» Texte / Tag und Nacht – Melnikow – ein unterbelichteter Protagonist der Moderne

Andre Krammer

Andre Krammer ist selbstständiger Architekt und Urbanist in Wien.


Die Ausstellung „Moskau – Melnikow. Architektur und Städtebau von Konstantin Melnikow 1921-1937“ ist noch bis 13. April 2006 im Ringturm zu sehen. Die Wanderausstellung ist die Präsentation eines EU-Forschungsprojektes, an dem Architekturfakultäten aus Mailand, Stuttgart und Delft teilgenommen haben. Der Architekt, Stadtplaner und Maler Konstantin Melnikow (Moskau 1890-1974) ist eine zentrale Figur der osteuropäischen Moderne der zwanziger und dreißiger Jahre – im Vergleich zur umfangreichen Aufarbeitung der westeuropäischen Moderne, war und ist seine Arbeit immer noch eine terra incognita.

Die Isolation, in die Melnikow nach ungewöhnlicher Produktivität in den dreißiger Jahren geriet (nicht zuletzt auf Grund veränderter Dogmen unter Stalin) und die bis zu seinem Tod 1974 anhalten sollte (Melnikow war nach 1945 hauptsächlich als Maler tätig und konnte keinen Architekturwettbewerb mehr gewinnen), scheint bis heute nachzuwirken. Das Forschungsprojekt versucht eine Kontextualisierung Konstantin Melnikows in einer Phase immenser politischer und urbaner Transformation Moskaus und wagt die Rekonstruktion wesentlicher Projekte in Form nachgebauter Modelle, die neben Abbildungen, Plänen und einem Dokumentationsfilm in der Ausstellung im Ringturm zu sehen sind.

Die Einzelfigur wird in den zeitgeschichtlichen Kontext eingebettet und so ein
Diskurs über die Beziehung von Raumproduktion und Ideologie, Individualismus und Kollektivismus, beziehungsweise Einzelobjekt und Stadt, in Gang gebracht. Melnikow war wesentlicher Protagonist einer Zeit, in der die Bedeutung von Architektur als Medium der Massenkommunikation entdeckt wurde. Er vereinigte in sich widersprüchliche Tendenzen – der Sohn von Kleinbauern brachte einen ausgeprägten Individualismus in die Metropole, in der die Herrschaft des neuen Kollektivs über die Bourgeoisie ausgerufen wurde. Melnikow identifizierte sich einerseits mit der Oktoberrevolution, behielt aber in seinem Werk und seinem dandyhaften Auftreten diesen ausgeprägten Individualismus bei. Die bis heute maßgebende Biographie von Frederick Starr trägt folgerichtig den Untertitel: „Solo Architect in a Mass Society“.

Diese heute eher faszinierende Komplexität Melnikows erschwerte einst die politische und ästhetische Einordnung in eine Avantgardebewegung (er wurde einmal den Konstruktivisten zugerechnet, dann wieder 
den Formalisten) und förderte auch innerhalb der Kollegenschaft eine zunehmend 
isolierte Stellung. Die grundlegende Ambivalenz Melnikows wird nicht zuletzt an seinem berühmten doppel-zylindrischen Privathaus sichtbar, das er sich und seiner Familie mitten in Moskau errichtete: gleichzeitig familiärer Rückzugsraum und urbane Repräsentationsfläche.

Das Moskau der zwanziger Jahre befand 
sich in einer räumlichen und diskursiven Transformation: Die zentralistisch organisierte, kapitalistische Stadt mit dem Kreml im Mittelpunkt, die im 19. Jahrhundert aufgrund kommerzieller Mechanismen sprunghaft zur Metropole angewachsen war, sollte zur sozialistischen Stadt umgebaut werden. Die akkumulative Ausdehnung dieser sollte durch Planung verbessert werden. Das neue Moskau sollte polyzentrisch strukturiert sein: Die Hierarchie von Zentrum und Peripherie sollte aufgelöst, die Landschaft (Asien) mit der Großstadt (Europa) versöhnt werden. Vor diesem Hintergrund entwarf Melnikow in der kurzen Zeitspanne von 1927 bis 1929 sieben Arbeiterklubs, von denen sechs gebaut wurden. Diese Klubs sollten Identifikationsobjekte der ArbeiterInnen im Arbeiterbezirk sein und im Alltagsleben als Übergangszone zwischen kollektivem Leben (Fabrik) und Privatleben (Familie) fungieren. Mit diesen Klubgebäuden und seinen Ausstellungspavillons, allen voran der russische Pavillon der Weltausstellung in Paris 1926, erwarb sich Melnikow in den zwanziger Jahren internationalen Ruhm.

Seine Klubs sind individuell gestaltet, zwischen Grundkonzeption (Utopie) und Realisierung gibt es eine flexible, pragmatische Beziehung. Die dynamische Formgebung unter Einbeziehung von Dreiecksformen und zylindrischen Körpern hebt sich vom orthogonalen Dogma der orthodoxen Moderne ab. Der Funktionalismus wird durch eine Raumpoetik erweitert, die den Vorwurf des Formalismus begründete, den Moisej Ginzburg und die Konstruktivisten gegenüber Melnikow vorbrachten.

In Melnikows kompakten Formen wurde die Gesamtheit der Inhalte integriert: Versammlungshallen, Veranstaltungssäle, Kantinen, Bibliotheken, etc. wurden in einer Hülle zusammengefasst – die Gesamtheit betont. Innere Abläufe wurden in ein 
enges und dynamisches Beziehungsgeflecht gebracht (manipuliert). Typisch sind mobile Trennwände, die ein durchlässiges „System der Räume“ ausbilden und den kollektiven Raum der Klubs als eine dynamische, wandelbare Raumstruktur konzipieren. Der Authentizität der Funktion (die äußere Form sollte sich aus der inneren Organisation ergeben, wie die Architekten der OSA – der Vereinigung der Konstruktivisten – forderten) wird eine subjektive Manipulation der Funktionsabläufe gegenübergestellt, die eine Wunschproduktion bedeutet, die einen Autor kennt: den Künstler-Architekten.

Der Diskurs, der rund um die „adäquate“ Ausformung der Arbeiterklubs der zwanziger und dreißiger Jahre (von Melnikow, den Konstruktivisten und den Formalisten) geführt wurde, repräsentiert eine elaborierte Form-Inhalt Debatte, die bis heute anhält. Sie macht auch deutlich, dass eine eindeutige Definition von Funktionalismus nicht möglich ist, sondern dass dieser immer in einer spezifischen Diskurskonstruktion eingebettet ist. Die Klubs wurden als Orte der Befreiung konzipiert, aber auch als Orte der Disziplinierung, die der Erziehung zum „Neuen Menschen“ dienten: Architektur als behavioristisches Propaganda-Instrument.

Situiert wurden sie typischerweise in den Arbeiterbezirken der Moskauer Peripherie (auch um diese aufzuwerten), teilweise in direkter Nachbarschaft zur Fabrik, teilweise wurden sie bewusst in den bestehenden (vor-revolutionären) Kontext integriert und in der Nähe von Kirchen, Parkanlagen oder Krankenhäusern errichtet.

Interessant ist der Hinweis auf die Tradition, in der die Arbeiterklubs stehen (siehe Katalog). Auch die ancien regimes kannten ähnlich konzipierte Gebäude, wie etwa das französische, philanthropische „maison du peuple“.

Die Ausstellung zeigt auch ein (rekonstruiertes) Modell – Melnikows Entwurf einer „Grünen Stadt“ – ein Wettbewerbsbeitrag von 1929, eine Idealstadt, die als Satellit von Moskau konzipiert wurde. Die Grundstruktur ist ein idealer Kreis (Infrastrukturring), der in Sektoren geteilt ist (Wald-Sektor, Garten-Sektor, Zoo-Sektor, Kollektiver-Sektor, etc.) und ein sternförmig ausgebildetes Zentrum. Dieser Entwurf ist eine sowjetische Variante der Gartenstadt. Die antiurbanistische Ausrichtung Ebenezer Howards (dem Chef-Ideologen der Gartenstadt Bewegung) ist darin enthalten, wie auch die sozialistische Vorstellung einer Orchestrierung und Ordnung/Disziplinierung des kollektiven Lebens. Die Konzeption der „Grünen Stadt“ trägt aber auch orwellsche Züge: Melnikow propagierte etwa „Laboratorien des Schlummers“, Schlaflabors, die der Verbesserung und Erforschung des Schlafes dienen sollten. Im sternförmigen Zentrum sollte es ein ominöses „Institut zur Schaffung des Neuen Menschen“ geben. Der kollektiven Ideologie wird radikale Privatheit gegenübergestellt.

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Ausstellung
Moskau-Melnikow
Architektur und Städtebau von Konstantin Melnikow 1921-1937
Ringturm, Wien
16. Februar bis 13. April 2006


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