Tina Hedwig Kaiser


Der Transitraum im Film ist nicht nur für urbane Landschaften prägend, sondern auch für rurale. Das war auf der diesjährigen Berlinale nur schwer zu übersehen. In den Bildern rund um Fahrt und Kamerafahrt stachen insbesondere die Beschleunigungsaufnahmen des Skifahrens und Autofahrens hervor. All dies ist natürlich mehr als die schlichte Kameraeinstellung auf den oder im Transit. Es sind Formen und Verweise auf eine kulturelle Entwicklung, die bis heute anhält und ein Verständnis von Leben und Erleben, manchmal auch nur vom halben Leben im Sinne des Freizeitdenkens, mehr oder weniger in Beschlag nimmt. Es geht dabei insbesondere um Tourismus, um Sensationskonsum, um die verzweifelte Suche nach Sicherheit im vermeintlich riskanten Leben. Um Mut und um Genuss und um Fahrtaufnahmen inmitten all dessen. Orientierungspunkt mag da oft nur die Straße sein, auch wenn manch einer sie gern zur Piste erklären würde.

Der Schweizer Nicolas Rey hat dabei den Transit der Bilder und Räume in seiner experimentellen Dokumentation Schuss! (Frankreich 2005 – Bild) äußerst eigenwillig zusammengeführt. Als Forumsbeitrag beschäftigte er sich mit einer vordergründig seltsam anmutenden Verbindungslinie aus Skisport, Aluminiumproduktion und Kino. Dass dies alles gar nicht soweit auseinander liegt, erklärt sich, wenn man über ihre gemeinsamen Stationen innerhalb der Industriegeschichte nachdenkt. Chemische Verbindungen jenseits von Holz waren in der Film- genauso wie in der Beschleunigungsindustrie wichtige Entwicklungspunkte. Touristische Attraktionen, wie auch der Wintersport, und Kino teilen sich dabei den zeitgleichen Beginn. Das Leben durfte zur gekauften Sensation werden, hie wie da überschlugen sich die konsumierbaren An- und Aussichten. Wenn schließlich noch eine Beschleunigung hinzukommt und somit zusätzlich ein körperliches Überwältigt-Sein eintritt, ist das vermeintlich höchste Ziel erreicht. Das Leben, intensiv und der Norm angepasst, wird wieder irgendwie fühlbar.

Sabus Panoramabeitrag Shisso/Dead Run (Japan 2006) zeigte da ein etwas anderes Landschaftsstück: eine japanische Am-Meer-Tristesse vorstädtischer Ortschaften, die nirgends so richtig hinzugehören scheinen. Hier ist das flache Land, nicht die grelle Skiabfahrt, sondern das monotone asiatische Feld bis hinunter zum Meer. Es ist eine andere Kameraeinstellung, eine gestauchte Perspektivaufnahme, die insbesondere während der Autofahrt zustande kommt. Die schicksalsträchtige Fahrt des jungen Shuji findet dabei im Wagen eines Gangsters entlang des schmalen betonierten Feldweges statt. In der hierbei enthaltenen Beschleunigung treffen Begehren und Distanzwahrung, Panik und Stille einer kindlichen Gefühlswelt aufeinander. Kopfüber wird dieser Moment Shuji auf ewig in Erinnerung bleiben und sein weiteres Leben prägen. Die Durchfahrtsicht in Richtung eines unendlichen Fluchtpunktes wird ihn dergestalt auf lange gefangen halten. Alle neuen Orientierungspunkte können diesem Erlebnis nur nachgeordnet sein. Am Rand der Städte (Deutschland 2006) von Aysun Bademsoy bildet dazu ein Gegenstück im Sinne der Beschreibungshoheit und -leistung von Fahrtaufnahmen hinsichtlich psychogeographischer Zustände. In ihrer auf dem Forum laufenden Dokumentation zeigt Bademsoy die vermeintliche Allzeit-Ferienidylle türkischer Pensionäre, die nach einem Arbeitsleben aus Deutschland heimgekehrt sind. Mit ihren Ersparnissen können sie sich nun in disneyartigen Wohnanlagen einkaufen und Sonne und Strand nahezu ohne Ende genießen. Viele dieser Siedlungen befinden sich am Rand der südtürkischen Küstenstadt Mersin und gestalten sich nach einem einheitlichen Prinzip: kreisförmige Wohnblocks fügen sich um eine Parklandschaft aus Swimming-Pools, Einkaufszentren, Restaurants und Vergnügungsstätten. Schrankenüberwachte Einfahrten, Portiers und Wachleute – Sicherheit und Ruhe für das schöne ruhige Leben. Eingefangen wird diese Zwischenwelt in Planfahrten entlang der unzähligen Wohnblöcke. Eine flache Wohnlandschaft tut sich hier auf und reiht sich in Serien aneinander. Kein Kontrast, keine Orientierungspunkte weit und breit, keine markante Stellen, die auch nur so und nicht anders sein wollen. Die flächige Fahrtansicht fächert sich dabei in dieser Aneinanderreihung auf, ohne an Tiefe zu gewinnen. Und das Ununterscheidbare der Räume und Architekturen findet in seiner Bewegungsaufnahme die perfekte Form: die leere Fläche als Ornamentik im Bau und am Bau gleichermaßen. Die seitlichen Fahrtaufnahmen machen dies doppelt sichtbar.

In Big River (Japan/USA 2005) von Funahashi Atsushi taucht dann letztlich auch endlich einmal wieder der amerikanische Highway auf. Weites, leeres, brütendes Wüstenland und eine endlose Fahrt, die keinen Anhaltspunkt findet, außer die drei im Wagen gestrandeten Reisenden: Fremde im Land und Fremde im eigenen Land treffen sich in einem befremdenden Autodispositiv. Eines, das die Kamera immer wieder zu integrieren vermag. Und die es anscheinend auch braucht. Zumindest in Transitraumbildern des Kinos: Aluminium ist ja nirgends weit.

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Berlinale
09. – 19. Februar 2006


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