Vanessa Müller


Der Flaneur hat kein Ziel und keine Linie, der er folgt. Er lernt sein Umfeld anders und neu lesen, denn er interessiert sich für das scheinbar Belanglose, das Alltägliche, für die übersehenen Abdrücke in der Textur der Stadt. Yuji Agematsu ist ein Chronist unserer Zeit, ein experimenteller Kartograph urbaner Gegenwart. Walter Benjamins Flaneur gleich, erkundet er die Straßen New Yorks, wo er seit über vierzig Jahren lebt, und widmet sich ihnen mit dem Blick des Sammlers. Aus dem achtlos Weggeworfenen und Abgelagerten destilliert er die materielle Historie des gerade erst Vergangenen, das Stadtgeschichte aus der Mikroperspektive erzählt.
        In der Secession sind Agematsus Archivalien des Jahres 2020 zu sehen: 365 Mikro-Skulpturen, die, aus den Relikten des Alltags gefertigt, stellvertretend für das New York während der Pandemiezeit stehen. Jeden Tag sammelt Agematsu auf seinen Spaziergängen am Boden Liegendes, das er in die Zellophanhülle einer Zigarettenschachtel legt. Diese dient als Behältnis, wird später aber auch zum Schaukasten im Miniaturformat. Die Bandbreite seiner gesammelten Materialien ist groß: Stoff- und Papierfetzen, Reste von Verpackungen, Haargummis, Bierkapseln, gekautes Kaugummi, getrocknete Blüten und Blätter, Pflanzenteile. Manches widersetzt sich als amalgamierte Masse einer genaueren Identifizierung. Organisches und Anorganisches treffen aufeinander, wenn Agematsu minimalistische, an Ikebana erinnernde Arrangements fertigt und mit transparentem Harz fixiert. Als passionierter Sammler akkumuliert er nicht bloß, sondern unterwirft seine Funde einer skulpturalen Transformation.
        Die Komponenten der Stillleben in den Zigarettenverpackungen erfasst er in kleinen Notizbüchern in einer Mischung aus Englisch und Japanisch und vermerkt das Datum, die Uhrzeit und den Ort der Entdeckung jedes Gegenstands in Form eines Straßennamens, manchmal auch einer gezeichneten Karte. Die Trouvaillen selbst werden in Plexiglasregalen präsentiert. Im Kabinett der Secession sind die bearbeiteten Funde des letzten Jahres akkurat in einer Reihe angeordnet. Diese zugleich strenge und zurückhaltende Präsentationsform lenkt alle Aufmerksamkeit auf die fragilen Objekte. Tatsächlich überraschen die Kompositionen aus urbanem Abfall durch ihre ungeahnte Schönheit. Das Jahr 2020 entfaltete eine Poetik des Profanen, die man ihm gar nicht zugetraut hätte. Zwar haben die weltweiten Lockdowns allgemein den Blick für unsere jeweilige Umgebung geschärft, und das Spazierengehen wurde vielerorts wieder populär. Agematus präzise Arrangements jedoch lassen einen staunen über den Reichtum des Materials, das durch die Straßen von New York driftet: dematerialisierte Konsumwelten in Metamorphose. Der Verschluss einer Champagnerflasche ist Teil einer Mikro-Assemblage aus dem Jänner, doch dann zeigen sich die ersten Spuren der Pandemie – Agematsu findet weniger Kaugummi, dafür mehr getrocknete Blüten.
        Seine kunstvollen Mikro-Skulpturen erinnern an Brassaïs in den 1930er-Jahren entstandene Fotografien scheinbar achtlos fortgeworfener Dinge, die dieser auf seinen Streifzügen durch das nächtliche Paris entdeckte und als sculptures involontaires, als »unfreiwillge Skulpturen« bezeichnete – eine Muschel, ein Stück Seife, ein aufgerollter Busfahrschein. Diese vom Zufall geschaffenen Skulpturen entsprachen dem surrealistischen Blick und ebneten der psychogeographischen Feldforschung der Situationisten künstlerisch den Weg. Der Grundsatz des dérive prägt offenkundig auch das Werk von Agematsu, der ohne zielgeleitetes Interesse seine Umgebung erforscht und sammelt, was seine Aufmerksamkeit weckt. Die Stadt selbst wird für ihn zum Material, aus dem täglich Neues von filigraner Schönheit entsteht. Jede Zellophanhülle erzählt die Geschichte des Tages, an dem Agematsu das fand, was die Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort hinterlassen haben. So konserviert er das Treibgut, das die DNA der Stadt in sich trägt. Die Multikulturalität New Yorks, die um sich greifende Gentrifizierung, das Verschwinden vakanter Räume und vor allem der Wandel des öffentlichen Lebens durch Ausgangssperren und Lockdowns lassen sich, blickt man nur genau genug hin, in diesen Spuren erkennen. Der Künstler als Flaneur ist insofern auch der Übersetzer der Zeichen des Alltäglichen in materielle Form. Sozialgeschichte, das macht Agematsus ausdauernde, wie ein Ritual betriebene künstlerische Praxis deutlich, schreibt sich selbst in das Unscheinbarste ein, wo sie eine eigenartige Poesie der Form entfaltet.


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