Iris Meder


Jetzt ist die Moderne endgültig im Greisenalter: 80 Jahre Stuttgarter Weißenhofsiedlung feiert man dieses Jahr, und 100 Jahre Deutscher Werkbund. Mit dem Auszug der Mieter des Le-Corbusier-Doppelhauses in der Siedlung ergab sich bereits vor mehreren Jahren die Möglichkeit, den zunehmenden Besucherströmen Rechnung zu tragen und im Haus eine museale Weißenhof-Dokumentation einzurichten, die schließlich letzten Sommer eröffnet wurde. Da auch die aufwändige Restaurierung der Siedlung in den Achtzigern mittlerweile in die Jahre gekommen ist, bot sich zugleich die Gelegenheit einer denkmalpflegerisch reflektierten Behandlung des zunächst nicht vermietbaren und daher schon wenige Jahre nach seiner Errichtung im Inneren stark veränderten Hauses. Man ging dabei den Weg einer teilweisen Rekonstruktion des ursprünglichen Zustandes im kleineren rechten Hausteil, der so zum „begehbaren Exponat“ wurde.

Die Restaurierung mit vorhergehender baudenkmalpflegerischer Analyse unter der Leitung der renommierten Wüstenrot Stiftung, die auf Baudenkmale der Moderne wie Hans Scharouns Haus Schminke, Erich Mendelsohns Einsteinturm und Gropius’ Dessauer Meisterhäuser spezialisiert ist, dokumentiert nach Abschluss der Arbeiten ein ausführliches, reich bebildertes Buch. Bereits die Einführung konstatiert, dass Le Corbusiers Konzepte an der Wirklichkeit des Wohnens gescheitert sind – mit dieser Prämisse ist dann auch eine Forschung jenseits hagiografischer Architekturgeschichte möglich. Werner Durth resumiert den Kontext der Siedlung, Norbert Huse, Nestor der Wohngeschichtsschreibung der Moderne in Deutschland, analysiert die in Stuttgart erstmals realisierten „Maisons Citrohan“, die für den Standort mit Hang­lage nicht besonders durchdacht waren. Dass Le Corbusier sich die Häuser erst kurz vor Schließung der Ausstellung ansah und dann an den von Alfred Roth besorgten Möbeln herummäkelte, passt auch zu Huses Feststellung, dass seine sozial desinteressierten, elitären Theorien persönliche Vorlieben und Abneigungen unbekümmert zu allgemeinen Tatsachen erklärten und bereits vorhandene niederländische und deutsche Entwicklungen vor allem medientechnisch wirksam zuspitzten. Huse erwähnt auch den für die Rezeptionsgeschichte der Moderne und besonders Le Corbusiers nicht zu unterschätzenden Umstand (den jeder Besucher des Hauses bestätigen wird), dass die beengten Dimensionen, in denen der „homo corbusiensis“ (Huse) leben sollte, mit den bekannten Weitwinkel-Fotos und den Großzügigkeit suggerierenden Skizzen wenig zu tun haben.

Für all jene, die weniger die detaillierte Analyse eines Einzelgebäudes als vielmehr einen Überblick über die Siedlung als Ganzes suchen, empfiehlt sich das ebenfalls rechtzeitig zum Jubiläum erschienene Buch von Jörg Kurz und Manfred Ulmer, zwei engagierten Stadtforschern und Weißenhof-Anrainern. Es schließt eine jahrzehntelange Lücke: Zwischen dem (lange vergriffenen) Standardwerk von Karin Kirsch und einer von der gleichen Autorin verfassten kleinen Broschüre war bisher keine erschwingliche Publikation erhältlich, die das Phänomen Weißenhofsiedlung in seinen Zusammenhängen adäquat behandelt hätte. Die Struktur des Buches ist mit den Kapiteln „Geschichte – Die Siedlung – Die Ausstellung – die Architekten – Die Häuser“ usw. klar und übersichtlich, das von Kurz und Ulmer zusammengetragene Bildmaterial selbst für Insider teils überraschend und die Ortskenntnis der Auto­ren ein großer Vorteil, wie gerade der Vergleich mit Pommer/Ottos Weißenhof-Buch zeigt – dort ließen teilweise schlicht falsche Beschreibungen vermuten, dass die englischsprachigen Autoren die Siedlung gar nicht gesehen haben und ihre Recherchen ausschließlich im Mies-van-der-Rohe-Archiv des MOMA betrieben. Manchmal nicht optimale Bildqualität und Flüchtigkeitsfehler sieht man Kurz/Ulmers Buch, das auch das gegenwärtige Leben in den Häusern dokumentiert, angesichts des umfassenden Materials gerne nach, sehr erfreulich ist auch der Verkaufspreis.


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