» Texte / Urbane Räume in der plattformbasierten Organisation sozialer Reproduktion

Gisela Mackenroth

hat Soziologie und Humangeographie studiert. Sie ist Lehrbeauftragte in München und Jena sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen.


Gerade in der Stadt sind Strukturen des Plattformkapitalismus augenfällig: Auf Rad- und Fußwegen bringen Lieferdienste Einkäufe kurzfristig zur Kundschaft, für die verpasste letzte U-Bahn lässt sich per App ein*e Uber-Fahrer*in buchen, samstags fährt die Reinigungskraft von einem Haushalt zum nächsten und richtet die Wohnung für das Wochenende her. Auch das Babysitten und Pflegeeinsätze können als ›Gigs‹ per App gebucht werden. Der Sammelband Plattformkapitalismus und die Krise der sozialen Reproduktion fragt, wie sich Care-Arbeit im digitalen Kapitalismus verändert und nimmt Letzteren als Brennglas für sozialen Wandel diesseits der Wohnungstür. Plattformbasierte Geschäftsmodelle – so die Ausgangsüberlegung der Herausgeber*innen – seien aufschlussreich, um die gegenwärtige Logik sozialer Reproduktion nach einem neoliberalen Umbau von Arbeitsmarkt und Wohlfahrtsstaat zu verstehen. Zunächst formuliert Julia Dück einen subjekt- und staatstheoretisch fundierten Reproduktionsbegriff aus und erläutert damit die methodologische Perspektive des Sammelbands. Die Grenzen zwischen produktiver und reproduktiver fürsorglicher Arbeit würden historisch und kulturell fortlaufend verhandelt. Eine durch Produktivität und Wachstumszwänge krisenhaft gewordene soziale Reproduktion spiegele sich in verunsicherten Geschlechterbildern, sozialen Beziehungen und Lebensweisen sowie in ethisch-moralischen Konflikten wider. Die grundlegenden Mechanismen eines Strukturwandels sozialer Reproduktion im Plattformkapitalismus zeigt Moritz Altenried auf. Er arbeitet Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Geschäftsmodellen von Plattformunternehmen heraus: Ehemals informelle Arbeitsverhältnisse würden in Beschäftigungsmodellen wie ›Crowd Work‹ oder ›Gig Work‹ mit neuen digitalen Kontroll- und Bewertungstechniken kombiniert, und unternehmerische Risiken auf die Arbeiter*innen verlagert. Dies sei Grundlage für ein vermeintlich schlankes Geschäftsmodell, das darauf ziele, materielle und immaterielle soziale Infrastrukturen zu privatisieren und zu ökonomisieren. Der Beitrag von Ursula Huws beobachtet einen neoliberalen Rückzug des Sozialstaats von öffentlichen Diensten und eine Wiederkehr privater Dienstleistungen. Nutzungsweisen von Care-Arbeit vermittelnden Plattformen, die aus der gegenwärtigen Kommodifizierung von Hausarbeit hervorgehen, offenbaren dabei veränderte Klassenbeziehungen. Die Nutzung von plattformbasierten Angeboten sei ein klassenübergreifendes Phänomen. Machtbeziehungen seien also anhand verschiedener Nutzungsweisen zu erforschen.
        Die in diesen Einführungsartikeln umrissenen Veränderungen sozialer Reproduktion werden in anschließenden Fallstudien vertieft. In der Gesamtschau geben sie neue Impulse für die Stadtforschung. Yannick Erkner, Marcella Rowek und Anke Strüver zeigen Raumproduktionen plattformvermittelter Hausarbeit und Pflege auf. Die bereits in suburbanen Eigenheimsiedlungen angelegte Unterscheidung von in Privaträumen (unsichtbar) verrichteter Hausarbeit und im urbanen Raum (sichtbarer) produktiver Arbeit würde gegenwärtig auch in vornehmlich urban verankerter plattformvermittelter Hausarbeit fortgeführt. Begegnungsräume für die Care-Arbeiter*innen fehlen auch hier, was eine (Selbst-)Organisation erschwere. Wenn sich die Autor*innen auf der Grundlage dieser raumbezogenen Perspektive für eine umfassendere Untersuchung plattformbasierter Sorgearbeit aussprechen, ist damit auch die Suche nach Räumen für politische Beziehungen unter Haus- und Pflegearbeiter*innen allgemein verbunden. Dieses Desiderat kritischer Sozialforschung löst Lisa Bor ein, indem sie Helpling, eine Reinigungskräfte vermittelnde Plattform, in beobachtender Teilnahme untersucht. Auch sie resümiert: Plattformen verstärkten den Charakter unsichtbarer Arbeit. Informelle Räume, Chats und Facebook-Gruppen, die momentan Foren zum Erfahrungsaustausch bieten, könnten Ansatzpunkte für eine noch ausstehende Organisierung sein. Mira Wallis wirft den Blick auf individuelle Zeitkonflikte zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit. Plattformvermitteltes Crowd Working von zu Hause aus erscheint hier vielfach als Lösung, um Lohnarbeit und private Pflege- und Erziehungsarbeit zu verbinden. Prekäre, unterbezahlte Solo-Selbstständigkeit von zu Hause aus erscheint den Arbeiter*innen als Teilhabechance auf dem Arbeitsmarkt – trotz eigener familiärer Sorgeverpflichtungen. Diese Analyse von Wallis rekonstruiert spezifische Krisenmomente sozialer Reproduktion in der Peripherie als verschärfte Ausschlüsse gerade von öffentlichen Care-Infrastrukturen. Rabea Berfelde erforscht Motive für die Vermietung der eigenen Wohnung auf Airbnb. Analysen von Touristifizierung und Verdrängung in Städten fügt Berfelde die Beobachtung hinzu, dass die Vermietung über Airbnb ein Reproduktionsmodell anbiete, in dem Prekarisierte allerdings zu Akteur*innen von Gentrifizierung würden.
        Diese empirischen Analysen liefern ein dichtes Bild von Erfahrungen einer im Neoliberalismus krisenhaften sozialen Reproduktion und von Strategien ihrer Handhabung. Sie zeigen dabei auf vielseitige Weise Raumproduktionen gegenwärtiger Care-Arbeit auf. Damit liefert der Sammelband wichtige Impulse für Architektur und Stadtplanung. Gerade wenn es um die praktische Frage nach einer sozial gerechten gemeinschaftlichen bzw. öffentlichen Organisation von Care-Arbeit geht, regt der Sammelband zur interdisziplinären Debatte an: Welche Räume sollten für eine neue Gestaltung sozialer und gesellschaftlicher Reproduktion geschaffen werden? Die Autor*innen verdeutlichen: Ein erster Schritt liegt in der Sichtbarmachung.


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