ist bekannt, dass Bomben mit Schmähschriften auf die GegnerInnen beschrieben wurden - ein Brauch, welcher sich bis zum Jugoslawienkonflikt durch alle kriegerischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts erhielt.
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs ist auf offiziellen Plakaten an zerbombten Häusern zu lesen: »Wien wurde zum Verteidigungsbereich erklärt. Frauen und Kindern wird empfohlen, die Stadt zu verlassen!« Unter anderem darübergekritzelt: »Wohin? Frieden! Von der Barocke zur Baracke!«
Mit dem Auftragen des Zeichens »05« und anderen Aktionen setzte gegen Ende des Zweiten Weltkriegs eine hunderte Menschen umfassende Gruppe sichtbare Aktivitäten gegen das Nazi-Regime. Die heute noch lebenden Proponenten dieser Gruppe sind eher dem konservativen Lager zuzurechnen. In Anbetracht der Lebensgefahr, welcher sie sich unter Hitler ausgesetzt hatten, ist es verständlich, dass sie über den seit Antritt der schwarz-blauen Regierung massenhaften Gebrauch des O5-Symbols seitens der heutigen Widerstandsbewegung die Nase rümpfen. Doch argumentiert die »Zivilgesellschaft«, dass es unter den heutigen Verhältnissen darum geht, den Anfängen zu wehren. Daher sei die Verwendung dieses historisch bedeutenden Symbols durchaus angebracht. Das »05«-Zeichen ist am Portal des Stephansdoms zur Mahnung erhalten worden, jedoch so oft mit Hakenkreuzen und rechtsextremen Bemerkungen überschrieben und überritzt worden, dass es seit kurzem mit Plexiglas geschützt werden muss. Derzeit haben Scherzbolde »03« und »04« daneben gesetzt und mit Schmirgelpapier am Plexiglas gewerkt.
Die Autoren wollen wohl zeigen, dass mit ihnen jederzeit zu rechnen ist.

»ScHleimhautraub«

Jedoch rufen sowohl neurechte als auch altnazistische Auslassungen, die immerhin seit gut eineinhalb Jahrzehnten die Sprache der Unzufriedenheit an den Wänden prägten, insbesonders seit der politischen Wende im Lande selbst Widerstand hervor. Dieser reicht von Botschaften wie »Schlagt die Skinheads« bis zu komplexeren Dialogen, wenn z. B. das vornehmlich in der Universität zu entdeckende Anti­MigrantInnen-Graffito »Heimatraub« zu »ScHleimhautraub« oder »Heimaturlaub« oder auf Plakaten das Wort »Kinderscheck« zu »Kinderschreck« umfunktioniert wird. Humor erweist sich in friedlichen Handlungen seit jeher als die stärkere »Waffe«.
Auch die massenhaft den öffentlichen Raum bedeckenden vier C in den Winkeln eines Kreuzes, das Symbol, unter welchem sich die _etniks vereinen und das auffallend oft von Hakenkreuzen begleitet wird, werden von KroatInnen gern durch vor die C gesetzte W entstellt. Während Streichungen und verbalen Hinzufügungen immer wieder Gegenstreichungen und Hinzufügungen folgen, finden die Beleidigten gegen das »WC« um das Kreuz keine Antwort. Symbole sind für beide, SympathisantInnen und GegnerInnen, von starker emotionaler Bedeutung. Hiesige und zugewanderte Volksgruppen protestieren gegeneinander an den Wänden mittels Stellvertreterkriegen, was immerhin sinnvoller ist und deutlich macht, dass Protest über Graffiti bis zu einem gewissen Grad ein wichtiges Ventil bieten kann.
Die Vielschichtigkeit der Probleme, die sich auch anhand von Graffiti offenbart, fand ich jüngst wieder in folgendem Beispiel gespiegelt: »Wenn die Türken die Deutschen als Faschisten bezeichnen, dann fragt die Kurden, was sie von den Türken denken. Ein Kurde.«
Ob es sich beim ebenfalls kürzlich entdeckten Beispiel, in dem die Botschaft »Für den Sturz der Regierung« zu »Kür den Furz der Regierung« verfremdet wurde, um einen Protest eines Regierungsanhängers handelt, kann wohl zugunsten einer künstlerischen Intensivierung der Aussage bezweifelt werden. Bei all den primitiven Beweisen des Hasses auf Rechtsstaat und Demokratie, die uns der aktuelle Rassismus und Chauvinismus an Hauswänden und am Stadtmobiliar vermittelt, lassen uns schauenden Menschen Anbringungen wie die obengenannte jedenfalls wohltuend vergnügliche Irritationen auf unseren Alltagstrottwegen zukommen.
Protest-Graffiti jeglicher Gesinnung signalisieren etwas über unsere Wirklichkeit, was über das derzeit Sichtbare hinausgeht - als wären sie Vorausbelege. Sie sind Pforten in die Gedanken- und Gefühlswelt einzelner Menschen oder Gruppen, die auch für die Gesamtheit ihrer GesinnungsgenossInnen sprechen. Nicht selten manifestieren sie in ihrer Verbreitung den sozialen Raum dieser Gruppen. Als eigene Kommunikationsform bestehen sie auf der ganzen Welt als lebendigem Prozess.


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