Thomas Ballhausen

Thomas Ballhausen, Autor, Film- und Li­te­r­­­a­turwissenschaftler, ist Mitarbeiter der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur im Literaturhaus Wien / Leitung der Pressedokumentation.


Der britische Musiker und Autor Keaton Henson lässt mit seinem grafischen Narrativ Gloaming eine schwarz-weiße Geisterwelt inmitten unserer Wirklichkeit sichtbar werden: Übergroße, ungeschlacht wirkende Figuren, fleckige, haarige Wesen schweben durch eine menschenleere Vorstadt, liegen auf Häusern, schauen durch Fenster herein, ragen gigantisch zwischen den Gebäuden hervor. Immer wieder sind auch langhaarige Yurei-Gespenster – die spätestens mit der Rezeption japanischer Horrorfilme einen festen Platz im Bildgedächtnis des Populären innehaben – unter ihnen auszumachen. Traditionellerweise sind diese Gespenster Heimsuchende, die das Vergessene und Unterschlagene einklagen. Gemeinsam mit den auch aufgrund ihrer Form (oder ihres: Formverlusts) bedrohlich wirkenden Wesen, die gleichermaßen ihre Gesichter verdeckt halten oder gar gesichtslos sind, bewegt sich dieses melancholische Figureninventar durch urbane Gegenden, die durch die Größenverschiebungen streckenweise modellhaft und spielzeuggleich anmuten. Eindringlich vermittelt Henson mit der losen Bilderfolge in Gloaming Gefühle wie Fremdheit oder Verlorenheit. Unbehaust streifen die Heimsuchenden umher, nisten sich schließlich in ländlicheren, bewaldeten Gegenden ein, verschmelzen in einer grafischen Klimax mit dem Floralen und miteinander. Die stumme Welt von Gloaming entfaltet sich in all ihrer Betörung und Rätselhaftigkeit in ganz- und doppelseitigen Zeichnungen; anders als gewohnt, trägt kein rhythmisierendes Pacing die Leserschaft durch Panelfolgen. Einzelbilder, die als Momentaufnahmen lesbar werden, laden vielmehr dazu ein, selbst Verknüpfungen zu entwickeln. Hensons gespenstische Transferleistung, die sich nicht zuletzt in der Verbindung asiatischer und westlicher (Gespenster-)Ikonographien niederschlägt, zielt, wie auch der Haupttitel vermuten lässt, auf ein Zwielicht ab, eine Dämmerstunde der (ansonsten) Unsichtbaren.

Die Rückkehr der Märchenwesen, wie Henson sie so willentlich und gelungen betreibt, entspricht dem Untertitel, den 23 Years of Seeing Things. Der insgesamt recht wortarme Band lenkt damit umso mehr die Aufmerksamkeit auf verwendete Zitate, auf einen vorangestellten lyrischen Text und die Lyrics aus Hensons musikalischem Schaffen. Eine für die vorliegende Rezension selbstgewählte Verknüpfung zur möglichen, vielleicht auch besseren Entschlüsselung der Publikation bietet sich in der Parallellektüre eines Aufsatzes von Hannah Arendt und Günther Anders (damals noch: Stern) aus 1930 an. In diesem kurzen Text über Rilkes Duineser Elegien, der dem 2016 edierten Briefwechsel der beiden Philosophen beigegeben ist, findet sich ein mögliches Vokabular angelegt, das die Beschreibbarkeit von Hensons Buch ermöglicht: Wir sind somit Beobachter einer unheimlichen Welt, einer Stadt als Echoraum, in der aber die »Echolosigkeit« (Arendt/Stern) dominiert. Jedes Bild ist uns »nur eines unter unendlich vielen möglichen, und das von sich aus andere mit sich zieht« (Arendt/Stern). Wenn Rilke erinnert »Siehe, die Bäume sind; die Häuser/die wir bewohnen, bestehn noch. Wir nur/ziehen allem vorbei wie ein luftiger Austausch«, ziehen also die Gespenster ihren weltentfremdeten Umweg, ohne dass es ein rettendes Benennen zu geben scheint. Wenn also die »Gloamers weep for what you’ve done« (Henson), so bietet sich uns »ein Gehörtwerden des Erzählten, wenn auch kein Erhörtwerden« (Arendt/Stern), geschweige denn Erlösung. Die heilende Liebe, ein Sein in der Liebe – das bei Rilke angelegt ist, bei Henson zumindest anklingt – gibt es wohl nur für die gespenstischen Bewohner und Bewohnerinnen dieser alten Welt. Die selbständige, also selbst gewählte Berichtsperspektive der Einsamkeit, die sich »aus der Vergänglichkeit und Unverlässlichkeit dieser Welt« (Arendt/Stern) speist, wird für Gloaming als Öffnung hin auf eine Wirklichkeit abseits der alltäglichen denkbar, wenngleich sie sich inmitten des Bekannten – etwa in den Vorstädten – entfalten kann. Bestimmt vom Raum, dem wir in unserer literarisch apostrophierten Vergänglichkeit zustreben, wird die Tragik lesbar, die sich zwischen den Polen natürlicher und metaphysischer Obdachlosigkeit entfaltet: sprich, wie also kann man in der (gebauten) Natur zu Hause sein oder in einer jenseitigen Geisterwelt heimisch werden. Wenn Hensons unheimliche, traurige Wesen sich schließlich häuslich einrichten und umarmen, scheinen Innen und Außen (was sich auch in der bemerkenswerten Buchgestaltung der österreichischen Ausgabe spiegelt) aber zumindest vorerst ausgesöhnt. Keaton Hensons Gloaming ist ein konsequentes, großartiges und zutiefst beunruhigendes Buch – und selbst ein Grenzgänger zwischen grafischer Erzählung und künstlerischer Kommentar zum Leben (und: Geistern) in Städten.


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