» Texte / Tlatelolco: Wohnblocks, Ruinen und Massaker

Georg Oswald


Der Stadtteil Tlatelolco ist ein Ort, der die Widersprüche Mexikos vereint, sagt eine Stimme im gleichnamigen Dokumentarfilm der österreichischen Filmemacherin Lotte Schreiber. Und tatsächlich überlappen sich an diesem Ort unweit des Stadtzentrums von Mexico City viele Ereignisse. Als Platz der drei Kulturen, der aztekischen, der spanischen Eroberung und der modernen Plattenbauten, wird dieses Gebiet von der offiziellen Geschichtsbetrachtung euphemistisch bedacht, als ob das eine die unabdingbare Folge des anderen wäre.
Sichtbar ist heute vor allem der Impetus des mexikanischen Architekten Mario Pani, der 1934 nach seinem Studium in Frankreich mit der Idee einer »vertikalen Stadt« nach Mexiko zurückkehrte und sich in den 1960er Jahren an das Wohnprojekt Tlatelolco-Nonoalco machte. Ein Architekturprojekt, das den wirtschaftlichen Aufschwung des Landes symbolisierte und das durch gezielte Förderungen der ärmsten Bevölkerungsschichten auf eine soziale Durchmischung abzielte, wie uns eine Stimme im Film erklärt. Dieses Vorhaben sei aber daran gescheitert, dass die angesprochenen wohlhabenden Klassen, die sich finanziell überproportional beteiligen sollten, einfach ausblieben. Luis Ramos Cunningham, der als Zeichner an Panis Projekten mitarbeitete, erinnert sich im Film an diese bewegten Zeiten. Zu Beginn, in den 1960ern, sei die Bevölkerung in ihrem Wohnblock recht homogen gewesen, so die Bewohnerin Ana Edít Béjar Reséndiz, die Wohnungen seien an EisenbahnarbeiterInnen vergeben worden und alle hätten mehr oder weniger dasselbe Einkommen gehabt. Erst mit dem Erdbeben 1985 habe sich das geändert.
Ein Erdbeben der anderen Art, ein politisches, fand kurz vor den Olympischen Spielen 1968 statt, als die Polizei begann, auf die protestierenden StudentInnen und das Militär zu schießen. Bis heute weiß man nicht, wie viele Menschen genau dabei ums Leben kamen. In den Schulbüchern steht darüber nichts, nur wenige Verantwortliche aus dieser Zeit sind überhaupt noch am Leben. Dem damaligen Innenminister und späteren Präsidenten Luis Echeverría machte man vor einigen Jahren als Hauptverantwortlichem den Prozess. Herausgekommen ist dabei letztlich nichts, auch wenn man noch nie in der jüngeren Geschichte des Landes einem Expräsidenten juristisch so nahe gerückt ist.
Lotte Schreiber zieht in ihrem behutsamen Film die Konturen dieses Stadtviertels nach. Sie zeigt Menschen in der Aneignung ihrer Wohnflächen und lässt diejenigen zu Wort kommen, die den Großteil ihres Lebens in dieser Umgebung verbracht haben. Die langen Kameraeinstellungen fordern zum genauen Hinsehen heraus. Und der Fokus auf ihre Gesprächspartner lässt mitunter in den Hintergrund treten, dass hier 70.000 Menschen auf 1.200.000 Quadratmetern in 15.000 Wohnungen zusammenleben. Der Film ist für alle, die sich mit der Stadtgeschichte Mexico Citys auseinandersetzen, ein Muss.


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