Christa Kamleithner


Regionalwissenschaft beschäftigt sich mit der räumlichen Verteilung wirtschaftlicher und sozialer Aktivitäten, und insofern sie hier Gesetzmäßigkeiten sucht, liefert sie nicht nur geografische Beschreibungen, sondern auch Ansatzpunkte für Raumplanung und Regionalpolitik. Hier zeigen sich deutliche Unterschiede, die mit verschiedenen politischen Standpunkten verbunden sind. Historisch versteht sich die in den 1950er-Jahren entstehende regional science in erster Linie als ökonomische Wissenschaft, die, insofern sie an die neoklassische, nach Naturgesetzen suchende Ökonomie anknüpft, einen stark naturalisierenden Charakter hat (Hans-Dieter von Frieling). Im Rückgriff auf Thünen und Christaller stellen diese älteren Theorien ökonomisch ideale Muster der Raumnutzung vor, in denen stabile Zentrum-Peripherie-Verteilungen und ein Netz aus Zentren und Achsen den Erdboden flächendeckend erschließen. Solche, empirisch nur bedingt auffindbaren, Muster waren für die Raumplanung insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland lange Zeit handlungsanleitend. Spätestens in den 1980er und 90er-Jahren, als eine wirtschaftlich sehr unterschiedliche Regionalentwicklung deutlich geworden ist, verändert sich auch die Theoriebildung. Im Gegensatz zu den älteren neoklassischen Strängen, an die sie anschließt, geht die new economic geography nun von Ungleichheiten in der räumlichen Entwicklung aus, die insbesondere durch Rückkoppelung entstehen und die sie als natürliche Effekte beschreibt.

Eine kritische Regionalwissenschaft richtet sich insbesondere gegen diese neoliberale, räumliche Unterschiede legitimierende Lesart, wie überhaupt gegen den Versuch, räumliche Entwicklung quasi naturwissenschaftlich zu beschreiben. Sie beinhaltet demgegenüber Theoriestränge, die die Herstellung von Raum als gesellschaftliche und historisch unterschiedliche Praxis begreifen. Zu diesen zählen sowohl die radical geography als auch Polarisations- und Regulationstheorien, denen der Band in erster Linie gewidmet ist. Die radical geography schließt an Marx an, der selbst allerdings keine explizite Raumtheorie ausgearbeitet, aber dazu wesentliche Aussagen getroffen hat (Wolfgang Krumbein): Das Kapital wird von Marx als globalisierende Kraft verstanden, die danach strebt, Schranken, etwa geografische, zu überwinden und sich auszubreiten. Dabei findet jedoch keine Homogenisierung statt, sondern der Raum wird arbeitsteilig aufgeteilt; Verkehrsnetze schaffen ungleiche Bedingungen, die den Regionen im Akkumulationsprozess unterschiedliche Rollen zuteilen. In diesem Prozess wird kein stabiles Gleichgewicht erreicht, wie die (neo-)klassische Ökonomie meint, im Gegenteil sind wiederkehrend­e Akkumulationskrisen vorprogrammiert, die auch die regionale Entwicklung betreffen. David Harvey, einer der zentralen Vertreter der radical geography, beschreibt den Akkumulationsprozess insofern als geprägt durch die Spannung zwischen Fixiertheit und Bewegung (Bernd Belina; Markus Wissen/Matthias Naumann): Das in Infrastrukturen und Immobilien investierte Kapital strebt nach Stabilität, die etwa durch Aufwertungsprozesse von Regionen hergestellt werden soll. Sinkende Profitraten führen zu geografischer Expansion und Restrukturierungen, was Harvey unter dem Begriff spatial fix fasst, der räumliche „Reparatur“ bezeichnet, und damit zu einer ungleichen räumlichen Entwicklung führt.

Die Polarisationstheorien, die verschiedene politische Bezugspunkte haben, gehen ebenso von einer ungleichen Regionalentwicklung aus. Diese wird über die Dominanz wirtschaftlicher Sektoren, über historische Entwicklungspfade und das Zusammenspiel ökonomischer Entwicklung mit staatlicher Planung und sozialer Regulation erklärt. Die Verflechtung ökonomischer, sozialer und politischer Prozesse wird insbesondere von der neomarxistischen Regulationstheorie betont (Christoph Scheuplein): Wesentlich ist hier die Unterscheidung zwischen fordistischem und postfordistischem Akkumulationsregime, die u. a. in der Rolle des Staates und folglich in der räumlichen Strukturierung differieren. Frühere Schriften der Regulationsschule befassten sich mit nationalstaatlichen Unterschieden der wirtschaftlichen Entwicklung, seit den 1980er-Jahren tritt die Beschäftigung mit globalen Verflechtungen und der Binnendifferenzierung nationaler Räume in den Vordergrund.

Die Rede von der Regionalisierung, die die Region als zentralen Träger wirtschaftlicher Entwicklung begreift, verläuft parallel zu einer neoliberalen Politik, die staatliche Intervention durch ökonomische und soziale Selbststeuerung ersetzen will. Die Theorien dieses new regionalism sehen in der Region die ideale räumliche Größe, die die Kommunikation zwischen den verschiedenen Wirtschaftsträgern erleichtert, lokales Wissen erzeugt und Innovation ermöglicht (Susanne Heeg). Dieser „Lernprozess“ wird jedoch wesentlich vom globalen Wettbewerb diktiert, der die Unterordnung der verschiedenen, in einer Region vorhandenen Interessen unter gemeinsame Marketingstrategien zu erzwingen scheint (Uwe Kröcher; siehe dazu seinen Beitrag in dérive 31.) Regionalwissenschaft und Raumplanung hängen, wenn auch nicht in einem einfachen Entsprechungsverhältnis, eng zusammen; die ökonomische und politische Entwicklung und die Veränderung der Raumtheorien verlaufen in einer auffälligen Kongruenz. Dies wirft die Frage nach der Mächtigkeit von Diskursen auf. Bernd Belina siedelt in seinem Beitrag Diskurse und insbesondere kulturwissenschaftliche Zugänge immer noch in der Welt der Ideen und Ideologien an und fordert eine materialistische Beschäftigung mit dem Raum. Eine solche scheint sich nach wie vor ausschließlich für den ökonomischen Unterbau zu interessieren – während die Kulturwissenschaft Diskurse längst in ihrer materialen und wirkungsmächtigen Praxis begreift. Aus dieser Sicht fällt dann auch auf, dass kulturwissenschaftlich geprägte Raumtheorien, wie etwa jener der ebenfalls der radical geography angehörenden Doreen Massey, fehlen. Die (politische) Ökonomie steht demnach im Zentrum der kritischen Regionalwissenschaft – insofern wäre es schön, wenn dies aus dem Untertitel, in den das Stichwort „Ökonomie“ eigentümlicherweise nicht aufgenommen wurde, hervorgehen würde.


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