Christian Peer

Christian Peer ist wissenschaftlicher Projektleiter an der TU Wien, Fakultät für Architektur und Raumplanung.


Belgrad zählt inkl. Vororten rund 1,7 Mio. EinwohnerInnen und liegt heute im Abseits, denn Länder wie Serbien befinden sich außerhalb des aufstrebenden supranationalen Spielfeldes Europa und geraten zusehends in Vergessenheit und Isolation. Der Weg vom Hauptbahnhof ins Zentrum der Stadt führt vorbei an riesigen zerbombten Gebäuden, in den Parkanlagen vor städtischen Sehenswürdigkeiten stellen Jugendliche im Spiel mit verblüffend echt aussehenden Schusswaffen Kriegsszenen nach. Ein Besuch der serbischen Hauptstadt erinnert schlagartig an die Kehrseite des europäischen Integrationsprozesses.

Beograd Gazela heißt die Publikation zum gleichnamigen Kunstprojekt von Eduard Freudmann, Can Gülcü und Lorenz Aggermann über eine Elendssiedlung im Herzen der serbischen Metropole Belgrad. Es ist die Auseinandersetzung mit einem überwiegend von Roma bewohnten Stadtgebiet, das abseits touristischer Pfade liegt und sich dennoch nur einen Steinwurf entfernt vom Stadtzentrum befindet – ein Abseits im Abseits. Die drei Autoren haben dafür einen außergewöhnlichen Ansatz gewählt: die Produktion eines „Reiseführers“ in eine Elendssiedlung. Auf der Reise nach Belgrad sind die Hütten und Baracken vom Zugfenster aus zu sehen. Hoch oben auf dem Bahndamm gleitet der Zug in unmittelbarer Nähe an ihnen vorbei, wie auch zehntausende Autos täglich über die Autobahnbrücke Most Gazela diesen Nicht-Ort passieren.

Karl-Markus Gauß stellte auf seiner Reise durch den Osten der Slowakei fest, dass das Wesentliche an einem Slum nicht die Armut, nicht die Gewalt, nicht die Arbeitslosigkeit, nicht der Verfall sei, sondern dessen Unsichtbarkeit. Wie über die ostslowakische Siedlung Lunik IX bei Košice ist Außenstehenden auch über Block 18A im Bezirk Novi Beograd wenig bekannt. Hier befindet sich die Elendssiedlung Gazela, die jede/-r nur vom Vorbeifahren kennt. Und obwohl europäische Wohlstandsländer durch Rückführung von abgewiesenen Migrantinnen und Migranten erheblich zu ihrem Entstehen und ihrem raschen Wachstum beitragen, ist sie im Ausland nahezu unbekannt. Dem fehlenden Wissen über diese zahlreichen Slums mit konkreten Daten und Belegen entgegen treten, das motivierte die westeuropäischen Künstler und Autoren zu ihrer Begehung der Siedlung Gazela, der Beschreibung des Alltags in der Siedlung und der Bestandsaufnahme der derzeitigen Lebenssituation von Roma in Belgrad.
Der kompakte „Reiseführer“ gibt in 18 Kapiteln auf 223 Seiten Auskunft über das Gebiet, die Entstehungsgeschichte und die Bevölkerung der Elendssiedlung. Die Repräsentation des Slums umfasst visuelle Stilmittel wie kartographische Abbildungen, Flugbildaufnahmen und Quartiersansichten in Form zahlreicher Fotografien. Die vorderen Kapitel widmen sich stärker den praktischen Aspekten und dem Alltag in Gazela: Die Siedlung, Wohnen, Bevölkerung, Gesundheit, Wirtschaft, Transport sind einige der Themen, die aufgegriffen werden. Gegen Ende befasst sich der „Reiseführer“ hauptsächlich mit den sozialen Problemen der Bewohnerinnen und Bewohner und ihrer Einbettung in die serbische Gesellschaft.

Beograd Gazela ist eine Aufzeichnung und Analyse vielschichtiger Mechanismen von Marginalisierung und Diskriminierung und könnte als ein kulturanthropologisch inspiriertes Kunstprojekt bezeichnet werden. Was nun in den Regalen von Buchhandlungen neben touristischen Reiseführern zu finden ist, wurde als von der Erste Bank Stiftung gefördertes Projekt Anfang 2007 im Rahmen der Performance The Good, The Bad and The Ugly – Ein näherer Blick auf und ein Leitfaden durch die Konstruktion des Ost-Europäismus präsentiert und in der Veranstaltung Politiken der Erziehung im neoliberalen globalen Kapitalismus / Meinungsverschiedenheiten über Wissen zur Diskussion gestellt. Dass ein solches Produkt ohne seine Produktionsbedingungen nur schwer verstanden werden kann, war den Autoren bewusst. Der „Reiseführer“ wurde mit einem Auszug dieser Diskussion versehen, welcher sich als Fußzeile durch die Dokumentation über die Elendssiedlung zieht und kritische Fragen zum Projekt aufwirft.

Das Autorenteam betritt mit dieser Stadtforschung einen mehrfach doppelten Boden und bewegt sich zwischen strikter Vermeidung von Sozialvoyeurismus und dennoch nicht unschuldiger Neugierde auf einem Terrain der Wissensproduktion, das ein besonders hohes Maß an Reflexion und Sensibilität erfordert. Wer braucht so einen „Reiseführer“? Eine naiv formulierte Frage, die den Kern der Kritik an diesem komplexen Unterfangen trifft. Die Autoren geraten mit ihrem Projekt latent an Widersprüchlichkeiten: Indem sie den Stadtteil metaphorisch als touristisches Ziel verorten, konterkarieren sie einerseits dessen Verdrängung im Belgrader Alltag, evozieren aber andererseits die Frage nach der städtischen Funktion, womit ein fataler Perspektivenwechsel vom Nutzen der Stadt für die Bevölkerung hin zu Fragen über den Nutzen der Bevölkerung für die Stadt einhergehen könnte. Sie machen einerseits ihren Anspruch an eine „notwendige“ Wissensproduktion geltend, vernachlässigen jedoch andererseits die Frage, welche Art von Wissen aus Sicht der Bevölkerung in der Siedlung zu produzieren sei. Sie fügen sich einerseits in westliche, marktwirtschaftliche Förderstrukturen und kritisieren andererseits aus dieser Position heraus Politiken dieser Wirtschafts- und Währungsunion. Die Paradoxien führen in Summe zu einer beunruhigenden Ambivalenz, die dieser „Reiseführer“ in sich trägt, indem er die Abseitsstellung eines Stadtteils hinterleuchtet, der damit nicht mehr unnahbar, sondern exotisch und geheimnisvoll anziehend wirkt.

In zahlreichen Diskussionsveranstaltungen wird das Projekt nun als eine Art kritische Prozessanalyse inszeniert, deren performativer Charakter möglicherweise einen Übergang von text- zu handlungsorientierter Betrachtung erzeugt und sich freilich dennoch nicht von der Last der autoritativen Repräsentativität befreien lässt. Eine solche Grundlagenarbeit über urbane Notstandsgebiete könnte in Richtung jener Lösungsansätze verweisen, die vorhandene Programme reparieren bzw. verbessern wollen. In Hinblick auf Strukturlogiken wie jene des makrogesellschaftlichen Trends zur sozialen Ungleichheit, des Abbaus sozialstaatlicher Leistungen und der räumlichen Konzentration und Stigmatisierung der Armut, greift dieser Ansatz als Antwort auf das neue Regime städtischer Marginalität aber zu kurz und läuft Gefahr, eine systemstabilisierende und damit kontraproduktive Wirkung zu entfalten.
Einen Überblick verschaffen sich Besucher und Besucherinnen der weißen Metropole am geschichtsträchtigen Festungshügel Kalemegdan. Wortreich berichten Reiseführer von den historischen Zusammenhängen, vom Orient, von Europa, vom Balkan, vom atemberaubenden Ausblick auf Save und Donau. „Hügel zum Nachdenken“ wird dieses Stadtfeld genannt. Beograd Gazela führt in ein weiteres Stadtfeld zum Nachdenken. Es ist ein Ort, dessen Geschichte subtil und eindringlich die Bedeutung von Gemeinschaft in Erinnerung ruft. Kommunal, südslawisch, europäisch sind Adjektive, die hier klein und unbedeutend werden, weil sie sich Orten wie diesen hartnäckig verweigern. Hier müssten umfassendere Ideen aufgegriffen werden. Langfristig gibt etwa Loïc Wacquant der Verankerung neuer sozialer Rechte die besten Chancen für die Bewältigung neuer Formen städtischer Marginalität und Unordnung. Dieser Lösungsansatz baut auf „ein Grundeinkommen, das Subsistenz und Leistung auf dem Arbeitsmarkt entkoppelt und eine neue Stufe in der epochalen Entwicklungsgeschichte der Staatsbürgerschaft einleiten würde“ (Wacquant 2006, S. 8).

Beograd Gazela ist eine Auseinandersetzung mit dem Anderen, mit einer unbestimmten Vielfalt. Es ist die Art und Weise des sich Näherns oder Distanzierens vom Fremden, die den eigenen Blick kennzeichnet. Das Eigene im Anderen erkennen, auch darin mag das leise Unbehagen herrühren, das der „Reiseführer“ vermittelt und damit vielleicht eine Erinnerung an etwas hervorruft, das schon längst als stumme Einbildung an den äußersten Rand der Wahrnehmungsgrenze verbannt worden ist.


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