Die Passage als Chronotopos
Geschichte der Urbanität, Teil 13; Die Stadt im 19. Jahrhundert VDas Passagenwerk hat Walter Benjamin als sein opus magnum von 1927 bis zu seinem Tod 1940 beschäftigt; dennoch konnte es nicht fertig gestellt werden und ist uns nur in Fragmenten erhalten. Die Stoßrichtung der Arbeit konnte zumindest durch einige zwischen 1935 und 1939 verfasste Exposés, die einen Abriss der Stoffe und Themen geben, hinreichend deutlich gemacht werden. Es hätte »nichts Geringeres als eine materiale Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts dargestellt, wäre es vollendet worden«.[1] Aus der Sicht der Kulturwissenschaft galt es lange als das bedeutendste Werk seiner Zeit. Aus der Sicht einer Geschichte der Urbanität hat Benjamin hier eine neue Raumfigur erfunden bzw. eine uralte wieder entdeckt, einerseits die Passage als eine reale Architektur des 19. Jahrhunderts, andererseits den anthropologischen Ort des »Rite de Passage«. Die Passage Benjamins ist als Übergangszone immer auch mit einem anderen potenziellen Raum verbunden. Der universelle Schwellencharakter, der sich daraus ergibt, verleiht ihr ein Potenzial, das ununterbrochen zu neuen Raum-Koppelungen einlädt und verführt, zugleich aber auch eine verwirrende Zweideutigkeit zur Folge hat. Benjamin selbst konnte keine ausreichende Klärung schaffen, im Gegenteil, durch die Fülle des Materials hat er die Möglichkeit zu nahezu unbegrenzter Deutung geboten, die noch keineswegs ausgeschöpft ist.
Die Passage ist ihrer Hauptsache nach ein Übergang zwischen Wohnung und Straße, nach aktuellen Begriffen könnte man in gewisser Weise von einer Passage zwischen öffentlich und privat sprechen. Sie vereinigt Elemente beider Sphären, die des Hauses und die des öffentlichen Stadtraumes. Die Wurzel des Architekturverständnisses liegt nach Benjamin schon im Mobiliar eines Bürgerhauses des 19. Jahrhunderts. Durch die vom Kind phantasierte Dämonie (der guten und bösen Geister, Anm d. A.) des historistischen Mobiliars dient die Wohnung als ein Schauplatz, an dem die Urgeschichte in ihrer magischen Dimension mit der Gegenwart verschmilzt. »Wohnen – noch immer ist es ein Hausen, ein Geschehen voller Angst und Magie, das vielleicht niemals verzehrender war als unter der Decke des zivilisierten Daseins und der bürgerlichen christlichen Kleinwelt.«[2] Es ist der Traum des Kindes, den Benjamin auf der Reise in die entschwundene Kindheit entdeckt, der in die Architektur eingeht und die entsprechende Erfahrung prägt. So lassen viele Stellen in seiner ab 1932 verfassten »Berliner Kindheit« erkennen, dass sich die zentralen Elemente seiner Stadtwahrnehmung bereits in frühen Jahren ausprägten. In der alten von Karyatiden getragenen Loggia seiner elterlichen Wohnung erspürt er schon die Besonderheit jenes Bauelementes und ergänzt sie mit der Vorahnung eines Übergangsraumes zur Stadt, der einen Schlüssel zur Erinnerung birgt. »An ihnen hat die Behausung des Berliners ihre Grenze. Berlin – der Stadtgott selber – beginnt in ihnen. Er bleibt sich selbst so gegenwärtig, dass nichts Flüchtiges sich neben ihm behauptet. In seinem Schutze finden Ort und Zeit zu sich und zueinander. Beide lagern sich hier zu seinen Füßen. Das Kind jedoch, das einmal mit ihm im Bunde gewesen war, hält sich, von dieser Gruppe eingefaßt, auf seiner Loggia wie in einem längst ihm zugedachten Mausoläum auf.«[3]
Die Straße bzw. der öffentliche Raum der Stadt gilt Benjamin als Wohnung des Kollektivs. Private Geborgenheit ist gewiss nicht ihre Aufgabe, schließlich zeigen bereits im 19. Jahrhundert die Konstruktionsaufgaben des Bahnhofs, der Ausstellung und des Warenhauses, dass »das Auftreten großer Massen auf dem Schauplatz der Geschichte schon vorgesehen (ist)«. Dabei vollzieht sich eine wesentliche Transformation der Wahrnehmung, indem Architektur nicht mehr primär optisch, sondern taktil rezipiert wird, was durch den Verlust der Aura gravierende Folgen auslöst.
Die Geschichte der Passagen ist für Benjamin daher im Wesentlichen eine Beschreibung des Verlustes des Traumcharakters der Passage, der in ihrer Anfangsphase ungleich stärker ausgeprägt war als zur Zeit seiner eigenen Niederschrift bzw. der Konzeption des Passagenwerkes ein Jahrhundert später. Der mythische Raum der frühen Passagen verändert durch die wachsende Verschmelzung mit der Straße sein Wesen. Zugleich entspricht dieser Zusammenhang auch in vielerlei Hinsicht dem wechselnden Verhältnis zwischen privatem und öffentlichem Raum.
Die Passage ist für Benjamin auch Unterwelt, daher mythischer Raum mit einem topographischen Konzept, der den Zugang zum Verständnis der Epoche des 19. Jahrhunderts liefert. Sie nimmt die Straße ins Haus zurück, betont den Stillstand. Einerseits führt sie zur Verlangsamung des Verkehrs, der notwendig ist, um sich zum Genuss der Ware einzustimmen und von der Hektik der Produktion abzusetzen. Die Passage ist daher auch der Ort, wo Wirtschaft und Ästhetik zueinander finden und als »Urlandschaft der Konsumption«[4] erscheinen. Andrerseits erzeugen Mode, Reklame und Architektur die Welt eines kollektiven Traumes, den Benjamin wegen der allegorischen Bedeutung des Interieurs und der verblichenen Werbezeichen zu deuten versucht.
Die Drei-Stufen-Theorie der Passage
Nach Benjamin könnte man von einer in drei Stufen gegliederten Geschichte der Passagen sprechen. Zunächst die Frühphase der Passagen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in denen sie mit Marmorverkleidung, Holztäfelungen und der Gliederung durch Messingprofile in Erscheinung treten. Sie sind zu diesem Zeitpunkt noch die Feenpaläste des Luxushandels für die Aristokratie und das neue Großbürgertum mit einem extrem individuierten und verfeinerten Angebot, das zumeist in Handarbeit hergestellt wird. Ihr Übergang in die zweite Phase beginnt genau zu dem Zeitpunkt, als die neue Form der Massenproduktion den Siegeszug der Ware durch die sie begleitende Reklame ermöglicht und zu diesem Zweck auch eine Umwandlung und Weiterentwicklung der Passage in den neuen Typus des Warenhauses notwendig machte, aber zunächst bei friedlicher Koexistenz mit den alten Passagen, in denen nun auch die massenproduzierte Ware Einzug hält. Aber im Grunde zeichnet sich ab dem Ende des 19. Jahrhunderts auch die dritte Stufe, ihr Verfall nämlich, ab, indem sie sich aufgrund der mangelnden Modernität nun ihrerseits in einen Erinnerungsraum verwandeln, der immer mehr verstaubte und schwer verkäufliche Ware birgt, die erst unter dem Blick des Surrealisten wieder zu Leben und Sinn kommt. Denn diesen unterirdischen Warensammlungen, Fossilien der Alltags- und Industriegeschichte wird durch ihr Erwecken durch den allegorischen Blick eine zweite Lebenschance gegeben, indem sie zu Zeichen eines Erinnerungsraumes werden und in die Lage versetzt werden, ein Bild der Geschichte voller Poesie abgeben zu können, das im Gegensatz zur offiziellen Geschichtsschreibung mit ihrer konstruierten Linearität des Zeitverlaufs und des behaupteten Finalismus steht.
So leitet Benjamin den Kommentar der Zeitgleichheit des Abbruchs einer der ältesten Passagen, der Passage de l’opéra, zugunsten eines Durchbruchs des Boulevard Haussmann[5] mit der Beschreibung einer Neuerrichtung ein: » In der Avenue des Champs-Elysées zwischen neuen Hotels mit angelsächsischen Namen wurden vor kurzem Arkaden eröffnet, und die neueste Pariser Passage tat sich auf. Zu ihrer Einweihung blies ein Monstreorchester in Uniform vor Blumenparterres und Springbrunnen. Man staute sich stöhnend über Sandsteinschwellen an Spiegelscheiben entlang, sah künstlichen Regen auf kupferne Eingeweide neuester Autos fallend, zum Beweis der Güte des Materials, sah Räder in Öl sich schwingen, las auf schwarzen Plättchen in Straßchiffren Preise der Lederwaren und Grammophonplatten und gestickten Kimonos. In diffusem Licht von oben glitt man über Fliesen ...«[6]. Diese Kontrastierung der Entstehung und Einweihung einer neuen Passage mit dem Tod jener alten Passage, die von Aragon entdeckt wurde, versucht die Beschreibung des gleichzeitigen Untergangs und Aufgangs zweier Traumwelten in Passagenform, die jedoch unterschiedlicher Charakteristik sind. Bezeichnenderweise bedeutet jedoch die neue Passage des Pariser Art Déco um 1930 aufgrund ihres paradigmatischen Auslageninhaltes einer industrialisierten Welt, des Automobils nämlich, das Ende der Physiognomik der Dingwelt, da die Technik den Untergang der Traumwelt befördert und gerade das Auto bereits damals das Vorbild für die kommende Architektur und fordistische Stadtplanung darstellte.
Indem die Passage dem Auto als dem zentralen Symbol der schleichenden Stadtzerstörung Raum gibt, übt sie ihr Ende als Traumsphäre ein. Die Verbindung von Auto und Passage ist Symbol der völligen Öffnung zur Straße und der Übernahme der Passage durch den öffentlichen Raum, der weder Eignung noch Absicht zum Traum hat: »Der Traum eröffnet nicht mehr eine blaue Ferne. Er ist grau geworden. Die graue Staubschicht auf den Dingen ist sein bester Teil. Die Träume sind nun Richtweg ins Banale. Auf Nimmerwiedersehen kassiert die Technik das Außenbild der Dinge wie Banknoten, die ihre Gültigkeit verlieren sollen.«[7]
Der Traum. Wilder die Entzauberung
Der Traum ist für Benjamin wesentlich mehr als ein allgemeiner Begriff, er bezeichnet das 19. Jahrhundert als ein Zeitalter des Traums und glaubt an den Umschlag des Erwachens im 20. Jahrhundert, eine Perspektive, die aufgrund der allgemeinen Situation jener Zeit durch den Faschismus und die revolutionären Hoffnungen des Marxismus genährt wurde. Allerdings nimmt Benjamin nicht den marxistischen Standpunkt des unausweichlichen Fortschrittes und einer Vorstellung von Emanzipation durch technokratische Naturbeherrschung ein, dem gemäß alles Stehende und Ständische zu verdampfen hat, sondern entwickelt zahlreiche Ansätze für eine subtile Theorie, die eine Versöhnung mit der Vergangenheit sucht. Benjamin ist alles andere als ein blinder Revolutionär, der jede neue Form begeistert als Ausdruck des naturgesetzlich ablaufenden geschichtlichen Fortschrittes begrüßt, sondern er kann durchaus die Qualitäten der traditionellen bürgerlichen Ästhetik des Scheins verstehen. Daher plädiert er gegen die Entzauberung der Welt und für eine Theologie, die den Schein als göttlich notwendige Verhüllung von Dingen für uns zu retten in der Lage ist.
Die Vorstellung, dass sich das Schöne nur kritischer Transparenz und sachlicher Vigilanz verdanken könne, fällt ihm schwer. Wenn er die Moderne überhaupt zu akzeptieren in der Lage ist, dann nur dort, wo er Momente naturgeschichtlicher Entwicklung zu erkennen glaubt. Zum Beispiel dort, wo er durch den Einfluss von Sigfried Giedions Darstellung der Räume des »Neuen Bauens« durch das Prinzip der Konstruktion erstmals eine alternative Denkmöglichkeit entdeckt, die Passage nicht nur als Traum, sondern auch als eine historische Konstellation, die die Struktur des Erwachens hat, zu interpretieren. »Die durchaus auf Zeitlichkeit, Dienst, Veränderung, gestellte Konstruktion folgt als einziger Teil im Gebiet des Bauens einer unbeirrbaren Entwicklung. Die Konstruktion hat im 19. Jahrhundert die Rolle des Unterbewußtseins. Nach außen führt es, auftrumpfend, das alte Pathos weiter; unterirdisch, hinter Fassaden verborgen, bildet sich die Basis unseres ganzen heutigen Seins.«[8] Dem steht aber wieder die vom Surrealismus erlernte Beobachtung entgegen, dass gerade diese alten drapierten Dinge auf uns wirken.
Andererseits: Im Veralteten arbeiten die Energien weiter, und die sich zersetzenden Bedeutungen könnten vielleicht gegen die bürgerliche Welt gerichtet werden. Letztlich setzt sich aber sein kritisches, auch aus der Lage der Zeit heraus geprägtes Geschichtsbild durch, das den Umschlag von einer durch Traumbefangenheit bestimmten Wahrnehmung in die nüchterne Helle des Bewusstseins wohl theoretisch, nicht aber ästhetisch nachvollziehen kann.
Zyklische Traumzeit. Der Einbruch des Traumes in die Realität
Der Traum hat die besondere Eigenschaft, das Gewesene, die Vergangenheit so zu wiederholen, als ob sie uns zustoßen würden. Dies ist keineswegs als bloße Metapher zu verstehen, sondern als Durchgangsstadium im Sinne einer Naturgeschichte: »Und doch heißt Träume erzählen nichts anderes. Und nicht anders kann man von den Passagen handeln, Architekturen, in denen wir traumhaft das Leben unserer Eltern, Großeltern nochmals leben wie der Embryo in der Mutter das Leben der Tiere.«[9] Die Passage ist ein geschichtsphilosophisches Zeichen, das aufgrund seiner nicht existenten Außenseite einer Monade gleicht, die fensterlos ist und nur einen Einblick, hingegen keinen Ausblick erlaubt - darin gleicht sie dem Traum, auch verbinden sich in ihr alle Dinge.
Der Traum selbst ist das Medium, durch das die Vorstellung einer zyklischen Struktur von Geschichte, in welcher die Gegenwart die Rolle der Erlöserin einer auf sie bezogenen Vergangenheit einnimmt, ins Bewusstsein eintritt. Benjamin verwendet in diesem Zusammenhang auch den Begriff der Rettung, der durchaus theologische Züge der jüdischen Religion aufweist. Es geht um die Rede vom Echo einer verstummten Vergangenheit, das in der Gegenwart wieder hörbar zu machen ist, und um die Bergung der im Bruch mit dem bisherigen Geschichtsverlauf verschütteten Elemente der Tradition.
Der Traum ist a) ein historisches und b) ein kollektives Phänomen.[10] Neben Mode und Technik ist es vor allem die Architektur, die eine paradigmatische Rolle ausübt. Alle Kollektivarchitektur des 19. Jahrhunderts stellt das Haus des träumenden Kollektivs.[11] Das Traumhaus, von dem bereits in der letzten Folge die Rede war, ist seinem Charakter nach ebenfalls eine Passagezone, die das Gehäuse für Illusionsräume darstellt, in dem der mühelose Übergang in alle Zeiten, zu verschiedensten Stilen und Epochen wie der Gotik oder der Renaissance möglich ist.
Das Traumhaus kann aber auch ein Erscheinungsort der Gespenster sein und den Übergang in eine andere Welt, vor allem jene der Toten und Ahnen, ermöglichen. Das Traumhaus stellt durch den Effekt der Maskerade, der Maske die Verbindung zur Vergangenheit her. Erst daraus kann die tiefe Erkenntnis erwachsen, dass das Neue keineswegs als erstmalig und einmalig zu begreifen ist, sondern längst in der Form des Alten, der »traumgestalten Vorformen« aufgefasst wurde, so wie »die ersten Fabriken sich an die überkommene Form des Wohnhauses klammern, die ersten Autokarosserien Karossen nachbilden«[12] und die Passage schon als Tempel, als Kirchenschiff erschienen ist.Im Traum gelten auch andere Zeitverhältnisse einer endlosen, nicht ablaufenden, zyklischen Zeit, die im Gegensatz zur linearen homogenen und historischen Zeit steht, die erst beim Erwachen ins Bewusstsein eintritt. »Das träumende Kollektiv kennt keine Geschichte. Ihm fließt der Verlauf des Geschehens als immer Nämliches und immer Neuestes dahin. Die Sensation des Neuesten, Modernsten ist nämlich ebenso sehr Traumform des Geschehens als die ewige Wiederkehr alles Gleichen. Die Raumwahrnehmung, die dieser Zeitwahrnehmung entspricht, ist die Durchdringungs- und Überdeckungstransparenz der Welt des Flaneurs.« [13]
Hier findet sich wieder der Anschluss an die alte Passage, die – im Gegensatz zur Neueröffneten – Zeugnis gibt vom Verfall der bürgerlichen Welt, indem sie durch die Ansammlung grotesk veralteter Waren die Auflösung alter Ordnungen durch die surreale Vermischung der Dinge exemplifiziert. »Organische und anorganische Welt, niedrige Notdurft und frecher Luxus gehen die widersprechendste Verbindung ein, die Ware hängt und schiebt so hemmungslos durcheinander wie Bilder aus den wirresten Träumen«[14] »(...) Ferngläser und Blumensamen, Schrauben und Noten, Schminke und ausgestopfte Ottern, Pelze, Revolver.«[15]«(...) Welt von besonders geheimen Affinitäten: Palme und Staubwedel, Föhnapparat und die Venus von Milo, Champagnerflaschen, Prothesen und Briefsteller«. [16]
Die Passage als Chronotopos. Erwachen, Erinnerung, Rettung
Was ist aber der zugrundeliegende Sinn dieser surrealen Operation einer Lektüre der Objekte, was lässt sich aus der zufälligen Anordnung dieser Gegenstände in einer alten Passage erkennen? Es ist die Ungleichzeitigkeit der Herkunft der Dinge, die hier aufeinander treffen, aber eben kraft des gemeinsamen Ortes die merkwürdige Asynchronie zur Darstellung bringen können. Die Großstadt ist Gedächtnis- und Bildraum von sich überlagernden Zeitzeichen, die erst aufgrund einer am Surrealismus geschulten Wahrnehmung erkennbar werden. Der Abfallhaufen der wertlosen Symbole, der vergangenen Moden und Ideologien bildet ein Szenario, das den Zusammenhang von Kultur und Tradition neu formuliert und mit den Fragmenten der Identität die Geschichte der bürgerlichen Welt neu beleuchtet. Auch hier spielt der Traum keine geringe Rolle, weil nach Benjamin der Surrealismus in Paris »in Gestalt einer inspirierenden Traumwelle über seinen Stifter hereinbrach.«[17]
Er operiert in diesem Zusammenhang mit zahlreichen Begriffen wie dem der Rettung, des dialektischen Bildes, des Traumes und des Erwachens, der Erinnerung, um sich diesem prinzipiellen Sachverhalt in zahlreichen Aufsätzen anzunähern. Ein Begriff, der diese geschichtliche Erkenntnisform umreißt, ist der des dialektischen Bildes: »Das dialektische Bild ist ein aufblitzendes. So, als ein im Jetzt der Erkennbarkeit aufblitzendes Bild, ist das Gewesene festzuhalten. Die Rettung, die dergestalt – und nur dergestalt – vollzogen wird, läßt immer nur an dem im nächsten Augenblick schon unrettbar Verlornen (sich) vollziehen.«[18] Dieser aufblitzende Moment eines Jetzt, das den unaufhörlichen Fluss der Geschichte stoppt, schafft den rettenden Ort: »Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit füllt, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet.«[19]
Er meint auch, das dialektische Bild sei »der in der materialistischen Geschichtsschreibung konstruierte Gegenstand selber«[^20], der sich vom Schema der Progression in eine leere und homogene Zeit freigemacht hat, um nicht – wie leider die Geschichte aus heutiger Sicht gezeigt und Benjamin immer schon befürchtet hat – die destruktiven Energien des historischen Materialismus auszulösen. Entscheidend ist es, »die Bewegung der Gedanken«[20] zum Stillstand zu bringen. Dies ist der Punkt, an dem die Geschichte als Monade erscheint, das weitaus mehr als ein subjektives Bild bedeutet, sondern »objektive Kristallisationen der geschichtlichen Bewegung«[21] enthält.
Durch diese Komprimierung wird ein Ausdruck der geschichtlichen Bewegung erzeugt, der die Notwendigkeit der Erlösung aktualisiert und zugleich das Erscheinen des Messias bewirkt: »Der historische Materialist geht an das Vergangene nur da heran, wo es ihm als Monade entgegentritt. In dieser Struktur erkennt er das Zeichen einer messianischen Stillstellung des Geschehens; »anders gesagt einer revolutionären Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit.«[22] In der Monade verdichtet sich die Vergangenheit zum Augenblick. Diese Zeitform der Monade, die den Fluss der Zeit überschreiten kann, indem sie die Zeit zum Stillstehen bringt, bedarf eines Ortes, der dieses Moment der Rettung zum Ausdruck bringt. Diese Verräumlichung der Zeit, dieses Stillstehen der Zeit an einem bestimmten Ort, der für Benjamin paradigmatisch durch die Passage gegeben ist, ist Ausgangspunkt der Rettung. Es ist eine ganz außerordentliche Zeit, nicht homogen, auch nicht zyklisch, sondern komprimiert wie in der Monade.
Das Bild der Vergangenheit, das die Rettung enthält, ist seiner weiteren Bedeutung nach ein Erinnerungsbild. »Es ähnelt den Bildern der eigenen Vergangenheit, die den Menschen im Augenblick der Gefahr antreten. Diese ‚Bilder kommen, wie man weiß, unwillkürlich«[23]. Die unwillkürliche Erinnerung ist die Erinnerungsform der rettenden Erfahrung. Die Erinnerung bewahrt etwas auf, das noch nicht stattgefunden hat und das ständig davon bedroht ist, im destruktiven Gang der Geschichte zu verschwinden. Dabei handelt es sich um eine besondere Form der Geschichte, »die nicht alleine eine Wissenschaft, sondern nicht minder eine Form des Eingedenkens ist. Was die Wissenschaft festgestellt hat, kann das Eingedenken modifizieren. Das Eingedenken kann das Unabgeschlossene (das Glück) zu einem Abgeschlossenen machen und das Abgeschlossene (das Leid) zu einem Unabgeschlossenen machen. Das ist Theologie; aber im Eingedenken machen wir eine Erfahrung, die uns verbietet, die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wir sie in unmittelbar theologischen Begriffen zu schreiben versuchen dürfen.«[24] Die grundsätzlichste Aufgabe einer Geschichtsschreibung wäre das Eingedenken, eine Form der Empathie, die weit über das bloße Erinnern hinausreicht und das von der Wissenschaft Festgestellte modifiziert, indem sie die Reparatur des vergangenen Unrechts einklagt, eine Forderung, die in der Theologie nur mit dem Jüngsten Gericht und der Auferstehung des Fleisches gedacht werden kann.
Angelus Novus. Der Engel der Geschichte
Im Jahre 1939, ein Jahr vor seinem Tod auf der Flucht vor den in Frankreich nachrückenden deutschen Truppen, verfasste er, tief deprimiert aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes, die Geschichtsthesen, die in jener berühmten 9. These des Angelus Novus kulminieren.
»Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene wieder zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradies her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen zum Himmel wächst. Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«[25] Dieser geradezu prophetisch wirkende Text rührt aus der Tradition der jüdischen Mystik, die von Menachem Scholem, einem Freund Walter Benjamins, als die Welt des tikkun beschrieben wird. Das Verweilen, das Wecken der Toten und das Zusammenfügen des Zerschlagenen bedeutet demnach »nichts anderes als die Wiederherstellung des Ganzen«[26] und entspricht damit einer archaischen Gedankenfigur der Erlösung. Das Erscheinen des Messias ist jenes Siegel, das auf den Abschluss dieses Prozesses der Wiederherstellung, tikkun gesetzt wird. Wenn jedes Ding an seinen Ort gesetzt sein wird und der Makel von allen Dingen ausgebessert sein wird, so bedeutet dies die Erlösung. Nun gilt diese jüdisch-theologische Vorstellung für das Auftreten des Messias, bei Benjamin aber kommt jeder Generation die messianische Aufgabe des tikkun zu. Es gibt geheimnisvolle Beziehungen zur Vergangenheit »Streift denn nicht um uns selber ein Hauch der Luft, die um die früheren gewesen ist? Ist nicht in Stimmen, denen wir unser Ohr schenken, ein Echo von nun verstummten? Haben die Frauen, die wir umwerben, nicht Schwestern, die sie nicht mehr gekannt haben? Ist dem so, dann besteht eine Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem. Dann sind wir auf der Erde erwartet worden. Dann ist uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat. Billig ist dieser Anspruch nicht abzufertigen.«[27] Der Flaneur weiß um dieses Geheimnis: »sie (die Straße) leitet ihn durch eine entschwundene Zeit. Er schlendert die Straße entlang; ihm ist eine jede abschüssig. Sie führt hinab, wenn nicht zu den Müttern, so doch in eine Vergangenheit, die umso tiefer sein kann, als sie nicht seine eigene, private ist. Dennoch bleibt sie immer Vergangenheit einer Jugend ... Bei dieser Melodie erkennt er wieder, was um ihn ist; nicht als Vergangenheit aus der eigenen, der letzten Jugend, sondern eine vordem gelebte Kindheit spricht ihn an, und es gilt ihm gleich: ist es die eines Ahnen, ist es die eigene«[28]
Wir haben hier die äußerste Dehnung der Passage erreicht, indem sie einen phantasmagorischen Raum bildet, der durch die Vorstellung des Zutritts zu der Welt der Ahnen zumindest einen Moment lang die Idee einer unbeschreiblichen Versöhnung und Aufhebung aller nichterfüllten, auch eigenen Wünsche ermöglicht. Dieser seltene Augenblick äußerster Gewissheit des eigenen Heils, das nur durch die Versöhnung mit den Taten der Alten und einer Imagination des wiederhergestellten Glückes der früheren Geschlechter möglich ist, ist seit jeher in zahlreichen Strömungen des jüdischen, gnostisch inspirierten Glaubensguts verankert. Die hier überraschend manifest werdende, zwischen negativer Theologie und tiefer Religiosität schwankende Position des marxistischen Denkers Benjamin macht verständlich, dass er zu den Vorformen der Passage auch schon den Tempel gezählt hat.
Die Moderne. Ära der hybriden Übergänge
Benjamin war immer Skeptiker der Ansicht, dass Entzauberung Fortschritt bedeutet. Die Moderne ist für ihn eher Entleerung, die von der Herrschaft der Ware, der Reklame abgelöst wird, sie bewirkt, »dass das Gesicht der Welt gerade in dem, was das Neueste ist, sich nie verändert, dass dies in allen Stücken das Nämliche bleibt«[29], vergleichbar dem modernen Journalismus, der durch »die Neuheit und die sie chockartig befallende Entwertung«[30] charakterisiert ist. Aber die Moderne ist unaufhaltbar. Durch die Industrialisierung werden die frühen Eisenkonstruktionen der Passage aus ihren traumverhafteten Bekleidungen gelöst und verwandeln sich durch die Verwendung von Eisen und Stahl zu Großanlagen des Verkehrs. Das Sichtbarwerden der Konstruktion ist Zeichen der geschichtlichen Veränderung der Raumerfahrung und einer neuen Wahrnehmungsform, die das Bewusstsein aus der Traumsphäre reißt und in einen Raum neuer Helligkeit zieht. »Die rauschhafte Durchdringung von Straße und Wohnung, die sich im Paris des 19. Jahrhunderts vollzieht – und zumal in der Erfahrung des flaneurs –, hat prophetischen Wert. Denn diese Durchdringung läßt die neue Baukunst nüchterne Wirklichkeit werden. So macht Giedion bei Gelegenheit darauf aufmerksam: Ein Detail einer anonymen Ingenieursgestaltung: Bahnübergang wird Architekturmitglied (nämlich an einer Villa)«[31]. Die Passage ist daher auch ein prophetisches Zeichen, das die Zukunft des kommenden Jahrhunderts vorausahnte; ihre Form war versteckter Ausdruck, der durch die Hegemonie der Konstruktion enthüllt wurde. Nun kommt die Zeit neuer hybrider Übergänge, die den kulturellen Ausdruck der Ware durch die Auseinandersetzung des Alten mit dem Neuen prägen wird. Diese Einschätzung lässt sich auch auf die Gegenwart übertragen.
Fußnoten
Rolf Tiedemann, Vorwort zu Band V, in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Band V/1. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991, S. 11 ↩︎
Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Band III, S. 145 ↩︎
Benjamin, Band IV/1, S. 296 ↩︎
Benjamin, Band V/2, S. 993 ↩︎
Siehe das Zitat in dérive Nr. 18, S. 36 ↩︎
Benjamin, Band V/2, S. 1041 ↩︎
Benjamin, Band II/1, S. 620 ↩︎
Sigfried Giedion, Bauen in Frankreich – Bauen in Eisenbeton, Berlin 1928 ↩︎
Benjamin, Band V/1, S. 161 ↩︎
Benjamin, Band V/2, S. 1214 ↩︎
Benjamin, Band V/2. S. 1012 ↩︎
Benjamin, Band V/1, S. 110 ↩︎
Benjamin, Band V/2, S. 678 ↩︎
Benjamin, Band V/2, S. 993 ↩︎
Benjamin, Band V/2, S. 994 ↩︎
Benjamin, Band V/2, S. 1045 ↩︎
Benjamin, Band II/1, S. 296 ↩︎
Benjamin, Band V/1, S. 592 ↩︎
Benjamin, Band I/2, S. 701 [^20] Benjamin, Band V/1, S. 592 ↩︎
Benjamin, Band I/2, S. 702 ↩︎
Theodor W. Adorno, Über Walter Benjamin, Frankfurt/Main 1970, S. 22 ↩︎
Benjamin, Band I/3, S. 1251 ↩︎
Benjamin, Band I/3, S. 1243 ↩︎
Benjamin, Band V/1, S. 589 ↩︎
Benjamin, Band I/2, S. 697 ↩︎
Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt/Main 1967, S. 294 ↩︎
Benjamin, Band I/2, S. 693 ↩︎
Benjamin, Band V/2, S 1052 ↩︎
Benjamin, Band V/2, S. 676 ↩︎
Benjamin, Band V/2, S. 695 ↩︎
Benjamin, Band V/1, S. 534 ↩︎
Manfred Russo ist Kultursoziologe und Stadtforscher in Wien.