Christa Kamleithner


Catherine Millet ist international agierende Kuratorin und Chefredakteurin der Pariser Kunstzeitschrift Art Press. Mit der Darstellung ihres unkonventionellen Sexuallebens, mit dem genauen Blick, mit dem sie ihren eigenen Körper und seine Begegnungen mit anderen Körpern analysiert und die Formen sexuellen Zusammentreffens offen legt, hat sie sich nun selbst zum (Kunst-)Objekt gemacht. Ihre sexuelle Biografie ist ungewöhnlich – vor allem darin, dass es eine Frau ist, die sie geschrieben hat. Ob es sich dabei um einen emanzipierten Befreiungsakt handelt, der erstmals ausspricht, was sonst im Verborgenen bleibt, oder um eine Perpetuierung männlicher Klischees – die Rolle, in der Millet sich beschreibt, ist zwar durchaus eine aktive, zugleich aber eine eindeutig dienende Rolle – muss sicher diskutiert werden, wird hier aber anderen überlassen. Wie auch die pornografische Welle, die derzeit von Paris ausgeht, genauer gesagt vom französischen Film, und die vor allem von Frauen getragen wird – Catherine Breillat: Romance, Virginie Despentes und Coralie Trinh Thi: Baise-Moi –, kontroversiell beurteilt wird, man sie aber auch in ihrer Ambivalenz stehen lassen kann. Zur – notwendigen – Pluralisierung des Frauenbildes eignet sie sich auf alle Fälle.
Auch wenn die wahrscheinlich adäquatere Zugangsweise zu diesem Buch über Themen wie Geschlechterrollen, Darstellung von Sexualität u. ä. verläuft, bietet sich noch ein anderer – allgemeinerer – Blickwinkel an. Denn der Blick von Catherine Millet ist ein geschulter, sie untersucht ihre sexuellen Begegnungen nach formalen, strukturellen Kriterien – auf ihre räumlichen Muster hin. Und dabei sowohl in welchem sichtbaren Kontext sie sich abspielen als auch welche imaginären Räume sie durch die Aktivität selbst entfalten und wie beide Dimensionen zusammenhängen. Das Buch ist in vier Kapitel geteilt; das erste ist etwas länger, es heißt »Die Zahl«, und es handelt sich um eine größere Zahl, denn Millet beschreibt in erster Linie Gruppensex-Erfahrungen, vor den Toren von Paris, im Bois de Boulogne, aber auch anderswo. Kapitel zwei und drei sind aber einschlägig überschrieben: »Der Raum« und »Der geschlossene Raum«, das letzte ist »Details« gewidmet. Am Beginn des zweiten beschreibt sie auch den Zusammenhang mit ihrer eigentlichen Profession: »Viele herausragende Kunsthistoriker schenkten im Lauf ihrer Tätigkeit der Architektur immer mehr Aufmerksamkeit [...] und machten sie zum Thema ihrer Studien. [...] Als Kunstkritikerin wäre ich vielleicht bereitwillig ihrem Beispiel gefolgt, hätte ich nicht in der modernen und zeitgenössischen Kunst Bildwerke entdeckt, die sozusagen an der Grenze des imaginären und des bewohnbaren Raums stehen [...]«, und hätte sich da nicht ein direkt der eigenen Lebenswelt entnommenes Analysefeld angeboten […]
Was Millet also auch beschreibt, ist, wie geografische/architektonische Räume in (Alltags-) Praktiken angeeignet werden und welche sozialen Dimensionen ihre Geometrien entfalten. Wie ist der Zusammenhang zwischen räumlichen Bestimmungen wie offen, geschlossen, voll, leer, überschaubar, verborgen, vertikal, horizontal, und sozialen Bestimmungen wie geregelt, ungeregelt, vertraut, fremd, intim, öffentlich usw.? Dass sich für die Behandlung solcher allgemeiner Fragen sexuelle Begegnungen in besonderem Maße eignen, liegt zum einen daran, dass hier die abstrakte Ebene des Gesellschaftlichen von vornherein auf die konkretere Ebene des Sozialen, d. h. der Begegnung zwischen einzelnen Menschen, gebracht wird, und zum anderen darin, dass die grundlegendsten räumlichen Bestimmungen ja durchaus geschlechtsspezifisch konnotiert sind – wie etwa Bourdieu in seinen Analysen der kabylischen Mythen, Riten und Häuser gezeigt hat: Die symbolisch durchdrungene Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern hängt dort noch eng an der räumlichen/sichtbaren geschlechtlichen Arbeitsteilung. Zur Bebilderung dieser allgemeinen Überlegungen nun einige Textausschnitte von Millet, die auch zeigen, dass es sich beim Zusammenhang zwischen sichtbarem und sozialem Raum nicht um einfache Parallelitäten handeln muss, sondern dass ihre Konvergenz auch in ihrer Komplementarität liegen kann:

Geschlossene Gruppe/offener Raum: »[...] bis hinein in die Intimität des Sexuallebens nehmen wir Gewohnheiten an, stellen Regeln auf, die einzig für zwei Menschen gelten und eine Art 'Paarkultur' bilden. Der Verkehr im Freien ist ein Teil von Jacques' und meiner 'Paarkultur'.« »[...] die Natur bedient nicht die gleichen Fantasien wie die Stadt. Letztere ist als sozialer Raum definiert, es ist der Raum, wo sich das Bedürfnis manifestiert, Regeln zu übertreten und seinen exhibitionistischen bzw. voyeuristischen Trieben nachzugeben. Er setzt die unerwartete Anwesenheit, die Blicke von Fremden voraus; sie können in die Intimsphäre eindringen, die einen teilweise entblößten Körper oder zwei vereinte Körper umgibt. Jene aber, die sich vor Gott als einzigem Zeugen entblößen, streben nach dem fast entgegengesetzten Gefühl, nicht, um die Welt in ihre Luftblase zu lassen, wo sich ihre schnellen Atemzüge vermischen, sondern um sich in ihrer paradiesischen Einsamkeit über die ganze sichtbare Fläche zu entfalten. Hier besteht die Illusion darin, dass ihre Lust im Verhältnis zu dieser Fläche steht, dass der Raum ihres Körpers sich ins Unendliche ausdehnt.« »Es gibt sicherlich eine innere Verbindung zwischen der Vorstellung, sich im Raum zu bewegen, zu reisen, und der Vorstellung zu vögeln [...] Hinzu kommt, dass Straßencafés, Straßenränder, das platte Land, Hallen, Parkplätze und alle Räume, die nur dazu gedacht sind, durchquert zu werden, Orte sind (Marc Augé nennt Letztere 'Nicht-Orte'), wo ich mich gerne öffne, und zwar weil sie sind, was sie sind: offen.«
Geschlossene Gruppe/öffentlicher Raum: »Tut man etwas Verbotenes an einem Ort, wo das Gesetz gilt, schlecht geschützt durch eine kleine oder durchlässige Sichtblende, durch Laub oder durch eine Hecke aus Komplizen, entspringt das zum Teil demselben Spieldrang; es ist ein elementarer Mechanismus der Transgression, der paradoxerweise weniger zur Extrovertiertheit als vielmehr zur Introvertiertheit gehört. Man stellt sich nicht zur Schau – man kapselt sich in seiner intimen Lust ab und tut so, als würde man nicht wissen, dass es Zuschauer schockieren könnte [...]«
Offene Gruppe/geschlossener Raum: »An die Ankunft auf dem kleinen Sportplatz von Vélizy-Villacoublay habe ich eine sehr lustige Erinnerung. Der Weg war weit, der Fahrer an der Spitze des Trupps hatte sich über das Ziel so in Geheimnisse gehüllt, dass wir lauthals auflachen mussten, als sich der Ort plötzlich vor uns auftat wie eine große Lichtung mitten im Wald [...] Wer hat noch nicht davon geträumt, mit den Beinen in der Luft die harmlosesten Orte zu besudeln, die er oft besucht? Die Gruppe flüchtete sich unter die Ränge, denn es scheint der menschlichen Natur zu widerstreben, mit Blick auf den Horizont oder eine sehr weite Landschaft zu vögeln. Im Grunde schützt man sich weniger vor Blicken, die die Lust noch mehr blockieren können als Körper. Wer im Sommer am Strand im Mondschein vögelt, stellt in Gedanken eine Intimität her und schottet sich von der ihn umgebenden Unendlichkeit ab. Unsere Gruppe war zu groß und zu weitläufig, um von selbst diese Intimität herzustellen.«
Mehrere Gruppen/Grenzüberschreitungen: »Der Austausch zwischen der Szene, die man sieht, und dem, was man tut, wenn man in einer Peepshow vögelt, vollzieht sich in der Fantasie nicht so fließend, wie wenn man ein Video oder einen Film im Fernsehen ansieht und sich von Zeit zu Zeit aus seiner eigenen Umarmung löst, die Handlung auf dem Bildschirm weiter verfolgt, dort den Vorwand für einen Stellungswechsel findet. Während das Flimmern der Pixelpunkte die Grenzen verschwimmen lässt, bis der dargestellte Raum fast eine Erweiterung des Raums ist, in dem man sich befindet, ist das Fensterchen der Peepshow eine Zäsur, die die Trennung zwischen zwei symmetrischen Situationen markiert, die man zwar durchbrechen kann, die aber spürbar bleibt. Zwei weitere Faktoren tragen zu diesem Eindruck bei: Der Pornofilm hat einen Handlungsstrang, er bindet die Aufmerksamkeit, auch wenn er sehr schematisch ist, die Handlung in einer Peepshow hingegen entwickelt sich wenig. Während man also den ganzen Film ablaufen lassen oder die Nacht vor dem Bildschirm verbringen kann, hat die schwarze Kabine eine Grenze, die Grenze der gemessenen Zeit, der Zeit, die zerhackt wird durch die Stopps des Zeitzählers.«
Sozialer als räumlicher Sinn: »Vielleicht gehört die Fähigkeit, in einer Gruppe von einem Mann zum anderen zu wechseln und zwischen mehreren Liebesbeziehungen zu manövrieren, [...] zur gleichen Gattung innerer Veranlagungen wie der Orientierungssinn.« [...] Wie auch die Unterscheidung und Vermittlung zwischen Personen – die Gegensätze des Ich, Du und Er – mit räumlichen Distinktionen und Orientierungen – den Gegensätzen des Hier, Da, und Dort – kongruent sind (nach Cassirer) und in der realen Begegnung von Menschen sozialer und geografischer Raum zusammentreffen. Soweit nur einige raumanalytische Aspekte, alles weitere in Eigenlektüre:

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Zitate: S. 115, 132, 142, 124, 161, 118f., 170f., 174f.

Cetherine Millet
Das sexuelle Leben der Catherine M.
München, 2001
Goldmann
272 Seiten.
ATS 307.-/ EUR 22,31


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