» Texte / Seiltänze des Mittelstandes in der sich spaltenden Stadt Istanbul

Orhan Esen

Orhan Esen lebt als Stadtforscher und Autor in Istanbul. Studierte Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Istanbul.


Demonstrationen anlässlich der Präsidentenwahl am 14. April 2007, Foto:  Selahattin Sönmez
Demonstrationen anlässlich der Präsidentenwahl am 14. April 2007, Foto: Selahattin Sönmez

Jüngere Ereignisse im politisch-öffentlichen Leben der Türkei sind durch eine tiefe politische Spaltung zweier Mittelklassefraktionen dominiert. Diese Spaltung wurde zum ersten Mal international rezipiert, als massenhafte Kundgebungen im Frühjahr 2007 Hunderttausende »um ihre Lebensweise Besorgte«, sich selbst als ulusalcı (pro-nationalstaatlich gesinnte) bezeichnende im Selbstverständnis linke Republikaner auf die Straße trieben, die den öffentlichen Raum medienwirksam dominierten. Die »zivilgesellschaftlich« (mit und ohne Anführungszeichen) organisierten Großdemos wurden damals durch die Krise im April 2007 in Zusammenhang mit der parlamentarischen Wahl eines Präsidenten ausgelöst. Man wollte die Wahl eines Staatspräsidenten, dessen Frau ein Kopftuch trägt, mit allen Mitteln verhindern. Demos aber etwa auch ein Internetmemorandum des Armeegeneralstabs gehörten dazu. Heute, drei Jahre danach, ist es common knowledge, dass fehlgeschlagene Putschversuche ebenfalls dazugehörten. Bedenkt man, dass den Studentinnen in der Türkei das Kopftuchtragen heute immer noch verboten ist, wird die Härte der symbolischen Niederlage für den kemalistischen Status quo durch die erfolgreiche Wahl des Präsidenten Gül mit seiner kopftuchtragenden Frau deutlich. (In Wien hat sich z.B. eine Diasporagemeinde der Kopftuchstudentinnen entwickelt.)

Aktuell arbeitet dieselbe Fraktion an einer Kampagne gegen ein Gesetzespaket, das die Veränderung mehrerer Paragrafen der Verfassung enthält, über das am 12. September 2010 abgestimmt werden wird. Der Tag hat höchsten symbolischen Wert, weil die Verfassung, deren Änderung zur Abstimmung steht, ursprünglich von der durch einen Militärputsch am 12. September 1980 an die Macht gelangten Junta diktiert wurde. Die in diesem Artikel als »alte, untergehende Mittelklasse« bezeichnete soziale Schicht hat sich durch die polarisierende Politik der letzten Jahre, genaugenommen seit der offiziellen Bestätigung der EU-Beitrittskandidatur der Türkei, als unmittelbar politisches Subjekt entdeckt und sich öffentlich als republikanisches Nein-Lager inszeniert. Aktuell etabliert sie sich in der Kampagne Nein zur Verfassungsänderung, die bezeichnenderweise vom Gros der türkischen Linken getragen wird, die sich damit immer weiter davon entfernen, was der universale common sense als links bezeichnen würde. Der folgende Text wird keine historisch-politologische Abhandlung des aktuellen Phänomens Neo-Republikanismus oder Neo-Kemalismus werden. Es geht hier vielmehr um einen Versuch, die beiden politischen Positionen im Kontext historischer Stadtproduktion in Istanbul neu zu ergründen. Am Ende werden jedoch einige Züge der aktuell politischen Konsequenzen wieder aufgegriffen. Augenfällig dominieren die jeweiligen Ja- und Nein-Positionen in Stadtteilen mit unterschiedlicher Genese. Dieser Umstand legitimiert die Frage, ob nicht etwa die unterschiedliche historische Position diverser sozialer Gruppen in puncto Stadtproduktion auch mit ihren unterschiedlichen politischen Haltungen zu tun hat. In der Erstversion[1] dieses Textes ging es darum, historisch-institutionelle Hintergründe zeitgenössischer Kunst zu beleuchten. Die besagte Dichotomie hatte noch lange nicht die sichtbaren, krassen politischen Züge von heute angenommen. Die aktuelle Verfassungsabstimmung wurde nun Anlass für eine Überarbeitung des Textes im Sinne einer möglichen politischen Lesung der Phänomene im Bereich der Stadtproduktion. Von potenziellen platten Schlussfolgerungen und Reduktionen à la »Wer hier wohnt, ist republikanisch, und wer da wohnt, ist reformistisch« Distanz nehmend, dürfte eine Analyse auf Raumebene erkenntnisbringend sein.

a. Der aktuelle ideologische Zwiespalt und dessen Wurzeln in der osmanischen Moderne – »die simple Dualität« von damals

In Istanbul stehen sich zwei große Lager, unterscheidbar durch ihr Verhalten im öffentlichen Raum und eine – nicht zuletzt medial geführte und gesteuerte – ideologische Auseinandersetzung, gegenüber. Bei den Wahlen 2007 baute vor allem die Republikanische Volkspartei (CHP) ihre Wahlstrategie auf einer dichotomen Spaltung auf, war damit jedoch wenig erfolgreich. Die regierende post-islamistische, neoliberale AKP hingegen, sich der historisch produzierten Dichotomie voll bewusst, hat diese – wenn überhaupt – nur unterschwellig aufgegriffen und stattdessen mit ihrer Politik breite Schichten angesprochen. Durch zahlreiche Zwischentöne und Konsens vermittelnde Positionierungen wurde sie gerade für die Mittelklasse attraktiv, da diesem Wählerspektrum die klassische Mitte-Rechts-Position in der Parteienlandschaft fehlte. Deswegen ist Vorsicht angebracht, bevor die folgenden Ausführungen allzu schnell entweder 1:1 mit dem Lager der alten oder dem der neuen Mittelklasse der beiden Parteien CHP und AKP identifiziert werden. Die gegensätzlichen Haltungen zu Stadt und Politik entspringen jeweils historischen Zusammenhängen: zum einen dem der anatolischen Migrantenszene der letzten sechs Jahrzehnte entstammenden, um Erhalt errungener wirtschaftlicher Positionen bemühten Post-Gecekondu-Milieu. Es bezeichnet die neue Mittelklasse, die aktuell zu einem mit Neoliberalismus gepaarten Konservatismus scheinbar religiöser Prägung tendiert. Ihre Vorfahren hingen vor einer Generation noch dem Linkspopulismus eines Bülent Ecevit[2] an – gemeinsam mit den Vorgängern ihrer heutigen Kontrahenten. Zum anderem der alten Elite Istanbuls, einer Mittelschicht, seit den 1930ern in Auflösung begriffen, deren gesellschaftliche Attitüde ich als Nordistanbulertum bezeichnen würde. Diese ältere Mittelschicht hat ihre Wurzeln in der osmanischen Moderne, in der Verwestlichung des 19. Jahrhunderts und nimmt für sich das Monopol zivilisiert oder auch zeitgenössisch, fortschrittlich – im Gegensatz zu bäuerlich, mittelalterlich, rückständigs etc. – zu sein, in Anspruch. Diese Kreise mussten in den 1990ern beinahe tatenlos zusehen, wie sie ihre sicher gewähnten gesellschaftlich-ökonomischen Positionen an die agileren Neueinwanderer verloren. Die aufsteigende, neue Mittelklasse mit ländlichem Hintergrund nutzte die Möglichkeit zur Rendite-Schöpfung in der neuen urbanen Umgebung geschickt und trat im öffentlichen Raum zunehmend selbstbewusst auf – mit ihren Kopftüchern, den Grillpicknicks und öffentlich ausgetragenen Opferritualen im heiligen Bayram. Damit zog sie den Hass und die Verachtung des in Belangen offenkundiger Aneignung urbaner Ressourcen bei Weitem nicht so cleveren und agilen alten Bildungsbürgertums auf sich. Als Verliererkandidaten der 1990er und 2000er Jahre, abgetrennt von den dynamischen Marktentwicklungen einer boomenden Metropole, setzten sie die neuen Mittelschichten mit wilden, mafiösen Zuständen eines globalen Kapitalismus gleich. So versuchen die alten Mittelschichten mit ihrer elitären Nordistanbuler Betrachtungsweise das Post-Gecekondu-Milieu – trotz und vielleicht gerade wegen seines Erfolgs – mit einer medial gesteuerten, neuen Sprache seit den 1990er Jahren unter dem Sammelbegriff varoş als Sinnbild des Anderen zu stigmatisieren. »Das positiv-sozial besetzte Wort ›Gecekondu‹ wird aus dem Umlauf gezogen: In den 90er Jahren kreierten und verbreiteten die Medien den neuen Sammelbegriff ›varoş‹, er bezeichnet im Rahmen des Diskurses der ›verzerrten Urbanisierung‹ einen Unort oder ein ›Un-Istanbul‹, die Inkarnation der blockierten Urbanisierung. Mit seinem scheinbar undurchdringlichen Chaos ist der varoş eine gebrandmarkte No-go-Area. Varoş ist da, wo Civitas aufhört und unsere Sicherheit in Gefahr ist. Denn wer schon illegal baut, wird zu jedem weiteren subversiven Akt fähig sein.« (Esen 2005) Dieser Diskurs betont die Armut der verzerrt urbanisierten informellen Neustadt sowie das Bedürfnis, sich davon zu distanzieren. Wohl gerade diese Eigenschaft verhalf ihm zu großer Popularität bei der neoliberalen Boulevardpresse. Diese Konfusion wird offensichtlich dadurch ermöglicht, dass die urbane Geografie des Post-Gecekondu tatsächlich die Ambivalenz vom neuen Aufsteigertum sowie der Immer-noch-, und *Schon-wieder-*Armut zugleich vereint. Dem Nordistanbuler Betrachter fällt varoş durch seine vermeintliche noch-provinzielle Kultur und Lebensart unangenehm auf, die er als homogen und undurchdringlich empfindet. Dieser kulturalistische Blick von außen verkennt die tatsächliche sozioökonomische sowie politische Vielfalt mit beträchtlichen Dissonanzen innerhalb des Milieus. Genau jene Vielfalt, die die AKP erfolgreich in einen Wahlerfolg umzusetzen verstand, nicht zuletzt weil ihre Kader – im Gegensatz zu ihren bürgerlich-nationalen Kontrahenten – genau diesem Milieu entstammen und diese kollektive Geschichte Jahrzehnte lang lebten und prägten. Den geistigen Ursprung dieser Spaltung führe ich auf die Dichotomie der Lebensweisen in der osmanischen Moderne Istanbuls zurück. Die räumliche Segregation der Ober- und Unterschichten fand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts statt. Durch den Wegzug der Eliten in die Nordstadt jenseits des Goldenen Horns entstand eine Teilung der Stadt, die ihre ideologische Grundlage formte. Zu dem Zeitpunkt überlappten sich sowohl ideologische als auch materielle Teilung und erzeugten eine räumliche Dualität. Dieser Umstand ermöglichte eine relativ konfliktfreie Koexistenz beider gesellschaftlicher Parteien. Damals war das Wissen um die Andersartigkeit des jeweils anderen eine Selbstverständlichkeit für die Nord- sowie Südistanbuler (Bewohner der historischen Halbinsel sowie die der traditionelleren Ortschaften Istanbuls wie etwa Eyüp oder Üsküdar). Der Umgang mit dieser Tatsache war vielmehr galant und humorvoll. Die beiden Welten konnten sich relativ mühelos ausweichen, zumal auch eine physische Wassergrenze, das Goldene Horn, dazwischenlag.

b. Das urbane Interregnum 1950–1980 – Verzögerung einer modernen polarisierten Industriegesellschaft

Die Verlagerung der Hauptstadt nach Ankara (1920–1923) sowie die weltweite Rezession in den 1930ern ließen Istanbul gewaltig schrumpfen, altern und an Dynamik verlieren – weit bis über die Kriegsjahre hinaus: Von rund 1,5 Mio. Einwohnern Anfang der 1920er sollten 1945 gerade noch 700.000 übrig bleiben. Die Phase ab 1950 war von staatlichen und gesellschaftlichen Versuchen, die in dieser Periode entstehenden neuen Spaltungen zu verschleiern, geprägt: Das Gespenst des Industrieproletariats sollte bei gleichzeitig rigoroser Industrialisierung außen vor bleiben. Die in Zeiten massenhafter Einwanderung und Industrialisierung errichteten Gecekondusiedlungen verwirklichten auf informelle Art und Weise die Realität einer Gartenstadt. Diese Siedlungen wurden positiv angenommen, auch wenn sie rechtlich auf unsicherem Boden standen. Die republikanische Führung glaubte darin einen ideologischen Immunitätsfaktor gegen ihren größten Albtraum zu erkennen: eine nach dem Vorbild Europas in Klassenkampf versinkende Zwei-Klassen-Gesellschaft. Die sich am Übergang von Stadt zu Land ausbreitenden Gecekondus waren im Interesse des kemalistischen, politischen Ideals einer türkischen Nation, die sich offiziell als eine »klassen-, privilegienlose und kohärente Masse« definierte. Die Gruppe der Schon-Arbeiter-Noch-Bauern besaß in der Regel noch Land in der Heimat, auch wenn sie nicht mehr davon leben konnte und den Anbau zurückgebliebenen Geschwistern anvertrauen musste. Zugleich kontrollierte und bebaute sie Grundstücke an der städtischen Peripherie, die sie zunächst nicht besaß, aber schon bald übereignet bekommen sollte. Von Anfang an eigene Häuser mit Gärten zu bewohnen, statt Mietskasernen westlicher Art zu bevölkern, hatte das kollektive Bewusstsein und die politische Formation der Migrantengesellschaft sowie deren sozialen und wirtschaftlichen Integrationsprozess nachhaltig geprägt. So verhalf das Gecekondu, die Stadt-Land-Dichotomie im Zeitalter großer urbaner Umwälzungen aufzuheben und immanente Konflikte der modernen Industriegesellschaft verschwimmen zu lassen. Die immobilientechnische Realisierung eines immensen marktwirtschaftlichen Potenzials – von dieser Grenzgängerklasse kontrolliert – sowie die Umwandlung der Erstankömmlinge in Kleinunternehmer flexibler Ökonomien einer nach 1980/90 entindustrialisierten Stadt sollte ihren Lebensraum in die eingangs erwähnte und heute dominierende Post-Gecekondu-Umwelt transferieren, die medial als varoş stigmatisiert wird. Maßnahmen der offiziellen Stadtplanung zur Verhinderung einer polarisierten Industriestadt erfassten die historische Halbinsel im Süden sowie den bis dahin als Neustadt geltenden Norden. Das Leitmotiv dieser Bemühungen bildete zweifellos die Erschließung des zentralen Stadtraums durch großzügige Autoachsen, die das Gesicht der Stadt radikal verändert haben. Diese autogerechte Sanierung hat vor allem den Bereich der Wohnraumproduktion einer wieder wachsenden Metropole nachhaltig geprägt, zumal der urbane Maßstab dadurch im Zentrum geändert und Rahmenbedingungen einer bis dahin unbekannten Nachverdichtung durch Apartmenthäuser geschaffen wurden, von denen das Kleinkapital (Apartment-Milieu) stark profitiert hat. Das System »ohne Landkauf« sollte später als yap-sat[3] bezeichnet werden. Gleichzeitig landeten am Rande der Industriestandorte informelle Ursiedlungen – Gecekondus oder über Nacht Gelandete – die den neuen Migranten als Einstiegsschwelle in die urbane Welt dienen sollten. Die in dieser Epoche produzierte Stadt war – mit den einerseits stark nachverdichteten Quartiere der Altbürger und den andererseits horizontal ausgedehnten Gecekondu-Gartenstädten der Migranten in Selbstbauweise zumindest optisch sicherlich uneinheitlich. Diese organische Polarisierung infolge eines spontanen Urbanisierungsprozesses erwies sich jedoch als überraschend konfliktfrei. Solange das Wachstum anhielt und die Neuankömmlinge Probleme ihrer Urbanisierung durch kollektive Selbsthilfe, also ohne auf öffentliche Ressourcen außer Brachland zurückzugreifen, eigenständig zu lösen vermochten, wurden sie mit offenen Armen empfangen. Die alten urbanen Mittel- und Oberschichten sahen in den im urbanen Kräftespiel noch eher ungeübt wirkenden Neuankömmlingen keine Gefahr, sondern eher Verbündete für das Wachstum und – in einer urbanen linken Koalition in den späten 1970er Jahren – im Kampf gegen die rechtsextreme Bedrohung durch die Grauen Wölfe. Das Gecekonduvolk hatte nach all den verschlafenen Jahren der Rezession und Schrumpfung in der Zwischenkriegszeit Dynamik in ihre Welt gebracht. Die neoliberalen 1990er und 2000er Jahre, in denen die Nachkommen beider Gruppen sich als Rivalen im urbanen Raum wieder finden sollten, schienen noch Lichtjahre voneinander entfernt.

c. Die zwei Hauptstränge der aktuellen komplexen Dualität

Die aktuelle komplexe Situation sich überlagernder Dualitäten hat ihre Ursprünge in der enormen industriell-urbanen Vitalitätsentfaltung 1945/50, die ab 1980 (und somit dem Militärputsch) durch harte neoliberale Politik überformt und in neue Bahnen gelenkt wurde. In der jüngsten Vergangenheit haben sich Dualitäten auf zwei Ebenen entwickelt durch: (i) die subjektiv wahrgenommene Spaltung im urbanen Gefüge, wie sie eingangs geschildert wurde, und (ii) materielle Konflikte, die sich aus den Verhältnissen der Raumproduktion entwickeln. Das komplexe Zusammenspiel dieser Komponenten verleiht Istanbul seine aktuellen Spannungen, worauf nicht zuletzt die ungeheure Dynamik Istanbuls begründet ist. Deren stadträumliche Reflexionen entziehen sich allerdings einer einfachen Lesbarkeit, wie dies etwa die zweigeteilte Stadt in der Vergangenheit noch ermöglicht hatte. Die im ersten Abschnitt erwähnte Dichotomie im Bereiche der symbolischen Bewertung des öffentlichen Raumes (i) ist heutzutage Angelegenheit zweier rivalisierender Mittelklassefraktionen, die sich um die höhere Sichtbarkeit und Dominanz im öffentlichen Raum sowie um die Umwandlung dieses Raumes gemäß den Bedürfnissen und Präferenzen der eigenen Gruppe bemühen und sich dabei harte Auseinandersetzungen liefern. Das öffentliche Erscheinungsbild des Anderen, dessen Auftritt, Verhalten, Image, Sichtbarkeitsmodus, kulturelle und materielle Konsummuster etc., erscheinen aus der Sicht des jeweiligen sozio-ideologischen Kontrahenten nahezu unerträglich. Die optische Trennung der durch das Kleinkapital produzierten Stadtteile im alten etablierten Zentrum bzw. in den Gecekondugebieten der ersten Welle wurde in den 1990ern jedoch praktisch aufgehoben. Dafür stehen heute ideologische Differenzen auf der Tagesordnung, die als eine Debatte über die Lebensweise ausgetragen werden, was es früher in dieser Form nicht gab. Dennoch teilen sich beide sozialen Parteien – ob freiwillig oder erzwungen, gut oder schlecht – einen gemeinsamen begehbaren öffentlichen Raum. Ihre Alltagsmethoden im Bereich der materiellen Stadtproduktion ähneln sich zusehends. Gemeinsam bilden sie die überwältigende Mehrheit der urbanen Gesellschaft. Dieser öffentliche Raum ist im Vergleich zur Periode vor 1980 sowohl erweitert als auch differenzierter. Er räumt der Mobilität und Interaktion wesentlich reichhaltigere Möglichkeiten ein und fördert die Integration der städtischen Gesellschaft. Die im medialen Diskurs als intolerante Konfrontation reflektierte Dichotomie ist somit eher als Geburtsstätte einer neuen Mittelklasse-Konvention zu betrachten, die sich langsam abzuzeichnen beginnt.

d. Die fortschreitende materielle Spaltung von heute und deren Verbannung aus der kollektiven Wahrnehmung

Der zweite aktuelle Strang der Dualität (ii) entwächst der fortschreitenden Transformation der gebauten Umwelt Istanbuls, die seit Anfang 2000 im Entstehen und derzeit ein work in progress ist. Die Anfänge in den 1980er und 1990er Jahren können folgendermaßen charakterisiert werden: Auf die organisch gewachsene, hauptsächlich durch Kleinkapital erzeugte Stadt wird eine neue, mit Autobahnen vernetzte Metropole »draufgeklebt«, um mit Ihsan Bilgin zu sprechen (Bilgin 2005, S. 93–100). Die sogenannte urbane Transformation ab 2000 ist hauptsächlich eine geplante Generaloffensive, die sich vornimmt, die spontan entstandene Stadt der Nachkriegszeit, die Metropole der vielen kleinen Akteure, endgültig zu verdrängen, vielmehr zu ersetzen. Anfänglich handelte es sich um die Neuproduktion urbanen Raumes, der die New »Upper« Class von allen anderen räumlich abschottet. Das neue Autobahnnetz sowie die gated communities wurden in den 1990ern im Stadtbild zusehends sichtbar: Die Siedlungsmauern der gated communities, die Jeeps, unverzichtbare Mobilitätsmittel im urban jungle, machen die New »Upper« Class hyper-visible, erkenntlicher als jeden Geldadel je zuvor und separieren sie zugleich stärker vom Rest der Bevölkerung. Diese neue Trennung ist räumlich nicht mehr wie in der Vergangenheit in Form einer eindeutigen Doppelstadt festzulegen. Das durch die Autobahnen vernetzte neue Patchwork ist wesentlich komplizierter. Für die physische Abgrenzung seit den 1990ern nimmt das Vehikel Auto einen viel zentraleren Platz als je zuvor ein. Die neuen Wohn-, Arbeits-, Einkaufs- und Freizeitstätten entstehen durch eine Verdichtung von Kapitalinvestitionen in einem Maße, wie sie bis dahin für Istanbul unbekannt waren, und werden als Punkte einer neuen urbanen Geografie durch ein Raster von Stadtautobahnen vernetzt. Die Lebensweisen und -sphären der automobilisierten und der nicht-automobilisierten Schichten werden derzeit radikaler getrennt denn je zuvor. Das Eindringen der großen Bau-, Immobilien- und Investorengesellschaften in den Wohnbau für mittlere und untere Einkommensgruppen wurde hingegen erst mit Ende der Wirtschaftskrise 2001/02 aktuell: »Urbane Erneuerung«, »erdbebensichere Stadt«, »eine Stadt – wieder – mit architektonischer Identität«, »Museumsstadt«, »urbane Renaissance« und immer noch nicht voll erlangte Qualitäten einer autogerechten Stadt, etc. bilden die Hauptmotive dieser Offensive, die nachhaltig die soziale Konstellation in der Stadtproduktion verändern soll. Es geht dabei hauptsächlich um einen Ressourcentransfer von kleinen lokalen Akteuren zu den neuen Großen, die mittlerweile durch ihre Vernetzung zusehends als global players gelten. Der Prozess wird nicht dazu führen, dass das übliche Kleinkapital aus dem Bereich der Stadtproduktion restlos verschwindet, aber sicherlich zu seiner fortschreitenden Marginalisierung beitragen. Eine aktuelle Dauerkampagne versucht – seit der Überwindung der Krise 2001/02 – kleine Investoren davon zu überzeugen, dass die beste Anlage zurzeit mit neuen Immobilien gemacht werden könne, die durch eben jenes Kapital produziert und schrill vermarktet werden. Zumal der Markt in den 1990er Jahren mit gated communities für obere Einkommensgruppen fast gesättigt wurde, wird nunmehr hauptsächlich für die mittleren und unteren Einkommensgruppen gebaut. Dabei wird derselbe elitäre, von Elementen historischen Nordistanbulertums durchdrungene Werbestil jener first class residences weiterhin verwendet. Somit erhält die Investition in eine (neue) Immobilie den Stellenwert einer ideologischen Entscheidung: Man kann für die Zivilisation Partei ergreifen, in dem man in eine Wohnung investiert, die von den neuen großen Akteuren produziert wurde. Mitglieder der New Class verdankten ihre rasch erlangten Positionen den sogenannten neuen Ökonomien und den damit verbundenen Prozessen, wie den spekulativen, vor allem auch bodenspekulativen Sektoren, neuen flexiblen Arbeitsprozessen und ähnlichen globalen Entwicklungen. Nicht zuletzt das unter dem nationalen Sicherheitsregime der 90er Jahre stark reduzierte demokratische Kontrollvermögen der Öffentlichkeit führte zu Verquickungen zwischen mafiösem Kapital, Bürokratie, Politik und Justiz und war somit Ursache eines außergewöhnlich korrupten Jahrzehnts. Die ideologische Heterogenität ist zu einem Merkmal der neuen Aufsteiger geworden. Die alten westlich orientierten, republikanischen Eliten konnten ihre gesellschaftlich-ökonomischen Positionen nur behalten, indem sie sich an die Verhaltensmodi der skrupellosen 1990er Jahre anpassten. Auf politischer Ebene hatten die beiden klassischen Mitte-Rechts-Parteien (Demirels DYP und Özals ANAP) dieses Milieu von 1980 bis in die 1990er Jahre ausgebaut, vernetzt, verankert und zusammengehalten, bis sie dann aufgrund von Korruption 2002 vom Parlament Abschied nehmen mussten. Die AKP hat mit ihrer neoliberalen Wende 2007 bewiesen, dass sie ein nachhaltiger Platzhalter für diese Position geworden ist. Der New Upper Class steht die New Under Class, eine andere Gruppe von Verlierern, als krasser Gegensatz gegenüber: Sie stammt weder aus der Mittelklasse noch verfügt sie über Bildung. Im Zeitalter transglobaler Migrantenströme wanderten sie von überall, auch jenseits der Grenzen ein und bevölkerten vor allem die Armenhäuser im verslumten Zentrum der Stadt. Diese unqualifizierten Spätankömmlinge bekamen keine peripheren Grundstücke mehr übereignet: Sie konnten – falls etwas besser gestellt – als Mieter ins nachverdichtete Post-Gecekondu oder – weiter unten in der Hierarchie – in historische Bausubstanz mit Substandard ziehen. Mit ihrer Minderqualifizierung können sie sich bestenfalls unter prekären Konditionen in der ausgedehnten sweatshop economy der Megapolis über Wasser halten. Ihre Wohnsituation ist seit der Wahl der AKP fragiler denn je: Die durch wachsende Wählermehrheit wiederbestätigte AKP-Regierung hat letzte Skrupel abgelegt, ihre öffentliche Planung für eine forced gentrification des Zentrums mittels public-private partnership umzusetzen: Die Vertreibung in unwegsame Neubau-Ghettos oder gar in neue Slums an der Peripherie ist im Gange.

Suluklele vor ..., Foto: Tolga Islam
Suluklele vor ..., Foto: Tolga Islam

... und nach Abriss der Häuser und Vertreibung der Bewohner, Foto: Tolga Islam
... und nach Abriss der Häuser und Vertreibung der Bewohner, Foto: Tolga Islam

e. Die totale Paralyse an der Westflanke: Zum Verrat an der alten Mittelklasse und deren Reaktion

Die offene Rivalität zwischen der alten Nordistanbuler Mittelklasse und der neuen Mittelklasse mit Migrationshintergrund wurde weiter oben ausführlich ausgeführt. Die Beziehungen der alten Mittelklasse zu drei weiteren Gruppen wird noch ausgeführt, um das Bild aktueller sozio-politischer Konstellationen um das westlich-republikanische Lager zu vervollständigen und mit der neuen Oberschicht, den anatolischen Aufsteigern, den sogenannten anatolischen Tigern und nicht zuletzt den oben erwähnten neuen Verlierern zu ergänzen. Die alten westorientierten Mittel- und Oberschichten lebten seit ihrer Trennung von den traditionellen orientalischen Unterschichten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts glücklich in der neuen Nordstadt Istanbuls zusammen.
Die physische und materielle Trennung der ehemaligen Nordistanbuler Mittel- und Oberschichten wurde ab den 1980er Jahren vollzogen. Wer es durch Aneignung geeigneter Qualifikationen oder skrupelloses Verhalten nicht weitergebracht hatte, musste erleben, wie er plötzlich zurückblieb. Die neue Klasse marschierte einfach weiter, auch räumlich sichtbar, in die Peripherie, weiter nach Norden in den Wald, auf Höhen mit Blick auf das Wasser, oder dicht an die neuen business districts heran, stets strategisch günstig in der Nähe von Autobahnauffahrten. Die besser gestellten Nachbarn von gestern waren auf einmal unnahbar geworden. Stattdessen musste man das nunmehr um mehrere Post-Gecekondu-Reviere vergrößerte und zugleich in Anonymität versinkende neue Großzentrum innerhalb des Autobahnrings mit den als »grob«, »hastig«, »religiös«, »unkultiviert« und »aggressiv« empfundenen Einwanderermassen tagtäglich teilen. All dies wurde von den Hinterbliebenen als schmerzhafte, traumatische Demütigung erlebt. Die Subgruppe der anatolischen Tiger sind – seit den 1980ern im Aufstieg begriffen – Unternehmer aus Anatolien, Anhänger einer asketisch-akkumulationsbewussten Lebensweise. Als Vertreter eines protestantischen Islam sind sie Spätankömmlinge auf der Bühne des Großkapitals und stellen zweifellos eine ganz andere soziale Gruppe als ihre klassischen, verwestlichten Standesgenossen aus Istanbul und Izmir dar. AKPs historische Mission beinhaltet sicherlich das, was man als politische Raumbeschaffung für anatolische Tiger bezeichnen sollte. Sie sind in ihrem Selbstverständnis einfache, unverdorben-gerechte Anatolier – ohne Fehler – und zogen mit ihren Konzernniederlassungen, vielleicht auch persönlich, in die Bosporusmetropole um. Die Achtsamkeit vor den kosmopolitanen Tücken bleibt für sie oberstes Gebot. Falls sie dann auch tatsächlich nach Istanbul umziehen, sind Spuren einer Metropolenscheue manifest: Sie ziehen gated communities vor. Die alte Mittelklasse, die nicht genug Unternehmungslust oder -fähigkeit aufbringen konnte – wie es dem Zeitgeist entsprochen hätte –, verlor seit den 1980ern angesichts der gesamten gesellschaftlichen Urbanisierungsdynamik tatsächlich an Stellenwert. Sie sieht sich auf mehreren Fronten als Verlierer. Sie steht in Konkurrenz zu den Erfolgreichen aus dem eigenen Milieu, die sich in die neue Klasse einbrachten, sowie zum neuen Geldadel aus der Provinz – für sie unausstehlichen Toren – , insbesondere aber zu den zahlreichen Migranten, die sich binnen zwei Generationen als eine neue Mittelklasse zu etablieren vermochten. Durch ihre Omnipräsenz veränderten sie das gesamte Bild des öffentlichen Lebens. Der Hauptpfeiler ihres emotionalen Daseins ist eine alle andere ausschließende, exklusive Inanspruchnahme einer Opferrolle. Die anderen Verlierer in den Slums bieten sich nicht als Verbündete an: Sie würden sich nämlich, wenn sie es sich eines Tages leisten könnten, in der Sichtweise der alten Mittelklasse, genau dieselbe unzivilisierte, unzeitgemäße Lebensart aneignen wie die dominierende aktuelle Mehrheit. Sie werden folglich nicht als Verlierer, Opfer, Unterdrückte, Entrechtete, Ausgebeutete etc. gesehen, sondern als potenzielle Unterdrücker, vorausgesetzt sie schaffen den Aufstieg. Im informellen System ist die vertikale Mobilität bekanntlich hoch. Durch etwas Geschick und Aufmerksamkeit, aber vor allem Vernetzung, entsprechende Protektion, Risikofreude und Glück kann jeder heute-ganz-unten und morgen-weit-oben – sein. Was sich aber nicht ändern wird, ist die jeweilige Kultur und Lebensart. Nach der katastrophalen Wahlniederlage der CHP überboten sich die republikanischen Kolumnisten mit Nachrichten über für einen Sack Kohle oder Kartoffeln gekaufte Stimmen. Die bettelnde Masse und die korrupten Politiker verstehen sich gut im klientelistischen Regime und verhindern aus Sicht des Bildungsbürgertums gemeinsam den Einzug zeitgenössischer Verhältnisse. Die katastrophale Wahlschlappe wird als eine totale Niederlage westlicher, bürgerlicher Werte rezipiert und führt zu einer Endzeitstimmung: »Es ist nun aus mit diesem Land.« Die Tatsache, dass Leute existieren, die für einen Sack Mehl eventuell ihre Stimme zur Verfügung stellen, weist in erster Linie auf eine verfehlte linke Politik hin. Die selbsternannte nationale Linke ist unfähig, Hintergründe der neuen Armut zu verstehen und versäumt es, sich als Alternative für einen neuen umfassenden, allgemeinen Sozialstaat, ungeachtet aller kultureller Differenzen, anzubieten. Sie igelt sich in einer zynischen, nationalen Reaktion der alten Mittelklasse ein. Links-sei-Dank ist Armut in der Türkei heute nur noch Thema zivilgesellschaftlicher Philanthropie, aber nicht von politischen Diskursen.[4] Diese Kaste begreift sich in erster Linie als Globalisierungsopfer, was durch einen undifferenziert, allumfassend-statisch begriffenen Westen verursacht wird. Jede wirtschaftliche oder politische Handlung oder Geste des Westens weist nur selbsterklärend auf die globale anti-türkische Konspiration, die sich des Separatismus sowie des islamischen Fundamentalismus bedient. Die US-amerikanische Invasion im Irak und die schleichende EU-Invasion der Türkei wurden in einem Atemzug genannt. Die Konfusion der Bildungsbürger ist beachtlich: Es geht schließlich um den Westen, den sie sich historisch zum Vorbild genommen hatten. Folglich werden die Medien, das Internet und die politische Gerüchteküche ständig mit Meldungen gespeist, die vom »Verrat des Westens an seinen eigenen Werten« berichten. Der Vorwurf: Der Westen flirtet öffentlich mit der Rivalin. »Die hässliche Kakerlake«, ein in diesen Kreisen üblicher Vulgarismus für die verschleierte Frau – ihrerseits Platzhalterin für die sogenannte »fundamentalistische Bedrohung der Republik« – , ist in den Augen des Westens längst zu einer salonfähigen Prinzessin mutiert, einem sogenannten moderaten Islamismus des AKP. Folglich baut sich die nationale Linke ein Feindbild auf, das sich als ein Amalgam aus Islamismus und liberaler Globalisierungsfreundlichkeit offenbart und sich in der Parole »Türkei raus aus der Zwangsverlobung mit der EU« fokussiert. Die Angst vor dem islamischen Fundamentalismus wird in diesem Kontext – weltpolitisch einmalig – mit der Angst vor *global players *gleichgesetzt. Tatsache ist, dass die republikanische Eskalationspolitik bei der Mehrheit der Wähler, die sich als Mittelklasse versteht, nicht besonders ankam. Die gelassenere Weltsicht der anderen, rivalisierenden Mittelklasse siegte. Die neue Mittelklasse zeigte sich von einer drohenden Globalisierung oder einer EU-Invasion weder beeindruckt noch eingeschüchtert. Im Gegenteil: Trotz aller Fehler europäischer Politiker und der Hetze inländischer Nationalisten bleibt sie gelassen pro-europäisch. Globalisierung wird als ein Prozess verstanden, von dem die Türkei und sie selber (wirtschaftlich) profitieren würden. Die fehlende Alternative zum Neoliberalismus der AKP ist in Bezug auf die Urbanisierungspolitik z.B. durch die Anwendung des (unter aktiver Mitwirkung der CHP) erlassenen Gesetzes zur Erneuerung historischer Immobilien oder besser Denkmalschutz in den Slums offensichtlich. Die Umsetzung unter AKP-Bürgermeistern ist im globalen Vergleich wohl als sehr harte Gentrifizierung, sprich Vertreibung der Schwächeren, einzustufen. In Pilotprojekten wie Süleymaniye, Balat oder Tarlabaşı wird die Wiederherstellung historischer Stadtidentität bzw. die Erhaltung der Bausubstanz unter Denkmalschutz als Ziel vorgegeben. Die ursprünglich bürgerlichen Besitzer, meist keine Muslime, waren in den 1950er Jahren vertrieben worden.[5] Das massiv entwertete Eigentum war in die Hände anatolischer Migranten erster Generation gefallen. Diese sind dann oft in bessere Viertel weitergezogen, sofern sie sich in der neuen Mittelklasse etablieren konnten. Seit den 1980er Jahren verslumten diese innerstädtischen Gebiete und wurden Standorte für die allerärmsten Neuankömmlinge und all jene, die ganz abgestiegen sind. Durch die sehr zentrale Lage haben sie jedoch Zugang zu relevanten Arbeitsmärkten und können sich so über Wasser halten. Nicht selten sind die Eigentümer gänzlich abwesend und deren Immobilien besetzt. Das Gesetz erkennt lediglich Eigentümer als Rückkehrberechtigte an. Die Mieter und Besetzer sind es nicht und haben folglich zu verschwinden. Eigentümer müssen, falls sie nach dem Umbau so viel erhalten wollen, wie sie vorher hatten, beträchtliche Summen für die gesetzlich erzwungene Aufwertung zahlen oder sich mit etwa der Hälfte begnügen. Folglich werden viele aus dieser Gruppe, die sich die tatsächlich benötigte Fläche nicht leisten können, (aus-)verkaufen und weiterziehen. Der Denkmalschutz à la AKP sieht keinerlei soziale Auffang- und Puffermechanismen, wie beispielsweise soziale Mietwohnungen, vor. In den Städten regiert eine harte Marktrealität. Das kann sich die AKP locker leisten, solange sie keine Angst zu haben braucht, die vertriebenen Wähler an eine Linke zu verlieren. Diese ist an diesen Wählern offenbar nicht interessiert; wohl aber daran, dass deren Töchter keine Ausbildung bekommen, solange sie sich nicht bereit erklären, ihre Kopftücher abzulegen. Inzwischen plant die AKP noch härtere Maßnahmen auf breiterer Front: Mit der sicheren Verabschiedung eines neuen, allumfassenden Gesetzes zur urbanen Transformation wird die große Umwälzung auch Neubaugebiete, vor allem die nachverdichteten Post-Gecekondus erfassen und vor allem an vorteilhaften Standorten auflösen: Die Verminderung von Erdbebenrisiken wird als Alibi dazu gedient haben.

f. Die alte Mittelklasse als Lebensbaum: Perspektiven einer Regeneration diesseits und jenseits dichotomischer Positionen

Die neoliberalen Jahrzehnte lehrten die alten Mittelklassen schmerzhaft, dass sie in der Erwirtschaftung von Renditen, insbesondere von Bodenrenditen, nicht die Geschicktesten sind, und dass sie in Zukunft aus dem Bereich der materiellen, städtischen Produktion weitgehend ausgeschlossen bleiben werden. Dem kampferprobten Post-Gecekondu-Milieu und bürokratisch-politisch gut vernetzten Großkapital haben sie kaum Mittel entgegenzusetzen. Der Krieg um Bodenrendite wird in der zukünftigen Stadterneuerung zwischen diesen beiden Klassen ausgetragen werden. Will die alte Mittelklasse gesellschaftliche Positionen (er-)halten, bleibt ihr als einziger Ausweg, mit Bildung in das Humankapital der eigenen Kaste zu investieren. Die Strategie Aufstieg durch Bildung wird teilweise von der neuen Mittelklasse imitiert: Manche haben erkannt, dass die durch informelle (Stadt)produktion erlangten Positionen nicht ewig zu halten sein werden und die Welt sich ändert. Folglich wird eine Investition in den Bildungssektor für künftige Angehörige einer urbanen Dienstleistungsgesellschaft auch in Post-Gecekondu relevant. Auch hier verschwimmen bereits die Grenzen beider Mittelklassen. Weitere Elemente der neuen Mittelklasse-Konvention werden sichtbar. In der heranwachsenden Generation der alten Mittelklasse gibt es Anzeichen für einen erneuerten Umgang mit der Stadt und ihren Gruppierungen. Diese Generation wurde in das Post-Gecekondu Istanbul hineingeboren und mit der Stadt nach der Migration vertraut. Der Neoliberalismus samt Folgeerscheinungen gehört zu ihrem vertrauten harten Straßenleben. Girls mit Kopftuch sind nicht wie aliens in ihre Welt eingedrungen: Man wurde eher gemeinsam sozialisiert. All das hat die neue Generation als Norm miterlebt und sie ist im alltäglichen Umgang mit diesen Faktoren relativ unkompliziert. Sie ist zumindest nicht dauertraumatisiert wie ihre Eltern, auch wenn sie nicht immer mit ihnen einverstanden ist. Den traumatischen Positionsverlust ihrer Eltern hat sie nicht aktiv erlebt und ist dadurch relativ unbelastet. Im Selbstverständnis gehört sie einer globalen Bürgergemeinschaft an und vernetzt sich grenzüberschreitend in den Bereichen Handel und Tourismus, aber auch Medien, Bildung, Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Soziales und Kunst. Sie geht clever damit um, Istanbuler Zeitzeuge zu sein, von und aus der Entwicklung dieser Stadt gelernt zu haben, Erfahrungen aus erster Hand zu besitzen und darüber hinaus all dies in anderen Sprachen global kommunizieren zu können. Was den Eltern ablehnungs- und verwerfungswürdig schien, erlangt in ihrer Praxis Wiederverwertbarkeit. Aus den in Istanbul im globalen Vergleich der Metropolen so zahlreich und mannigfaltig vorhandenen bunt gemischten Existenzformen Kapital zu schlagen, gilt als opportun und wird in die Tat umgesetzt. Der Rückzug aus der Domäne materieller, städtischer Produktion wird durch Aktivitäten im Bereiche der virtuellen Produktion, der Vermarktung und des Branding der Stadt wettgemacht: Es ist ein Auftritt in einer neuen Arena, wo symbolische Repräsentanz relevant wird, wo das Jonglieren mit Ikonen die Umgangssprache formt. Ihr Verhalten in dieser Welt wird jedoch von einem naiven, in der Schule gelernten, nahezu unreflektierten nationalen Stolz gelenkt. Das Wissen über das globale Dorf wird eher chattend und surfend erlangt und nicht durch unmittelbare soziale Kontakte oder gar politische Interaktion angeeignet. Je unreflektierter jedoch der Umgang mit den Wahrheiten des offiziell-kemalistischen Bildungsweges ist, umso selbstverständlicher wird es, dass man sich auch als Angehöriger der jüngeren Generation im notorischen republikanischen Nein-Lager einfindet und wie etwa 2007 mit dem Pamphlet der Armeeführung gegen einen Kopftuchpräsidenten protestiert. Die Demo-Organisatoren im Hintergrund hatten damals darauf gezielt, dass Menschen als bedrohte Minderheit auf die Straße gehen und den Wunsch nach einer militärischen Intervention äußern würden. Die Demonstranten aber, hauptsächlich die jüngere Generation und weiblich, erkannten sich als stinknormale Mehrheit im öffentlichen Raum und nicht als bedrängte und verängstigte Opfer wieder, die zum Schutze ihrer bürgerlichen Freiheiten nach dem Militär ruft. So wurde Weder Moschee noch Kaserne! zur zunächst ungeplanten Hauptparole unter nationaler Flagge, und die jüngere Generation inszenierte sich als Zeichen ihrer somit erlangten demokratischen Mündigkeit. Trotz der Aversion gegen die neue Mittelklasse legitimierte sie einen Putsch gegen diese offensichtlich nicht und verunmöglichte ihn somit. Diese positiv-konstruktive Grundeinstellung der jüngeren Bewegung platziert sie dennoch, trotz aller oberflächlichen dichotomischen Rhetorik, just in die psychologische Nähe der neuen Mittelklasse. Jene sollte die AKP zwei Monate später im Sommer 2007 geräuschlos ins politische Zentrum katapultieren. Somit könnten die beiden Träger angeblich konträrer Dynamiken (die Straße im Frühjahr und die Urnen im Sommer 2007) heute mit zeitlicher Distanz als sich ergänzende Facetten politischer Geburtswehen einer modernen Mittelschicht und ihrer verspäteten bürgerlichen Revolution betrachtet werden. Die Nationwerdung der Türken geht in eine entscheidende Wende, entledigt sich historischer Gespenster und normalisiert sich. Die historische Wahlschlappe der CHP im Sommer 2007 sollte nicht zuletzt unter diesem Generationen-Gesichtspunkt interpretiert werden: Die gerontokratische Parteinomenklatura hatte sich dem Erneuerungswillen im eigenen Lager gegenüber lange verweigert. Sie versuchte das zynisch-xenophobisch-erbitterte Lebensgefühl einer absterbenden alten Mittelklasse eigenen Kindern aufzuoktroyieren und verfehlte somit die Dynamik der Straße. Eine verspätete Anerkennung der Straße, eine Erneuerung der alten Mittelschicht und die darauf zielende Erneuerung des Parteiimages kamen in letzter Minute an: Die schleierhaft-skandalöse[6] Liquidierung und Neubesetzung der Parteiführung erfolgte am Vorabend des Verfassungsreferendums. Die in sich höchst widersprüchliche Nein-zur-Verfassungsänderung-Kampagne soll mit der neuen CHP-Führung die republikanischen Reihen wieder schließen, und eine allzu beschämende Referendumsniederlage verhindern. Mit dem Journalisten Etyen Mahcupyan[7] kann nach einem Ja-Resultat eine neue Etappe der Entschärfung des politischen Konflikts sowie ein Fortschreiten des Normalisierungsprozesses erwartet werden. Die gesellschaftspolitische Verarbeitung des Themas Verfremdung bzw. seelisches/mentales Auseinanderdriften der beiden Mittelklassen bleibt sicherlich noch länger aktuell. Dieser reichhaltige Fundus wird noch Stoff für Jahre liefern. Mit der Normalisierung der Politik und dem fortschreitenden Reifeprozess der neuen Mittelklassekonvention aber ist zu erwarten, dass er immer weniger die Dominante der politischen Diskussion bildet und langsam, aber sicher in den Bereich der historischen Sozialforschung sowie der Literatur und der Künste abgleitet.

Gecekondu — Gulensu/Gulsuyu, Vorbereitung für den weiteren Ausbau , Foto: dysturb.net
Gecekondu — Gulensu/Gulsuyu, Vorbereitung für den weiteren Ausbau , Foto: dysturb.net

Gecekondu - Gulensu/Gulsuyu, Häuser der ersten Generation, Foto: dysturb.net
Gecekondu - Gulensu/Gulsuyu, Häuser der ersten Generation, Foto: dysturb.net

Bürohochhäuser, Foto: dysturb.net
Bürohochhäuser, Foto: dysturb.net

Wohnhochhäuser, Foto: dysturb.net
Wohnhochhäuser, Foto: dysturb.net

Fußnoten


  1. Die ursprüngliche Version diese Textes wurde Anfang 2005 für den Katalog zur Ausstellung Urbane Realitäten: Fokus Istanbul im Martin Gropius Bau-Berlin verfasst, jedoch zurückgezogen. Die Erstveröffentlichung des Textes erfolgte im Reader zur 9. Istanbul-Biennale: »The tightrope walk of the middle class in a fractured Istanbul« in: Art City and politics in an expanding World: Writings from the 9th international Istanbul Biennial. Istanbul 2005, S. 120—132. ↩︎

  2. Bülent Ecevit war insgesamt fünf Mal türkischer Ministerpräsident und Vorsitzender der Republikanischen Volkspartei (CHP). Er starb 2006. ↩︎

  3. Yap-sat-Prinzip (türk. yap: Bau; sat: Verkauf): Bauunternehmer schließen mit den Grundstückseigentümern ohne Baukapital einen Vertrag über den Neubau in der Regel mehrstöckiger Apartmenthäuser. Den Eigentümern werden dafür im Gegenzug einige der Wohnungen überlassen. Vielen ehemaligen Migranten ermöglichte dies den sozialen Aufstieg in den Mittelstand. Wohnungen werden auch gegen Baudienstleistungen vergeben, das ermöglicht auch Menschen ohne entsprechendes Kapital, Wohnraum zu erhalten. Das bürgerliche Istanbul wurde mit diesem System 1965—75 restlos abgerissen und anschließend wiederaufgebaut. ↩︎

  4. Nach der jüngst erfolgten Umbesetzung in der Chefetage scheint sich die CHP nunmehr der sozialen Frage anzunehmen. ↩︎

  5. In unmittelbarer Folge des in erster Linie antigriechischen Pogroms von Istanbul, das am 5. und 6. September 1955 stattfand, verließen fast alle Griechen, aber auch Armenier und Juden die Türkei (ca.100.000). ↩︎

  6. Der langjährige, eiserne, unangefochtene Parteiführer Deniz Baykal wurde im Frühjahr 2010, kurz nachdem die Entscheidung für ein Verfassungsreferendum für 12.09.2010 feststand, durch einen Skandal rund um ein Sexvideo binnen 96 Stunden abserviert und einstimmig ersetzt. Er wäre offensichtlich unfähig gewesen, eine verheerende Niederlage des republikanischen Flügels im Referendum zu verhindern; Anm. d. Red.: die mittlerweile trotzdem passiert ist: 58% Ja-Stimmen. ↩︎

  7. Kolumnen 05 — 08 2010 in der türkischen Tageszeitung Taraf. ↩︎


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Literaturliste

Esen, Orhan (2005): Learning from Istanbul. In: Esen, Orhan & Lanz, Stephan (Hg.): Self Service City, Istanbul, Berlin: b_books, metroZones 4.
Bilgin, Ihsan (2005): Die Doppelstruktur Istanbuls. In: Esen, Orhan & Lanz, Stephan (Hg.): Self Service City, Istanbul, Berlin: b_books, metroZones 4 , S. 93-100.