» Texte / Sowjetische Avantgarde: Konjunktur des Experiments

Antonia Herrscher


Utopie bedeutet das Experiment, worin die mögliche Veränderung eines Elements und die Wirkungen beobachtet werden, die sie in jener zusammengesetzten Erscheinung hervorrufen, die wir Leben nennen.
Robert Musil, 1931

Der sowjetische Architekt Nikolaj Ladovskij führte mit angehenden ArchitekturstudentInnen im Moskau der 1920er Jahre Experimente mit einem selbst konstruierten Gerät – dem „Prostrometer“ (Raummessgerät) – durch. Sein französischer Kollege Le Corbusier, der sich 1928 in Moskau aufhielt, war von Ladovskijs „Psychotechnischem Labor für Architektur“ so beeindruckt, dass er sich auch einem solchen Test unterzog. Dabei kam heraus, dass er nicht die Anforderungen erfüllte, die an der VChUTEMAS (Höhere Künstlerisch-Technische Hochschule) an BewerberInnen gestellt wurden: Er verfügte nicht über die Fähigkeit des räumlichen Sehens.

Nach der Oktoberrevolution in Russland 1917 „wurde das Leben zu einem Experiment“, schreibt die Autorin des Buches Avantgarde und Psychotechnik Margarete Vöhringer über die Entwicklungen in Wissenschaft, Kunst und Technik der Wahrnehmungsexperimente in der Sowjetunion.

Die russische Avantgarde verstand die neue kommunistische Gesellschaft als eine „quasi-künstlerische Versuchsanordnung, wenn sie nach formalistischem Ideal die ,Kunst als Verfahren‘ der Sichtbarmachung dazu einsetzte, die automatisierte Wahrnehmung des unterdrückten Arbeiters mittels künstlerischer Verfremdung zu befreien zugunsten eines ,aufgeklärten Proletariers‘“. Den Künsten kamen bei dieser „Experimentalisierung“ jene Lebenswissenschaften zugute, die im Laufe des 19. Jahrhunderts schnelle Verbreitung in Russland gefunden hatten: Psychologie, Psychophysik, Physiologie und ab den 1920er Jahren vor allem – die Psychotechnik. Der Begriff „Psychotechnik“ wurde dort zuerst 1903 von dem Psychologen William Stern für seine „angewandte Psychologie“ verwendet und später von dem deutsch-amerikanischen Psychologen und Philosophen Hugo Münsterberg aufgegriffen, wobei sein Konzept weit über das von Stern hinausging.

Für die Disziplinen, die der neuen Gesellschaft relevant erschienen, stellten die nach Schließung der alten Universitäten neugegründeten Kunstakademien mit ihren Laboratorien wahre think tanks dar. Dort waren die „progressivsten Künstler und Wissenschaftler der Zeit auf der Suche nach den Grundlagen der Massenkommunikation, nach den Gesetzen der Wahrnehmung und den Möglichkeiten, diese zu beeinflussen.“ Im Jahre 1921 trat in Moskau die „erste Allrussische Konferenz für Initiativen der Wissenschaftlichen Arbeitsorganisation und Betriebsführung“ zusammen, die sich neben wissenschaftlichen und technischen Fragen auch den sozialökonomischen und psycho-physiologischen Perspektiven der Arbeitsorganisation widmete. Die Begrüßungsrede hielt Aleksandr Bogdanov, Arzt, Bolschewik, Verfasser des utopischen Romans Roter Stern und einer allgemeinen Organisationslehre. Er war einer der Initiatoren der proletarischen Kulturbewegung Proletkult und fragte zuerst nach den kulturellen Bedingungen der angestrebten Arbeitssteigerung bei „größter Arbeitsfreude“. Der Gründer und Direktor des Psychoneurologischen Instituts in Leningrad, Vladimir Bechterev, stellte anschließend die Analogie von Mensch und Maschine in den Mittelpunkt der Diskussion, wobei er ebenfalls die Rolle der Kultur hervorhob, verbunden mit einem Appell an die Profession, die auf dem Kongress noch fehlte: die Künstler. Schon kurz darauf begannen künstlerische und wissenschaftliche Avantgarde zu kooperieren: „Zusammen mit den Künsten der Wissenschaft muss der Arbeiter-Künstler ein Psycho-Ingenieur, ein Psycho-Konstrukteur werden“. Das Ergebnis der Entwicklungen zeigte sich in der Verbreitung einer für Russland neuen Wissenschaft, der Psychotechnik, die bald auf alles Anwendung fand, was sich ihr öffnete – so eben auch auf die Avantgarde-Künste.

In den drei Kapiteln Rückkopplung, Vernetzung und Pfropfung beschreibt die Autorin an Beispielen die verschiedenen Weisen der Verbindung zwischen Psyche und Technik. Ein Architekt brachte Verfahren aus der Experimentalpsychologie an die Kunst-akademie, ein Filmemacher ging, um einen Film zu drehen, in das Labor eines Physiologen, aber auch ein Psychiater setzte seine Erfahrungen aus Kunst und Philosophie in der Klinik um. Dass keiner dieser Akteure für seine Nähe zur russischen Avantgarde bekannt geworden ist, führt Vöhringer darauf zurück, dass sich die Avantgarde-Geschichte bisher mit den berühmtesten Vertretern, wie etwa Malevitsch, Rodtschenko oder Eisenstein, begnügte.

In der Sowjetunion kam es in den 1920er Jahren zu einer regelrechten Konjunktur des „Experiments“. Die VcHUTEMAS bekam 1928 Besuch von einer Delegation von Architekten des Bauhaus Dessau. El Lissitzky hatte jahrelang zwischen den beiden Hochschulen vermittelt. Ab 1921 lehrte umgekehrt Wassily Kandinsky am Weimarer Bauhaus. Le Corbusier war nach seinem gescheiterten Test an Ladovskijs Wahrnehmungsapparat keinesfalls beleidigt. Nach seiner Rückkehr äußerte er sich begeistert über die unermüdliche Arbeit der Moskauer und deren Erfindung einer neuen Architektur „… searching for the most characteristic, … the most pure solutions …“ Ladovskij entwickelte seine experimentellen Anordnungen weiter. Die Geräte zur Messung räumlicher Wahrnehmung fanden Anwendung bei Eignungsprüfungen, zur Verbesserung und Übung von Wahrnehmungsfähigkeiten und schließlich „kamen sie im Gestaltungsprozess als Teil der Experimente zum Einsatz“. Mit Hilfe der Psychotechnik sollten die Künste objektivierbar gemacht und neue Praktiken entwickelt werden, um eine neue Gesellschaft zu erschaffen.

So blühte die Psychotechnik in zwei „gegensätzlichen Systemen“ auf und verschwand „überall und plötzlich nach dem Zweiten Weltkrieg. Zumindest als Bezeichnung für die Disziplin.“ Die Verfahren haben sich jedoch auf alle möglichen Bereiche ausgeweitet und weiterentwickelt. Man denke nur an Führerschein- und Sehtests, Managertraining, Bewerbungsverfahren oder die Entwicklung von Grafik- und Filmsoftware, die sich dieser Praktiken weiter bedienen. „Ihr Versprechen ist zum einen die Einschätzbarkeit und Anpassbarkeit von menschlichen Fähigkeiten und zum anderen die Entwicklung immer neuer Technologien für diese.“

Margarete Vöhringers Buch erscheint zu einem Zeitpunkt, in dem der Begriff Avantgarde wieder Konjunktur hat – gerne z. B. als Produkt- oder Unternehmensname in Grafik und Mode. Während gleichzeitig viele der Lehrmethoden und Formen der Kunstproduktion aus der VcHUTEMAS seit einigen Jahren im Zuge der „Hochschulreformen“ in der hiesigen Lehre wieder aus dem Repertoire verschwinden. Scheinbar.


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