Kurt Handlbauer

Kurt Handlbauer studierte Architektur an der TU-Wien mit Studienaufenthalten in Tokio.


Das Bild ist einprägsam. Ein einfaches und schmuckloses Haus, mit praktikabler Raumausnutzung auf kleinster Fläche, eines von vielen im Häusermeer Tokios. Die in gutem Zustand befindlichen Tatamimatten fliegen in weitem Bogen durch die Fensteröffnung im ersten Stock auf die Ladefläche eines davor stehenden Kleintransporters. Einen Schwenk weiter sieht man, wie Versatzstücke französischer Lebensart aus einem Minivan wandern und vorsichtig in das Hausinnere befördert werden. Spitzenvorhänge, weiß lackierte Holzmöbel, gusseiserne Kandelaber, Blumenvasen, begleitet vom strahlenden Glück des im Eingang stehenden Paares.

Allsonntäglich werden auf dem japanischen Fernsehsender TV ASAHI solche und ähnliche Lifestyletransformationen publikumstauglich aufbereitet. Der klare vorhernachher Vergleich macht den Wandel ablesbar, genauso wie die dokumentierte Zufriedenheit der BewohnerInnen. Ausgangspunkt dieser Verwandlungen bilden immer neutrale Hüllen, die zwar Elemente des traditionellen japanischen Hauses beinhalten, allerdings bereits in abgeschwächter Form. Bis auf wenige Ausnahmen, in denen tiefgreifende Einschnitte in die bauliche Struktur getätigt werden, steht dabei immer die atmosphärische Neuausrichtung im Vordergrund. Die traditionelle Flexibilität der funktionellen Programmierung des Tatamibodens, welcher mit wenigen mobilen Gegenständen (Futon, Tisch mit Sitzmatten, ...) dem Tagesrhythmus angepasst wird und so über die räumliche Beengtheit hinweghilft, wird zugunsten einer statischen Wohnkulisse aufgegeben. Diese wird den eigenen Vorlieben nach konfiguriert, die Authentizität des Stils ist dabei nebensächlich, die konsequente Darstellung des Gewählten rückt in den Vordergrund. Wäre nun auch der Einwand berechtigt, der Trend, immaterielle Wertigkeiten des Wohnens in den Vordergrund zu rücken, sei eine weltweit praktizierte sichtbare Strategie, so zeigt gerade der Blick auf die japanischen Beispiele, wie sehr Aspekte der Inszenierung und Thematisierung abseits des Privaten auch auf höherer, städtebaulicher Ebene ihre Anwendung finden und neuerdings als Motor für urbane Entwicklungen und Reparaturen städtischer Problemzonen dienen.

Tokio – ein verdichtetes Dorf

Tokios urbane Landschaft zeichnet sich durch ihre kleinteilige Besitzstruktur aus, basierend auf einer historisch bedingten Parzellenaufteilung. Wird dieses Konzept heute auch bereits durch genossenschaftlich organisierte Wohnformen und großflächige, vertikal orientierte Investorenprojekte verschiedenster Funktionen aufgeweicht, so dominiert diese Struktur trotzdem noch immer das Stadtbild. Gruppiert um innerstädtische Bahnhöfe und U-Bahnen verdichten sich die baulichen Elemente, bevor sich diese wieder konzentrisch in das schier unendlich ausufernde Häusermeer verdünnen. Urbanität im westlichen Sinne ist nicht vorhanden, vielmehr handelt es sich um Strukturen, die vor allem in den Wohnzonen bis auf den höheren Dichtegrad von ländlichen Siedlungsformen nicht zu unterscheiden sind. Landwirtschaftlich genutzte Restflächen innerhalb Tokios und die nur schwammige Begriffsunterscheidung zwischen städtischer und ländlicher Siedlungsform in der japanischen Sprache bestätigen diese These und deuten auf das Fehlen einer eigens entwickelten urbanen Typologie hin. (Der japanische Begriff machi bezeichnet den Heimatort, den Herkunftsort, enthält aber keinen Hinweis, ob es sich dabei um eine städtische oder ländlich geprägte Struktur handelt.)

Lifestyledesign

Diese Gleichförmigkeit der Stadtstruktur hat auch dazu geführt, dass sich aufgrund des vorherrschenden Rasters die soziale Struktur der Gesellschaft nicht adäquat in der Größenausprägung der zugeordneten Gebäude abgebildet hat. Die zwar wandlungsfähige, aber aufgrund ihrer funktionalen Ausprägung eher neutral, bescheiden anmutende Typologie des traditionellen japanischen Hauses war nur sehr schwer für Repräsentationszwecke einzusetzen. Aus diesem Grund hat man daher bereits sehr früh nach Zeichen gesucht (Kleidung, Freizeitrituale,...), welche die gesellschaftliche Position nach außen hin dokumentieren.
Mittlerweile ist Lifestyledesign ein nicht mehr zu übersehender Aspekt im Stadtgefüge Tokios. Man bedient sich aus dem breiten Regal des Angebotes und konfiguriert eine den persönlichen Vorlieben entsprechende »Eigenmarke«. Die ideologische, inhaltliche Übereinstimmung mit dem Gewählten ist nebensächlich, die konsequente Nachahmung des Vorbildes steht im Vordergrund. Der sonntägliche Punk im Yoyogi Park, wochentags ein systemkonformer Salaryman, erscheint von den äußeren Codierungen her perfekter als jener ideologisch geprägte, britische Punk der 80er Jahre. Sein Erscheinungsbild wird aus dem inhaltlichen Zusammenhang herausgelöst und perfekt inszeniert zur Schau getragen. Der Stil wird zur austauschbaren Ware. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, neuerdings auf Straßenzüge zu stoßen, welche sämtliche europäischen Baustile als Produkt verknappter Reiseerinnerungen auf engstem Raum vereinen. Auch das eingangs erwähnte Beispiel baut auf diesem Ansatz auf. Die bisher als neutral geltende private Wohnumgebung wird ganz eindeutig inhaltlich codiert und trägt somit nicht unwesentlich zur gesellschaftlichen Statusbildung der BewohnerInnen bei. Die französische Stilisierung dient dabei als Versatzstück für einen kosmopolitischen, hedonistisch geprägten Lebensstil. Die räumliche Qualität spielt nur eine untergeordnete Rolle.

Identitätsmanagement

Auch die städtische Zonierung Tokios baut auf diesen Lifestyleprägungen auf. In den von offizieller Seite erstellten Entwicklungsszenarien der Subzentren Tokios werden diese immateriellen Aspekte auch ganz klar als Planungsrichtlinien verankert, um den jeweiligen Regionen spezifische Identitäten zuzuordnen und einen inhaltlichen Leitfaden für private Investorentätigkeit zu bieten. Da ein Großteil dieser Identitäten über die Ebene des Shoppings transportiert wird, entstehen dadurch unscharf abgegrenzte »gated communities«, die zwar durchlässig sind, aber sich auch ganz klar über ihren »Eintrittspreis« voneinander abgrenzen. Der urbane Motor des schicken Stadtteiles Omotesando mit den zahlreichen Mode- und Designboutiquen wird genauso wie der im weniger attraktiven Ikebukuro mit seinen japantypischen Warenhäusern von Shopping angetrieben.
Die von Yoshiharu Tsukamoto vom Büro »Atelier Bow-Wow« initiierte Untersuchung im Rahmen des Forschungsprojektes »Tokyo Subdivision Files« verdeutlicht diesen Aspekt der inhaltlichen Prägung der einzelnen Gebiete. Die bewusst austauschbaren, neutralen baulichen Hüllen in Tokios Landschaft werden mit spezifischen Inhalten und den daraus resultierenden Verhaltensmustern belegt. Die AkteurInnen dieser »Bühnen« rekrutieren sich aus der Überschneidungsmenge jener Personen, welche über eine gewisse Codierung aktiviert werden können. Aspekte einer möglichen Gemeinschaftsbildung sind dabei jedoch ein vernachlässigbarer Aspekt. Vielmehr steht die Maximierung der Personenanzahl im Vordergrund, die sich im jeweiligen Gebiet an der Ware Stadt delektieren soll. Das individuelle Stadtlayout (Wohnen, Freizeit, Arbeit) setzt sich genau nach diesem Muster aus der Benutzung mehrerer Subzentren zusammen, bei deren Wahl ökonomische und lifestyleorientierte Überlegungen eine maßgebliche Rolle spielen. Die »StadtbenutzerInnen« definieren ihre Positionierung innerhalb Tokios über das Zusammenspiel dieser drei Bereiche, wobei die mit den einzelnen Stadtteilen mitschwingenden Konnotationen nicht unwesentlich zur gesellschaftlichen Einordnung des oder der Einzelnen benutzt werden.

Fertig programmierte »Servicepackages«

Da allerdings der räumliche Transfer zwischen diesen drei Lebensbereichen aufgrund der flächenmäßigen Ausdehnung Tokios einen nicht unwesentlichen Zeitaufwand beansprucht, und da die öffentlichen Verkehrsmittel aufgrund der zunehmenden funktionalen Entmischung des Stadtgefüges an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen, werden im Moment Strategien entwickelt, diese Dreiteilung aufzuheben und an spezifischen Orten innerhalb der Stadt Arbeit, Wohnen und Freizeit als Einheit zu thematisieren. Vor allem in den vier Hauptbezirken Tokios (Chiyoda, Chuo, Minato, Shinjuku) wird diese Strategie, welche von den großen Bauträgerfirmen (Mori Building Co., Kajima Corporation, ...) vorangetrieben wird, zunehmend sichtbar. Die vier Bezirke, von ihrer Ausdehnung vergleichbar mit Manhattan, fassen eine Tagesbevölkerung von drei Millionen Menschen. Dem gegenüber steht eine Nachtbevölkerung von nur 500.000 Personen. Um dieses Ungleichgewicht zu entschärfen, wird daher zunehmend versucht, durch nachträgliche Verdichtung Wohnbevölkerung in die Businessbereiche zu bringen und somit eine Entlastung der Verkehrsinfrastrukturnetze zu begünstigen. All diese Projekte sind aufgrund der Schwierigkeit, Land zu erwerben, vornehmlich vertikal orientiert und unterscheiden sich deutlich von den »dörflich« anmutenden traditionellen Strukturen. Spezifische Serviceangebote, abgestimmt auf einen business-orientierten Lebensstil, vornehmlich der Rekreation dienend, stellen die inhaltliche Programmierung dar. Nach außen hin wird diese Identität zumeist über einen wohlklingenden Namen vermittelt (Atago Green Hills, Palacio Tower, Lions City, ...), der im Land der Visitenkarten austauschenden JapanerInnen wiederum zur Positionierung im gesellschaftlichen Gefüge benutzt wird. Die gezielte Bewerbung der einzelnen Projekte über Fernsehreportagen mit Homestories und Plakatwerbungen im öffentlichen Raum dient dabei weniger der Steigerung der Auslastung als vielmehr der Wertsteigerung der angebotenen »Marke«. Die Möglichkeit, durch die Kombination von Wohn- und Freizeiteinrichtungen mit unmittelbar angrenzenden Arbeitsstätten, neuartige Lebensentwürfe zu erproben, wird allerdings nicht genutzt. Viel mehr nähren all diese Projekte ein neokonservatives Rollenbild, welches das mögliche Potential von gemeinschaftlichen Organisationsformen vollständig negiert und für Lebensformen abseits der vorherrschenden Norm keinen Platz bietet.

Atago Green Hills, Roppongi Hills – importierte Urbanität

Als Musterbeispiel dient das von Mori Building jüngst fertiggestellte Projekt Atago Green Hills in Minatoku. In unmittelbarer Nähe zu den Finanzzentren Tokios steht dabei die Vermittlung eines urbanen Lebensgefühles im Vordergrund. Die Sehnsucht in Tokio im Gegensatz zu europäischen Städten geht weniger nach ländlicher Atmosphäre in der Stadt als vielmehr nach urbanen Strukturen, und seien es auch nur Pseudostrukturen. Das bereits erwähnte Fehlen einer eigenen urbanen Typologie lenkt die Aufmerksamkeit vermehrt auf europäische und amerikanische Vorbilder und kopiert diese, aus dem Kontext gerissen, in das Gefüge Tokios. Vertikale Organisationsformen werden dabei gemeinhin als urban angesehen, deswegen ergänzt der Zwang, aufgrund der knapp vorhandenen Grundstücke in die Höhe zu bauen, diese Erwartung perfekt. Das eigentliche Wohnumfeld, wie im Falle von Atago Green Hills, ist dabei hauptsächlich auf Funktionen beschränkt, die den Lebensrhythmus der fast standardisierten Abläufe der einzelnen BewohnerInnen ergänzen sollen. Als Simulation eines urbanen Gefüges werden sämtliche Funktionen, welche sonst nur sehr mühsam im Dschungel der Stadt lokalisiert werden müssten, in normierter Form angeboten. Fitnesscenter, panoramaverglaste Schwimmhalle, Dachpromenade, Restaurantarkade, Beautysalon, all diese Versatzstücke bedienen die Vorstellung vom luxuriösen, urbanen Ambiente. Die eigentliche Wohnung kann wiederum aus verschiedenen perfekt inszenierten Stilvariationen gewählt werden, die räumliche Konfiguration ist bei näherer Betrachtung hingegen meist enttäuschend. Das Bildhafte gewinnt Oberhand gegenüber der authentischen Erfahrung.
Das bisher größte Projekt, welches ebenfalls nach diesen Gesichtspunkten entwickelt wird, befindet sich in Tokios internationalem Bezirk Roppongi und steht knapp vor der Fertigstellung. Roppongi Hills, ebenfalls von Mori Building entwickelt, wurde 1998 nach 20 Jahre dauernden Grundablöseverhandlungen in Angriff genommen. Zusätzlich mit Kulturangeboten gespickt (MOMA Expositur, Theater, Kino, TV Asahi, ...) soll dieses Projekt mit den »markenhaft« entwickelten Wohn- und Bürotürmen dereinst auch einen Beitrag für den gesamten angrenzenden Bereich leisten. Mögen durch die geschilderten Projekte innerstädtische Transportprobleme auch entschärft werden und Konzepte einer vertikalen Stadt – immerhin sind sämtliche kommerzielle Funktionen in den hybriden Türmen zumeist öffentlich zugänglich – verwirklicht sein, so wird der Idee, das tokioeigene Selbstentwicklungspotential der kleinteiligen Strukturen zu nützen, eine klare Absage erteilt.

Hillside Terrace – ein Gegenbeispiel

Das von Fumihiko Maki entwickelte Hillside-Terrace Projekt in Tokios Stadtteil Daikan-yama dient in diesem Zusammenhang als Gegenbeispiel für den Versuch, mit thematisch ausgerichteten Implantationen Stadtentwicklung zu betreiben. Das Projekt wurde bereits 1969 gestartet und über einen Zeitraum von fast 30 Jahren ständig weiterentwickelt. Die ursprünglich unattraktive Vorstadtgegend, wenn auch durch die leicht erhöhte Lage bevorzugt situiert, wurde durch »homöopathische« Dosen an baulichen Eingriffen, welche allesamt auf die vorherrschende kleinteilige Struktur aufbauten, zu einer im Moment wohl am attraktivsten erscheinenden Gegend Tokios konvertiert. Der bauliche Mix an Galerien, Apartmenthäusern und Büros, allesamt durch die zurückhaltende Formensprache als zusammengehörig erkennbar, stellte mit seiner bewusst von internationaler Modernität geprägten Atmosphäre die Initialzündung für die Entwicklung der bis dahin schlummernden Nachbarbebauung dar. Aufbauend auf die kleinteilige Struktur entwickelte sich eine Unzahl von mode- und designorientierten Boutiquen mit dazugehöriger Gastronomie. Mittlerweile ist bereits ein Großteil der internationalen Modelabels in Daikanyama ansässig, um sich die aufstrebende Entwicklung dieses Stadtteiles zunutze zu machen.

Sämtliche Strukturen von Hillside-Terrace unterliegen im Gegensatz zu den geschilderten großmaßstäblichen Investorenprojekten aufgrund der Kleinteiligkeit einer hohen programmatischen Flexibilität, das Gesicht Daikanyamas wandelt sich ständig. Die Bauten Makis dienen als Trademark des Ortes, sie funktionieren darüber hinaus auch noch sehr gut. Die städtische Energie geht allerdings in hohem Maße bereits vom »aktivierten« Umfeld aus. Der stetige wirtschaftliche Abschwung führt den Investoren auch bereits die Trägheit der vertikalen Großstrukturen vor Augen und lässt an Projekten wie Atago Green Hills oder Roppongi Hills Zweifel aufkeimen. Man darf gespannt sein, wie die weitere Entwicklung im Speziellen vorangeht, dass sie sich an Aspekten der Lifestylevermittlung orientiert, davon kann man wohl mit Sicherheit ausgehen.


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