Elke Rauth

Elke Rauth ist Obfrau von dérive - Verein für Stadtforschung und Leiterin von urbanize! Int. Festival für urbane Erkundungen.


»Was erlebt man, wenn man der Grenzlinie folgt, die eine Stadt geographisch und rechtlich definiert?« fragten sich die Künstler:innen und Stadtforscher:innen Adina Camhy, Robin Klengel, Coline Robin und Markus Waitschlager, als sie im Sommer 2020 zu ihrer siebentägigen Umrundung von Graz aufbrachen. Mit Open Street Map als Navigationshilfe, Rucksack, Zelt und allerlei Dokumentations-Werkzeugen startete die Forschungsreise entlang der 1938 unter dem NS-Regime festgelegten und bis heute weitgehend gültigen Grazer Stadtgrenze. Das Gehen als Methode lieferte die Geschwindigkeit für die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Begegnungen, die Grenzlinie diente der Forschungsgruppe als »roter Faden, der unterschiedliche Perspektiven greifbar werden ließ«. Der Forschungszugang der »Serendipity, das Prinzip etwas zu finden ohne explizit danach zu suchen« verlangte eine »lauernde Aufmerksamkeit und Offenheit«, die Tagesetappen, Abweichungen von der Route und Ausmaß des Erkenntnisgewinns pro Tag bestimmte. Denn schnell war klar: Auch – und gerade – am Rand ist die Stadt für das Auto konzipiert, sind »ganze Landstriche« durch »große Einfahrtsstraßen, Autobahnknoten und Parkplätze« definiert. Das Gehen schafft körperliches Bewusstsein für die autogerechte Planung, »etwa wenn uns Fahrbahnen ohne Gehsteige in den Straßengraben drängen oder ein Autobahnkreuz große Umwege nötig macht«.
        Mit großer Akribie wurden Wahrnehmungs-Statistiken erstellt, und im liebevoll von Robin Klengel gezeichneten und extra beigelegten »Grazrand Statistik Sonderheft« mit recherchiertem Datenmaterial »nach bestem Wissen und Gewissen« vereint. Diese »Angaben ohne Gewähr« in schönster Alltagsforschungs-Manier erzählen ebenso vielstimmig Geschichten von der Peripherie wie von der Stadtrand-Expedition selbst, etwa wenn mit einer guten Portion Humor neben 10 Pferden, 7 Rehen, 30 Kühen, 2 Bussarden, 2,5 Mio. Ameisen und zahlreichen weiteren Tieren auch »zu viele« Gelsen, »viel zu viele« Spinnen oder »49 Zecken, 15 davon im Intimbereich« statistisch erfasst werden. Nachdenklich stimmt das beigelegte Poster mit zeichnerisch erfassten »informellen Architekturen«, gelingt dem Betrachter doch nur schwer eine Zuordnung zwischen Baumhaus zum Spielen und notdürftigem Unterschlupf für Menschen am Rand – der Stadt und der Gesellschaft.
        Die unterschiedlichen Kapitel der Publikation dokumentieren die vielfältigen Blickwinkel der Forschenden auf den Grazer Rand: »Etappen« erfasst als tagebuchartiger Reisebericht, illustriert von Coline Robin, die Ereignisse und Beobachtungen entlang der sieben Teilstrecken. Fett gedruckte Verweise führen zum Kapitel »Orte«, das ausgesuchte Punkte am Weg hervorhebt, die mit Erlebnissen, historischem Hintergrundwissen und urbanistischen Einordnungen beschrieben und von Robin Klengel illustrativ festgehalten werden. »Gstettn« und »Bachbett«, »Gärtnerei« und »Golfplatz«, »Atriumhäuser« und »Farina Mühle«, »Kreisverkehr« und »Riesstraße« ergeben mit vielen mehr ein Bild der unterschiedlichen räumlichen und sozialen Situationen entlang der Strecke. »Fundstücke« versucht eine Annäherung an das Leben am Stadtrand durch Sammlung von Objekten entlang des Weges, die in forensischer Weise beschrieben und als Tages-Collagen von Markus Waitschacher fotografisch von Lena Prehal erfasst werden. Von Zivilisationsmüll bis Rehkiefer hinterlassen die durchwanderten Landschaften Spuren ihrer Nutzer:innen. Zwei weitere Fotostrecken erfassen Grenzsteine und Zäune entlang des Weges.
        Das Kapitel »Begegnungen« dokumentiert Zaungespräche und flüchtige Zusammentreffen, Gastfreundschaft und die Verteidigung von Eigentum, wenn etwa der Grenzverlauf über einen privaten Hof führt, deren Besitzerin nur nach langer Diskussion dazu überredet werden kann, die Gruppe – einmalig – passieren zu lassen, oder im östlichen Hügelland »alle Wiesen mit ›Betreten Verboten‹-Schildern versehen« sind und die Gruppe umgehend vertrieben wird, als sie sich zum Frühstück unter einem Baum am Rande eines Ackers niederlässt. Die dokumentierten Gespräche und Erlebnisse verweisen immer auch auf strukturelle Zustände, sie erzählen von schwindenden Ackerflächen und der Unmöglichkeit einer kleinbäuerlichen Existenz, von der Enge der Vorstadt und der Macht des Eigentums, von Ausbeutung, dem Versagen der Verkehrspolitik und dem Aussterben des Gemeinschaftslebens in den Siedlungen.
        Drei Beiträge aus unterschiedlichen Disziplinen bieten Kontextualisierungen der GrazRand-Expedition: Kulturwissenschaftlerin Johanna Rolshoven nimmt in ihrem Beitrag Die ausgefranste Stadt einen Perspektivenwechsel auf den Rand als »Ort des Neuen« vor. Der Historiker Matthias Holzer sucht in Die verschwundene Grenze, mittels Karten und Geodaten Spuren jenes Verlaufs, der vor der Eingemeindung durch die Nationalsozialisten den Grazer Stadtrand bildete. Eine naturkundliche Perspektive auf die Stadtgrenze wirft der Biologe Werner E. Holzinger, wenn er in seinem Beitrag Grünes Band eine Runde um die Stadt dreht und dabei naturräumliche ebenso wie biologisch-ökologische Grenzen festmacht.
        Die liebevoll gestaltete Publikation macht Lust auf urbane Forschungsreisen und dokumentiert auf ebenso ernsthafte wie leichtfüßig-humorvolle Weise die Entwicklungen an den Rändern, denen es – nicht nur in Graz – sowohl an stadtplanerischer Aufmerksamkeit wie architektonischer Fürsorge fehlt. Dabei, so die Forschungsgruppe, sind es gerade die Stadtränder, an denen entscheidende Weichenstellungen passieren: »Am Rand von heute entstehen die Zentren von morgen. Die Frage, welche Interessen sich am Stadtrand durch­setzen, ist entscheidend für das zukünftige Zusammenleben – nicht nur für Menschen, sondern für alle Lebewesen. Die Zukunft wird am Stadtrand entschieden.«


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