Stefan Dullinger

Thomas Dirnböck

Thomas Dirnböck arbeitet am Institut für Ökologie und Landschaftsökologie der Uni Wien.


»Die Gesamtwassermenge der Erde in flüssiger, gasförmiger oder fester Form beträgt 1384120000 km3.« Heinrich Walter & Siegmar Breckle, Ökologie der Erde

»Die Gewässer sind entweder öffentliche oder private; jene bilden einen Teil des öffentlichen Gutes.«
§1 Wasserrechtsgesetz, §287 ABGB

»Du beugst dich über das Wasser und wunderst dich, dass du fließt.«
Edmond Jabes, Das Buch der Fragen

gestern

Etwa 420.000 m³ Wasser fließen täglich durch etwa 3.200 km Leitungsrohre in die Kaffeemaschinen, Kochtöpfe, Klomuscheln und Badewannen der WienerInnen. Nicht irgendein Wasser. Bezogen auf die Qualität seines Trinkwassers gehört Wien zu den führenden Großstädten der Welt. Dem war nicht immer so. Seuchen und Versorgungsengpässe waren ein chronisches Problem bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Genutzt wurden damals, neben einigen Wienerwaldquellen, die Grundwässer in den Schotterterrassen der Donau und ihrer lokalen Zubringer in Form von öffentlichen und privaten Brunnenanlagen, seit dem 18. Jahrhundert auch in Form von zentralen Trinkwasserversorgungsanlagen. Angesichts der frühneuzeitlichen Abfallentsorgungssysteme ist es kaum verwunderlich, dass insbesondere das Wasser aus den lokalen Brunnen nicht nur Quelle des Lebens war. Noch 1873 forderte eine Choleraepidemie nahezu 3.000 Todesopfer. Das Wasserproblem des damaligen Wien war allerdings nicht nur ein qualitatives. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entsprach die Gesamtkapazität der Wasseraufbringung mit 3.000 - 5.000 m³ pro Tag in etwa der Leistungsfähigkeit der römischen Wasserversorgungsanlagen des antiken Vindobona. Zwischen 1800 und 1900 wuchs die Wiener Bevölkerung von ca. 215.000 auf 1,9 Millionen Menschen. Die Bevölkerungsexplosion brachte die Stadtverwaltung in Zugzwang. Sie reagierte in durchaus gründerzeitlicher Manier und ließ zwischen 1870 und 1910 zwei Hochquellwasserleitungen errichten. Die Arbeiten erfolgten überwiegend händisch, nur im Stollenbau kamen elektrische Bohrmaschinen zum Einsatz. Das Resultat war 1.000 km Rohrnetz, mit dem über 200.000 m³ Wasser täglich befördert wurden. Seitdem hängt Wien am Tropf der Nordöstlichen Kalkalpen. Heute stammen 95% seines jährlichen Wasserverbrauchs von dort.

heute

Mit der räumlichen Trennung von Aufbringung und Verbrauch schien nicht nur das quantitative, sondern auch das qualitative Problem gelöst. Der lokale Kreislauf war aufgebrochen und Grundwasserverschmutzung im städtischen Siedlungsbereich hatte keine - oder nur mehr marginale - Rückwirkung auf die Trinkwasserqualität. Die Wasserversorgung Wiens war damit kein stadtökologisches Problem im engeren Sinn mehr. Sie wurde deswegen allerdings nicht ökologisch unproblematisch. Die Probleme wurden verschoben: Von der Stadt aufs Land, vom Tal ins Gebirge und, vor allem, von einem akuten in einen potenziellen Zustand. Denn der wesentliche Vorzug der neuen Trinkwassereinzugsgebiete war ihr außerordentlich geringer Verschmutzungsgrad, ihr wesentlicher Nachteil ihre außerordentliche Empfindlichkeit gegen Verschmutzung. Der Grund für diese Sensibilität ist ein geochemischer. Kalkgesteine sind wasserlöslich, sie verkarsten. Im Lauf der Zeit, beziehungsweise schon während ihrer Entstehung, verwandelt das Wasser das Innere von Kalkbergen in ein Labyrinth von Schächten, Klüften und Höhlen. Neues Regenwasser kann daher mehr oder weniger ungehindert passieren. Eine Filterung wie bei Porengrundwässern, findet im Karstkörper kaum statt. Unter (un)günstigen Umständen können Schadstoffe 1.500 Höhenmeter in wenigen Stunden zurücklegen: Was vormittags am Gipfel in den Berg hinein rinnt, kommt nachmittags an der Quelle im Tal wieder heraus – und fließt Richtung Wien. Tatsächlich ist ein derart schneller Durchfluss eher die Ausnahme als die Regel. Abgesehen von der sehr variablen Durchlässigkeit von verschiedenen Kalk- und Dolomitgesteinen besitzen auch Karstwassereinzugsgebiete natürliche Wasserfilter, in erster Linie Vegetationsdecke und Boden. Gemeinsam erfüllen sie zwei wesentliche Funktionen. Einerseits wirken sie als Biokläranlage und filtern Schadstoffe aus, andererseits bremsen sie das Abflussgeschehen, indem sie schwammartig Niederschlagswasser aufsaugen und dann verzögert wieder abgeben, teils nach unten in das Karstgestein und teils nach oben, zurück in die Atmosphäre. Diese retardierende Wirkung verhindert Erosionsprozesse, also den Abtrag des Bodens, und ist insofern ein wesentliches Element der ökosystemaren Autoregulation. Das Quellwasser belasten Erosionsprozesse durch Einschwemmung von Humusstoffen und anderen organischen Materialien. Der beste Schutz für Trinkwasser aus Karstgebieten sind demnach natürliche, stabile Ökosysteme.
Obwohl aus urbaner Perspektive äußerst abgelegen, sind natürliche Ökosysteme in den Einzugsgebieten der Wiener Hochquellleitungen durchaus keine Selbstverständlichkeit. Seit Jahrhunderten wird dort Land- und Forstwirtschaft betrieben. Holzeinschlag und Verkohlung im großen Stil waren lange Zeit Haupterwerbszweige in den obersteirischen Gebirgsregionen. Der Kohlebedarf der um den Erzberg konzentrierten Verhüttungsindustrie war immens. Allein im Salzatal am Nordrand des Hochschwab fielen ihm alljährlich zehntausende Bäume zum Opfer. Die typische Nutzungsform war der Großkahlschlag. Es galt, die aufwändige, aber kurzlebige Infrastruktur zum Abtransport der Stämme (Holzriesen und - schwemmanlagen) optimal zu nutzen. Quadratkilometergroße Kahlflächen an den Steilhängen brachten beträchtliche Erosionsprozesse in Gang. Im allmählich nachwachsenden Wald waren nicht alle Baumarten gleich beliebt. Die Landschaftsverfichtung hat eine lange Tradition. Fichten waren leichter zu bearbeiten, leichter zu befördern und lieferten außerdem einen relativ höheren Kohleertrag als Tannen oder Buchen. Die selektive Förderung der Fichte wurde allerdings eher nachlässig betrieben. Sie ging, wie vieles andere, erst im 19. Jahrhundert in eine systematische Form über. Seit damals versucht man, die Folgeschäden der Kahlschlagwirtschaft durch groß angelegte Aufforstungsmaßnahmen zu revidieren. Als Forstbaum wurde bis in die jüngste Zeit praktisch ausschließlich die Fichte verwendet. Windwurfkatastrophen beträchtlichen Ausmaßes demonstrierten allerdings wiederholt die Labilität einartiger und einaltriger Bestände. Die Forstbetriebe der Gemeinde Wien, denen ein beträchtlicher Teil der Einzugsgebiete gehört, haben daraus ihre Lehren gezogen. Der Primat des Ökonomischen gilt heute nicht mehr. Die Wälder auf Schneeberg, Rax und Hochschwab werden als Quellschutzwälder gesehen. Sie sollen ihre Rendite nicht primär am Holzmarkt abwerfen, sondern in den Wasserhähnen der Wiener Haushalte. Naturnahe Waldbewirtschaftung heißt daher das neue Leitprinzip. Dass der Verdienstentgang der Forstbetriebe auch von denen zu finanzieren ist, die davon profitieren, nämlich via Wasserpreis von den KonsumentInnen des Hochquellwassers, erscheint nur legitim, dürfte allerdings den wenigsten bewusst sein.
Die zweite bedeutende Landnutzungsform in den Einzugsgebieten ist die Almwirtschaft. Spätestens seit dem Mittelalter wurden die Hochlagen der niederösterreichisch-steirischen Kalkalpen als Sommerweiden benutzt. Die Anlage der Almen war mit mehr oder weniger ausgedehnten Rodungen im Bergwald verbunden. Die Waldgrenze sank dadurch stellenweise um bis zu 250 Höhenmeter unter die klimatisch mögliche. Die Umwandlung von Wäldern in Almwiesen bringt grundsätzlich verstärkte Erosionsanfälligkeit mit sich. Die Beweidungsintensität unterlag historisch starken Schwankungen, war aber über lange Zeit beträchtlich. Auf die Zeller Staritzen, nordöstlich des Hochschwab, wurden in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts 700 Stück Rinder auf eine Almfläche von 950 ha aufgetrieben. Heute sind es 350. Der Zahlenvergleich illustriert den allgemeinen Trend. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts geht die Almwirtschaft in den nordöstlichen Kalkalpen zurück. Aufgelassene Weideflächen werden wieder von Wald überwachsen. Aus der Sicht der Trinkwassergewinnung eine positive Entwicklung, da der Wald die relativ beste Quellschutzwirkung aller Vegetationstypen bietet. Allerdings verläuft dieser Prozess ausgesprochen langsam. Die Reetablierung eines standortstypischen Fichten- oder Fichten-Lärchen-Mischwaldes an der klimatischen Baumgrenze beansprucht mehrere Jahrhunderte. Im Bereich der Raxalpe hat die Gemeinde Wien in den 60er- und 70er-Jahren versucht, diese Entwicklung durch Hochlagenaufforstungen zu beschleunigen. Bis daraus stabile Wälder geworden sind, werden statt Jahrhunderten etwas weniger Jahrhunderte vergehen. Quellschutzstrategien im Hochgebirge erfordern einen langfristigen Planungshorizont.

morgen

»Worauf freut sich der Wiener, wenn er vom Urlaub kommt? - Auf Hochquellwasser und Ankerbrot.« Trinkwasser hatte seinen Platz im öffentlichen Diskurs, solange die quantitative und qualitative Versorgungslage prekär war. Seit den 50er-Jahren ist es daraus weitgehend verschwunden, um erst in den letzten Jahren eine Renaissance zu erleben. Belastungen mit Nitrat und anderen Schadstoffen, (globale) quantitative Versorgungsprobleme und drohende Kommerzialisierung im Zug des neoliberalen Marktfetischismus haben es vielerorts wieder ins Gerede gebracht. Für die Wiener Wasserversorgung scheint keine dieser Bedrohungen akut. Bezüglich Trinkwasserqualität hat allerdings das Bewusstsein von der besonderen Sensibilität des Hochquellwassers dazu geführt, die zusätzliche Nutzung von Porengrundwässern wieder stärker zu forcieren. Eine entsprechende Diversifizierung soll die einseitige Abhängigkeit von gegenüber Umweltkatastrophen besonders anfälligen Karstwässern reduzieren. Weiters finanziert die Gemeinde Wien seit ca. zehn Jahren umfangreiche Forschungsarbeiten zu Problemen der Karstökologie. Sie sollen unter anderem Anleitungen für eine zukünftige Quellschutzpolitik in den Hochquellwassereinzugsgebieten liefern.
Dass sich mit gutem Wasser auch gute Geschäfte machen lassen, ist keine neue Erkenntnis.
Schon im 19. Jahrhundert hatte die Innerberger Hauptgewerkschaft aus Reichenau an der Rax bestes Hochquellwasser um teures Geld ins cholera- und typhusgeplagte Wien geliefert. Besitz- und Vertriebsrechte an Trinkwasser werden mit der fortschreitenden Metamorphose hochwertigen Wassers von einem freien zu einem knappen Gut zunehmend interessanter. Die Frage ist allerdings, wie gut gute Geschäft für gutes Wasser langfristig sind. Die Antwort auf diese Frage ist jedenfalls eine politische. Es sei dazu lediglich angemerkt, dass der derzeitige Wiener Wasserpreis nicht kostendeckend ist. Im Jahr 1993 wurden die Österreichischen Wasserpreise von WirtschaftswissenschaftlerInnen als um bis zu 60% zu niedrig eingeschätzt – gemessen an einer betriebswirtschaftlichen Kalkulation. Und kostendeckende Produktion bedeutet noch lange keinen Profit.


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