Vanessa Müller


Pristina, Hauptstadt des jüngsten Staates in Europa, ist Schauplatz der diesjährigen Manifesta – jener nomadischen Biennale, die nicht nur aktuelle, oft ortsbezogene Werke der bildenden Kunst präsentieren, sondern die urbane Textur der jeweiligen Gastgeberstadt mit ihren Herausforderungen und Potenzialen sichtbar machen will. Die Wahl des Austragungsortes legt heuer fast automatisch einen Fokus auf die Problematik ethnisch geprägter Konflikte nicht nur dieser Region. Parallel betrachtet sie die post-transitorische Stadtlandschaft in ihren baulichen Schichtungen und sozialen Bruchstellen. Vor allem Ikonen des lokalen Modernismus dienen als Ausstellungsorte: langsam zerfallende Bauten, die gleichwohl noch immer die Ideale des Sozialismus als ruinenhafte Zeichen in die Stadtsilhouette malen.
       Seinen Ausgangspunkt nimmt der sich über 25 Stationen erstreckende Parcours im Grand Hotel Pristina im Zentrum. 1978 als Luxusresidenz erbaut, in der auch Tito übernachtete, sind Symbolik und Funktion heute suspendiert, eine neue Nutzung nicht in Sicht. Petrit Halilaj hat die fünf Sterne, die als Leuchtreklame das Premium-Hotel einst zierten, um weitere Sterne ergänzt. Nicht länger Indikatoren für Luxus, präsentieren sie sich jetzt als frei flottierende Zeichen, die in den Nachthimmel leuchten und individuell zu besetzen sind. Das Hotel selbst beherbergt temporär auf seinen sieben Etagen Werke, die, thematisch gegliedert, Geschichte anders zu erzählen versuchen, von politischer Vorstellungskraft und Engagement berichten und von dem Wunsch nach Reparatur und Transformation. Kuratorin Catherine Nichols hat in engem Austausch mit lokalen Kollektiven und Künstler*innen eine Schau zusammengestellt, die Fragen zur aktuellen Verortung der Region in breitere Debatten zu Ökologie, Migration, zu Genderfragen und den gegenwärtigen Krisen des Kapitalismus einbettet.
       Von den 103 teilnehmenden Künstler*innen der Biennale stammen 65 Prozent aus der Region und ihrer Diaspora. Die internationalen Beiträge liefern einen Blick von außen, der in seinen prägnantesten Positionen die sich überlagernde Historie des Landes freilegt. Ugo Rondinone beispielsweise hat das Monument für die Helden der nationalen Befreiungsbewegung aus der Tito-Ära, das Adem Jashari, dem Anführer im Kosovokrieg, umgewidmet werden sollte, komplett in violette Folie gehüllt. Das kann man als allgemeinen Debattenbeitrag zu Denkmälern als Repräsentanten von Ideologien sehen. Die temporäre Verwandlung des Partisanenmonuments setzt vor allem aber die Dreiecksform der hoch aufragenden Skulptur, die die »Brüderlichkeit und Einheit« der verschiedenen im Kosovo lebenden ethnischen Gruppen festigen sollte, zur Neubetrachtung in Szene.
       Im riesigen Gebäude der Druckerei Rilindja, in den 1970er-Jahren von Georgi Konstantinovski entworfen, zwischenzeitlich Veranstaltungsort für Techno-Events und heute von Teilabriss bedroht, wurde einst die einzige in albanischer Sprache verfasste Zeitung Jugoslawiens gedruckt. Mit Brutal Times zeigt der türkische Künstler Cevdet Erek eine Installation aus Sound und Licht, die den Ort in seine Vergangenheitsschichten zerlegt. Die Rhythmen der dunklen minimalen Beats stehen für Rilindjas vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die 1990er Jahre reichende Geschichte: eine Sekunde Sound markiert einen Tag. Die gigantische Leere der Betonarchitektur wird so zum Resonanzraum verkörperter Erinnerung und Erfahrung, der auch danach fragt, was als nächstes kommt.
       Denn tatsächlich ist das die Frage, die sich jede Ausgabe der Manifesta stellen muss, zieht sie doch weiter, während die mangelnde Sichtbarkeit und institutionelle Einbindung der lokalen Kunstszene bestehen bleibt. Parallel zur Ausstellung hat Carlo Ratti (CRA – Carlo Ratti Associati) über seine Methode des partizipativen Urbanismus deshalb eine Reihe von Prozessen und Aktivitäten initiiert, die Rolle und die Bedingungen lokaler Infrastrukturen und der Nutzung des öffentlichen Raums zu reflektieren. Das hat dazu geführt, dass die Manifesta erstmals in ihrer Geschichte selbst eine kulturelle Einrichtung ins Leben gerufen hat, das Zentrum für erzählerische Praxis im Gebäude der ehemaligen Hivzi Sulejmani Bibliothek. Als langfristiges interdisziplinäres Projekt angelegt, das in den ersten Jahren von der Biennale finanziert wird, steht es für ein offenes Angebot und soll herausfinden, wie es verwaltet und geleitet werden soll und welche Aktivitäten dort stattfinden sollen. Eine nicht mehr genutzte Eisenbahnlinie, die früher Ziegel in alle Teile Jugoslawiens transportierte, wurde zu einer Green Line, einem Fußgängerkorridor, umgestaltet, der, bepflanzt und mit Sitzgelegenheiten ausgestattet, als Promenade und Treffpunkt genutzt werden kann. Die Ziegelei selbst, Pristinas größter postindustrieller Standort, wurde bereits 2021 in öffentliches Eigentum überführt und die Zukunft des Geländes damit in die Hände der Bürger*innen gelegt. Die Manifesta hat das Kollektiv raumlaborberlin eingeladen, um das Gelände zu aktivieren und ein gemeinschaftliches Terrain zu verwandeln. [Working on] Common Ground, ein 100-tägiges Labor, versucht in Zusammenarbeit mit Kollektiven aus dem Kosovo und der Region lokale politische, soziale und ökonomische Narrative in Bezug zu aktuellen Herausforderungen wie Dekontaminierung, Kreislaufwirtschaft, Regeneration und Nachhaltigkeit zu setzen. Ob sich diese Ambitionen in einer tatsächlichen Restrukturierung des Areals manifestieren werden, muss sich zeigen.
       Der öffentliche Raum jedenfalls erodiert vielerorts, denn die gebaute Zukunft unterliegt zu großen Teilen internationalen Developern mit Hang zum Hochhaus. Den bestehenden Stadtraum prägt mangelnde Planung und illegale Bebauung, worauf Alban Muja mit seinem Haus im Kleinformat auf dem Dach des ehemaligen Kaufhauses Gërmia – ein modernistischer, gerade durch öffentlichen Protest vom Abriss bewahrter Bau – süffisant verweist. Und doch ist überall eine Dynamik und Energie zu spüren, die in den öffentlichen Raum dringt, die vielen Cafés und zahlreichen informellen Clubs. Diese Vitalität kollidiert jenseits der Grenzen des kleinen Landes allerdings mit dem ungeklärten Status des Kosovo, der das Reisen mangels Visafreiheit für die überwiegend junge Bevölkerung oft in weite Ferne rückt. Internet und Smartphones ermöglichen passive Teilhabe am globalen Geschehen, doch über vielen Werken der kosovarischen Künstler*innen liegt eine latente Melancholie. Driton Selmanis Love Letters, auf Plastiktragetaschen geschriebene Sätze, die wirken wie Epigramme aus Social Media, sind Einzeiler der Enttäuschung. Dardan Zhegrovas große Voodoo-Puppen laden ein, sich an sie zu kuscheln, doch die Stimme, die aus ihrem Inneren dringt, erzählt traurig-monoton von der Sehnsucht nach dem Anderen, von queerem Begehren und unerfüllter Liebe. Aus den Gedichten der in Deutschland aufgewachsenen Elona Beqiraj klingt wiederum die zerrissene Stimme des »Weder-noch« des diasporischen Seins. Bemüht man den alten Slogan, das Private sei politisch, offenbart sich die latente Isolation des Landes inmitten Europas sehr unmittelbar.
       Dann wiederum steht inmitten des pulsierenden Lebens auf dem Zahir-Pajaziti-Platz der modulare, 1966 vom slowenischen Architekten Saša J. Mächtig entworfene Kiosk k67. Eines der letzten Exemplare ist Sitz von Radio International Prishtina, einem von Susan Philipsz gegründeten Radiosender, der Soundinterventionen ihrer Studierenden der Kunstakademie Dresden sowie Studierenden der Kunstfakultät der Universität Pristina präsentiert. Beeinflusst von Guglielmo Marconi, einem Pionier des Radios, erforscht die Zusammenarbeit dessen Vorstellung, einmal erzeugte Klänge würden niemals verstummen, sondern ewig als Schallwellen im Universum zirkulieren. Die Manifesta 14 wirkt vor diesem Hintergrund selbst wie eine Antenne, die einige dieser Töne einfängt und in eine neue, sehr gegenwärtige Komposition einbindet.


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