Manfred Russo

Manfred Russo ist Kultursoziologe und Stadtforscher in Wien.


Eine frische Brise weht aus Berlin und erinnert in wohltuender Weise an die alte klassenkämpferische Tradition der Stadt. An Architektur ist eine Architekturzeitschrift, die von der Gruppe »Freies Fach« herausgegeben wird, einer Gruppe die sich bereits seit Mitte der 90er Jahre reflexiv und aktionistisch mit dem städtischen Raum und seinen politischen und ökonomischen Bedingungen beschäftigt. Dies impliziert nach eigener Programmatik die Fusion gesellschaftlicher Themen mit der Architektur, ihre Auswirkungen auf den Raum und die gebaute Umwelt. Schon die Titelwahl der Zeitschrift mit dem Wortspiel An Architektur macht klar, dass es sich hier nicht um eine Abteilung der Redaktion von »Schöner Wohnen« handelt. Eine Frage stellt sich dennoch: Meint man damit die Verknüpfung von Anarchie mit Architektur oder sind hier gar anspruchsvolle Philologen am Werk, die eine Verbindung des griechischen Umstandswortes an mit dem Begriff der Architektur versuchen, was dann etwa die Bedeutung eines Überschießens oder vielleicht auch eines Über-sich-hinaus-Gehens der Architektur erlangen würde? Bemerkenswert ist jedenfalls die Kombination von sachlich nüchternem ArchitektInnen-Stil mit Themen politischer Brisanz, anscheinend die Vereinigung von Sozialismus und Minimalismus. Liegt darin die Subversion der AnArchitektur? »Produktion und Gebrauch gebauter Umwelt« lautet der Subtitel und wird in den drei präsentierten Heften folgendermaßen umgesetzt: Heft 1 bringt die Reprints älterer Texte von und über Henri Lefèbvre, des großen französischen Urbanisten, der immer eine Ausgabe einer Architekturzeitschrift wert sein sollte. Freilich macht die Erinnerung an den vielleicht anspruchsvollsten Versuch der Entwicklung einer urbanistischen Theorie in seinem Werk »La production de l’espace« (das übrigens bedauerlicherweise nach wie vor nicht ins Deutsche übersetzt wurde) auch die Grenzen der Anwendung eines marxistischen ökonomischen Ansatzes, der, trotz des für damalige Verhältnisse linker Literatur enormen Einsatzes kulturellen Wissens, auf eine umfassende soziale Raumtheorie deutlich und verweist erneut auf die Notwendigkeit der Verfassung einer solchen.
Die beiden weiteren Hefte nehmen sich zweier Themen der Deterritorialisierung an. Heft 2 berichtet über die Firma Sitex, die mit zumeist braunen Stahlblechelementen, einer Form von Lochblech, Fenster und Türen in leerstehenden Gebäuden vor Einbruch und Vandalismus schützt. In Berlin zählen diese Elemente bereits zum Stadtbild (in Wien ist derlei noch eher unbekannt) und sie wurden, gar nicht beabsichtigt, zum Symbol des spekulativen Häuserleerstandes in den frühen 90er Jahren. Mittlerweile signalisieren sie hauptsächlich die Leere vernachlässigter Wohnsiedlungen. Heft 3 recherchiert in vorzüglicher Weise die räumliche Situation von Sangatte, eines vom Roten Kreuz geführten Flüchtlingslagers bei Calais, dessen BewohnerInnen von dort aus den illegalen Übertritt nach England versuchen. Eine Reihe von Karten und Planzeichnungen dokumentiert die Routen der alltäglichen Migration innerhalb einer städtisch- dörflich gemischten Landschaft und die Fluchtsituation vor dem Eurotunnelgelände, die für einige Migranten bereits tödlich endete. Dennoch versöhnlich die Gesamtbilanz: von den 50.000 InsassInnen der vergangenen drei Jahre gelangten 85% nach England.


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