Johannes Porsch


Der Katalog wurde als Objekt der Ausstellung konzipiert. Als Ausstellungsobjekt präsentiert der Katalog ein Verständnis von Architektur als »interaktivem Vorgang«, als »Ergebnis von Denken und Kommunikation« und »sozialem Prozess des Herstellens und Wiedergebens von Bedeutungen«. Ein Teil dieses Architekturdiskurses ist Sprechen – sind Diskussionen, die im Zusammenhang des Konzipierens, Realisierens, Vermittelns und Benützens von Architektur stattfinden. Damit meinen wir, dass nicht nur das Sprechen über Gebäude Bedeutungen herstellt und vermittelt. Bedeutung liegt nicht außerhalb eines Gebäudes oder wird nachträglich durch Interpretation über das Bauwerk gelegt. Vielmehr ist dieser Prozess der Bedeutungsherstellung und Vermittlung in das Gebäude selbst eingebettet. Das Gebäude ist durchdrungen von Bedeutungsebenen, die nicht von seinem formalen Erscheinungsbild direkt getragen, sondern durch die Handlungen aller am Komplex Architektur Beteiligten gebildet werden.
Im Katalog Sturm der Ruhe. What is Architecture? werden Positionen des Sprechens innerhalb des Architekturbereiches mit Positionen des Sprechens aus anderen »Wissenskörpern« konfrontiert. Dadurch zeigen wir voneinander abweichende Wissensformen, Praktiken und Technologien, also »Lebensweisen« und deren Unterschiede in Denkweisen und im Arbeiten mit Begriffen. Das Ausstellen der unterschiedlichen Positionen des Sprechens hat folgende Wirkung: Inhaltliche Problematiken von Architektur können als disziplinäre Spezialisierung von Raumgestaltung verständlich werden. Architektur ist eine spezifische und materiell-konkrete Ausformung des Umgangs mit Raum. In einem weiter gefassten Zusammenhang wird jedoch auch klar, dass Raum in unterschiedlichen Abstraktionsgraden oder Materialisierungen von Ideologien, politischen, ökonomischen und wirtschaftlichen Kräften ausgeformt, strukturiert, organisiert und verwaltet wird.
Die im Katalog zusammengestellten Texte bilden Hintergrund, Horizonte und Kontexte für ein problematisierendes Verständnis der ausgestellten Architektur. Über Lesehinweise auf den Beschilderungen der einzelnen Ausstellungsobjekte findet der Besucher einerseits punktuelle Einstiege in den Katalog, aber auch bruchstückhafte Erzählungen in Bezug zum jeweiligen Objekt. Das Lesen verschiedener Texte zu einem Projekt lässt es in jeweils anderen Ausprägungen von Aspekten hervortreten. Aus dem Nebeneinanderstellen dieser unterschiedlichen Gestalten eines Projektes ergibt sich eine multiplizierte Perspektive. Die Textzusammenstellung entscheidet sich – so wie die Auswahl und Zusammenstellung der Ausstellungsobjekte –, die Fragestellung »Was ist Architektur?« nicht mit einer Gegenüberstellung von Disziplin/Konzept und reinem Bauen/Empirie zu beantworten, sondern sieht Architektur als Komplex der Zusammenhänge Konzeption-Produktion-Rezeption – mit einer Vielzahl von aufeinander in Bezug tretenden Agenten, Kontexten und Größen, die sich am Schauplatz des Gebäudes treffen.

Themen des Katalogs

Die Annahme, dass Subjekte beim Erleben von Raum auf einer »persönlichen« Ebene mit diesen kollektiven »unsichtbaren« Kräften konfrontiert sind, generiert die grundlegenden Themen, die die zueinander andersartigen Plätze des Denkens und Sprechens im Katalog verknüpfen: Körperlich-psychische Beziehungen des Individuums zu Raum – in dieses Feld könnten die Texte von Gernot Böhme, »Synästhesien«, George Didi Huberman, »Die doppelte Distanz«, Maurice Merleau-Ponty, »Der Chiasmus«, Rosalind Krauss, »Sinn und Sinnlichkeit« gereiht werden.
Die Verhandlungen, die das Subjekt – verstanden als Individuum, Träger von widersprüchlichen und fragmentierenden »Ich-Gefühlen«, als sinnliches Wesen wie auch als politischer, sozialer, ökonomischer und ideologischer Agent – in Bezug auf seinen Körper führt. Die Texte von Donna Haraway, »Die Beharrlichkeit der Vision«, Stan Allen, »Dazed and Confused«, Mark Rakatansky, »Räumliche Erzählungen« umreißen diese Diskussion.
Hier interessieren uns semiotisch-materielle Praktiken und deren Zusammenhänge mit räumlichen Praktiken; diese Auseinandersetzung führt Michelle Murphys Text, »Das Anderswo im Hier«. Mit semiotisch-materiellen Praktiken meinen wir pragmatische Aspekte des alltäglichen Lebens, »Handlungsmöglichkeiten«; den Umgang mit der Umgebung, den Dingen und dem eigenen Körper. Dieser Umgang, diese Handlungen erzeugen wiederum Bilder und Mitteilungen und vermitteln Sinn und Bedeutungen. Schließlich bildet das Verhältnis von Subjektkonstruktionen zu Entwurf und Gestaltung von Raum einen weiteres Themenfeld im Katalog: Sowohl die Bedingungen der Bildung einer entwerfenden Figur, zum Beispiel die Konzeptionen des Berufsbildes des Architekten, wie auch soziokulturelle Umstände des Rezipierens, also des Aufnehmens und Benützens, von gestaltetem Raum sollen hier diskutiert werden. Zu dieser inhaltlichen Kategorie zählen die Texte von Marc Augé, »Orte und Nicht-Orte«, Rosalind Krauss, »Sinn und Sinnlichkeit«, Donna Haraway, »Die Beharrlichkeit der Vision«, Bruno Reichlin, »Jenseits der Zeichen«, Mark C. Taylor, »Seaming/Säumen«.
Zu diesen inhaltlichen Schwerpunkten wurden Interviews und Textbeiträge mit und von Architektinnen und Architekturtheoretikerinnen gesammelt, die sich in Bezug auf Entwurf und Realisierung von Gebäuden mit Phänomenen der Wahrnehmung, der Unmittelbarkeit, Sinnlichkeit, mit Fragen des Fortsetzens der Architektur durch den Benützer, mit dem gelebten Raum beschäftigen. Sie thematisieren aber auch kulturelle Krisen gesellschaftlicher Systeme, die die Bedingungen des Bauens, Konzipierens von Gebäuden und das Entwickeln architektonischen Denkens beeinflussen. Damit einhergehend stehen Verschiebungen in Designstrategien und den Versuchen von Neu- oder Umformulierungen des Selbstbildes des Architekten zur Diskussion.

Arbeitsstrategie

Die Versuche, Aktionsfelder des Architekten zu erweitern, bedingen Veränderungen von Organisations- und Produktionsformen von Architektur, aber auch eine erweiterte und unterschiedliche Typen von »Wissenskörpern« verbindende Beschäftigung mit aktuellen Kräfteverhältnissen, die zeitgenössischen Raum prägen. Edward Mitchell äußert sich in seinem Text »Sehnsucht nach Lifestyle« zu diesen für Architekten zu erschließenden Operationsfeldern. Diese Auseinandersetzungen und Erforschungen – die ja von Architekten bereits geführt werden – werden im Katalog mit Äußerungen aus anderen Disziplinen kombiniert. Diskussionen werden in Bezug gesetzt. Die Zusammenstellung, deren Absicht es ist, uneinheitliches Sprechen zu verbinden, inszeniert »fiktive Gesprächssituationen«. Es entstehen also Szenen, in denen gesprochen wird.
Ein Gespräch kann abhängig vom Einsatz seiner Teilnehmer vielen Richtungen folgen. Wir finden also pro Situation nicht einen Themenschwerpunkt vor, sondern in der inszenierten Dynamik eines Gespräches eine Verschränkung oder situative Ausprägung von Aspekten der oben genannten Themenschwerpunkte, die sich durch den Katalog ziehen und man an anderer Stelle in anderer Konfiguration und Kontextualisierung wiederfinden kann.
Die Inszenierung interessiert sich jedoch nicht nur für die von den Teilnehmern ausgetragenen Inhalte, sondern auch für die sprachlichen Qualitäten, die von den teilnehmenden Sprechern in die Unterhaltungen hineingetragen werden. Es geht also auch um eine theatralische Komponente des Sprechens, die Verkörperung oder Darstellung des Lebenszusammenhangs, aus dem die Sprecherin agiert. Die Anwendungen von Sprache durch die Person der Architektin, der Wissenschafterin, der Architekturtheoretikerin, der Schriftstellerin etc. erzeugen unterschiedlich konkrete oder abstrakte Realitäten oder Problemstellungen, abhängig vom Arbeitsfeld und Interessensorientierung der jeweiligen Sprecherin. Sie bieten der Leserin aber auch Zugang zu verschiedenen Strategien, Realität zu denken, sich zu positionieren und aus diesen Positionierungen zu handeln.
Aus der Übersetzung der unterschiedlich orientierten und ausgeprägten Artikulationen zueinander können sich Sichtweisen umstrukturieren und innovative Problemstellungen resultieren. Die Vielstimmigkeit der vorgebrachten Argumentationen können für die Leserin Konflikte, Lücken, Zusammenbrüche in sich durch den Katalog hindurch entwickelnden Argumentationslinien ergeben. Die Leserin sollte auch Affinitäten, Kontinuitäten, Ergänzungen, Fortführungen von Denkweisen und inhaltlichem Umgang entdecken können oder in bestimmten Gesprächen Begonnenes an anderen Stellen wiederfinden und durch ihre Lektüre fortsetzen können.

Gestaltung

Für diese fiktiven Gesprächssituationen haben wir bereits veröffentlichte Texte ausgewählt und neu zusammengestellt, ein »neuer« anonymer Text wurde aus der »Montage« vorgefundener Texte geschrieben. Eine Vielzahl der Texte wurde in Auszügen wiedergegeben. Somit ist jeder Text in sich sowie die Zusammenfügung der Texte insgesamt eine »Montage« von Textfragmenten. Das Buch soll eine Ansammlung von Fundstücken sein, eine Dynamik der möglichen zusätzlichen Sinnproduktion soll sich entwickeln. Wir haben uns für eine Zusammenstellungsart entschieden, die neben dem Hintereinanderlesen von Texten auch ein Nebeneinander- oder Gegeneinanderlesen von Texten erlaubt. Jede Doppelseite des Buches ergibt also ein Textbild aus zueinander parallel laufenden Texten. Ein Texte verkreuzendes Lesen ist möglich, aber nicht zwingend.
Für den jeweiligen Essay oder die Zusammenstellung von Texten markante Begriffe und Satzteile wurden farblich hervorgehoben. Es entsteht für den Leser ein Netz aus Begriffen, das sich über die einzelnen Texte hinaus entwickelt; ein Orientierungsgebilde, das mit dem Erinnern und Wiedererkennen und -finden von Begriffen arbeitet. Die Gestaltung des Katalogs versucht Konventionen des Lesens und des Benützens eines Buches zu unterstützen und bildet ein von der inhaltlichen Struktur unabhängiges Erscheinungsbild und Anwendungssystem. Die durch die thematischen Zusammenhänge ineinandergeschachtelten »Gesprächssituationen« werden durch das Einführen von Trennblättern übersichtlich in acht Kapitel gegliedert. Die Trennblätter können als Einstiege in den als fortlaufend konzipierten Text betrachtet werden und bieten den Komfort einer lokalisierten Inhaltsangabe. Jeder Text ist mit einer Referenznummer versehen, ein vielseitig gerichtetes Lesen wird angeboten.
Bild- und Textteil sind voneinander getrennte, eigenständige Elemente des Buches, sie sind von einem illustrativen oder referentiellen Verhältnis gelöst. Der Bildteil, zusammengefasst in einen kompakten Block am Ende des Buches, dokumentiert die mediale Repräsentation der in der Ausstellung Sturm der Ruhe. What is Architecture? präsentierten Arbeiten und Werke. Covers und Bildstrecken etablierter Architekturfachzeitschriften und Buchpublikationen wurden zitatartig fotografisch reproduziert. Somit sind auch Konventionen und Inszenierungen von Darstellungsformen von Architektur durch den Katalog in der Ausstellung präsent.


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