Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.


Loïc Wacquant legt mit seinem Buch Bestrafen der Armen eine umfassende und detaillierte Untersuchung des US-amerikanischen Strafrechtsstaates vor und lässt dabei auch dessen europäischen Imitatoren nicht außer Acht. Die Verantwortlichkeit für den Aufstieg sieht Wacquant in den politischen Maßnahmen, die als Reaktion auf den breiten Verlust an Industriearbeitsplätzen und allgemein auf den Rückgang der Lohnarbeit gesetzt wurden, sowie im Rückzug des Sozialstaates. Im ersten Teil des Buches analysiert Wacquant die Entwicklung oder besser Abwicklung des Wohlfahrtsstaates. Aufbereitet wurden die Maßnahmen durch eine ideologische Verunglimpfung von staatlicher Sozialhilfe. Die Sozialhilfe sei für eine „Abhängigkeitskultur“ verantwortlich, die dazu führe, dass Menschen davon abgehalten werden, sich ihr Einkommen durch Arbeit zu sichern und damit auch ihre Würde verlieren und dem Laster und der Amoral verfallen. Bebildert wurde diese Kampagne durch prototypische Figuren wie der welfare queen, dem deadbeat dad und der minderjährigen Mutter. Diese Figuren waren und sind meistens Schwarze, weswegen das Bild der Armut ein immer schwärzeres Gesicht bekam.

Die Kürzung der Sozialhilfe sollte laut Regierungspropaganda den Menschen helfen, endlich aus der „Abhängigkeitskultur“ zu entkommen und somit Würde und Arbeit wiederzugewinnen. Die eigentlichen Ziele dahinter sieht Wacquant woanders: Es sollte klar gemacht werden, dass ein Job gar nicht so mies sein kann, dass er nicht dem Leben als abhängiger Sozialhilfeempfänger vorzuziehen ist. Die Wohlfahrtsreform (PRWORA), die schließlich 1996 unter Clinton umgesetzt wurde, sollte die Armen disziplinieren und bei Nicht-Erfolg im Gefängnissystem unterbringen. Die Erwartungen in PRWORA haben sich erwartungsgemäß nicht erfüllt, was hauptsächlich damit zu tun hat, dass sowohl Gegner als auch Befürworter die Abhängigkeit der Armen von der Sozialhilfe überschätzt haben. Weder haben die Kürzungen zu einer Explosion der Armut geführt, noch konnten seither alle Amerikaner, weil sie der angeblichen „Abhängigkeitskultur“ entkommen sind, von ihrer Arbeit und in Würde leben. Die Reform der Wohlfahrtsprogramme war aber ohnehin nicht dazu gedacht, die Armut und die soziale Unsicherheit zu bekämpfen, sondern diese vielmehr zu „normalisieren“, wie Wacquant schreibt. An manchen Stellen ist die Argumentation des Autors nicht ganz konsequent. So kritisiert er, dass im Reformgesetz, das „die Menschen aus der Wohlfahrt in die Arbeit bringen“ sollte, „keinerlei auf die Schaffung von Arbeitsplätzen bezogene Komponenten“ enthalten waren, um nur ein paar Seiten weiter festzustelle­n, dass es sehr wohl eine „aktive Arbeitsmarkt­politik“ gegeben hat: „Dies bedeutet, dass die USA paradoxerweise ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als sie von ,welfare‘ zu ,workfare‘ umschwenkten, in einer Phase der allgemeinen Prosperität unter der Hand aktive Arbeitsmarktpolitik betrieben.“

Wacquant konstatiert eine zunehmende Verwischung der Unterschiede von unerwünschtem Sozialverhalten und Kriminalität und fordert deswegen eine Engführung der Analyse von Strafverfolgungs- und Sozialpolitik. Der steile Anstieg der Gefängnispopulation korreliert in keinster Weise mit neue­n Kriminalitätsrekorden, ganz im Gegen­teil. Die Zahl bei den wichtigsten Delikt­kategorien blieb von 1975 bis 1995 ungefähr gleich. Der Anteil der afroamerikanischen Bevölkerung in den Gefängnissen war nicht immer so hoch wie heute: „Innerhalb der Häftlingspopulation (hat sich) die Kluft zwischen Weißen und Schwarzen im letzten Vierteljahrhundert von 4,5 zu 8 auf 1 zu 8 heute deutlich vertieft“. Die Ausgaben für Erhalt und Bau von Gefängnissen haben in den letzten Jahrzehnten dramatische Höhen erreicht und in Kalifornien zwischen 1980 und 1990 z.B. zu einer Umkehrung des Ausgaben-Verhältnisses von Gefängniss­e und Universitäten geführt. Eine weitere Steigerung der Kosten steht in den nächsten Jahrzehnten bevor, weil aufgrund der immer längeren Haftstrafen auch das Alter der Häftlinge stetig steigt. Einsparungen erfolgen in erster Linien bei Weiterbildungs- und Resozialisierungsmaßnahmen, der „Absenkung des ,Lebensstandards‘ und der Verschlechterung der Dienstleistungen im Strafvollzug“. Resozialisierung hat generell aufgehört ein Ziel des Strafvollzugs zu sein. Wacquant betont, dass es bei diesen Maßnahmen weniger um die Einsparungen an sich geht, als um das Signal an die Bevölkerung außerhalb der Gefängnismauern: Verdiene dein Einkommen mit Arbeit, sonst droht dir ein furchtbarer Abstieg.

Ausführlich widmet sich Wacquant der Wider­legung der vielzitierten Broken-Windows-Theorie, einem Liebkind rechter Law-and-Order-Hardliner, was nicht schwer fällt, weil dazu keine seriöse wissenschaftliche Untermauerung existiert. Genüsslich zitiert Wacquant Jack Maple, den „Architekten“ von Rudolph Giulianis Zero-Tolerance-Polizei­strategie, der klar sagt, dass es keinen Zusammenhang zwischen „kleinen Ordnungswidrigkeiten und schwereren Verbrechen“ gibt. Den Glauben, die Polizei hätte generell Einfluss auf die Kriminalitätsrate, verweist Wacquant ganz allgemein ins Reich der Legenden.

Einen Ausweg aus der Krise sieht der Autor in einem „energischen Eintreten für soziale und ökonomische Rechte“. Wacquant legt Wert darauf, keinen weiteren Text zur „politischen Ökonomie der Haft“ sondern einen Beitrag „zur politischen Soziologie der Transformation des Feldes der Macht im Zeitalter des triumphierenden Neoliberalismus“ verfasst zu haben – was im ausgezeichnet gelungen ist.


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