Elke Krasny

Elke Krasny ist Kuratorin, Stadtforscherin und Professorin für Kunst und Bildung an der Akademie der bildenden Künste Wien.


Die Ambivalenz der Differenz: In standort-obsessiven Zeiten zählt der vielbeschworene, marketing-intensivierte Differenzfaktor. Städte wollen nicht gleich sein, sie wollen gleicher als gleich sein, und zwar in ihrer Außendarstellung. Im Inneren der Städte sieht es mit der Bewertung und Besetzung von Differenz ganz anders aus. Differenz wird zum raumpolitischen Problem, das Grenzen durch das Innere der Städte zieht, die sich in Überwachungs- und Kontrollmechanismen ebenso manifestieren wie in so genannten urbanen Problemzonen oder Gated Communities. Differenz findet ihre Entsprechung im Raum der Stadt. In der lokalen Innendarstellung von Städten werden Heterogenität und Pluralität in der politischen Rhetorik zu jenen Faktoren, die Differenz ausschließlich negativ konnotieren, um Ängste und Ungewissheiten dann umso mehr mit realer Kontrolle und Überwachung zu bekämpfen. In diesem brisanten und konfliktbeladenen Spannungsfeld von Differenzen und Un/Gewissheiten bewegen sich die politischen und ethischen Fragen der Migration, die nicht mehr nur als einseitige Bewegung vom Dort nach Hier, sondern als vielseitiges Bewegungsnetz im Hier und Dort und im Dazwischen zu begreifen sind und daher die Beziehungen zwischen Orten selbst zu anderen werden lassen.
Viel Glück! Migration Heute, ein transnationales Projekt der Initiative Minderheiten, das sich zwischen Wien, Belgrad, Zagreb und Istanbul bewegt, verbindet neue migrationspolitische und vielortige Forschungsperspektiven, beruhend auf Recherchen und Dokumentationen mit einer umfangreichen Publikation und zwei Ausstellungen.
Die Akademie der bildenden Künste zeigt, kuratiert von Christian Kravagna, unter dem Titel Living Across. Spaces of Migration jene Räume der Migration, in denen das Subjektive als mikro/politische Formation zwischen Poesie und Interpretation zentral wird. Die Spannungsverhältnisse des Transnationalen bleiben unaufgelöst. Die visuellen Erforschungen migrantischer Raumerfahrung in den Arbeiten von Hurvin Anderson, Yto Barrada, Vicens Casassas, Ghazel, Anna Jermolaewa, Nada Prlja, Zineb Sedira und Deniz Sözen sind auch im Katalog dokumentiert. Die Wienbibliothek im Rathaus zeigt in ihrem Ausstellungskabinett die den migrantischen Musikszenen gewidmete Ausstellung mit dem wortspielenden Titel Grenzpegel, kuratiert von Ruby Sircar und Fatih Aydogdu. Kreativität und Kontroversen lautet der Untertitel der Ausstellung, der deutlich macht, dass Musik, vor allem in Hinblick auf die selbstgewählte Etikettierung in der Musikstadt Wien, lokalspezifischer Standortfaktor par excellence ist. Musikproduktion und Musikindustrie in Wien ist nicht nur hochkulturell, identitär und tourismustauglich aufgeladen und subkulturell szenespezifisch ausdifferenziert, sondern auch eine bedeutende Trägerin von migrantischer Alltagskultur. Die Ausstellung mit ihrer Materialsammlung an CD-Covers und Musikbeispielen, ihren Interviews und der Timeline versteht sich als per Ausstellung öffentlich gemachte soziologische Studie, die den Anspruch auf erweiternde und vertiefende Fortsetzung stellt. Alle Wien-relevanten Dokumente und Materialien werden nach dem Ende der Ausstellung in den Sammlungen der Wienbibliothek verbleiben und somit Teil des kulturellen Gedächtnisses der Stadt werden. Diese sammlungspolitische Dimension des Projekts ist insofern bedeutsam, als sich dadurch die Repräsentativität des Sammelns mit den migrationspolitischen Fragen der kulturellen (Musik)Produktion der Gegenwart konfrontiert und der Radius des zu Sammelnden entscheidend erweitert.
Was langfristig als vor allem kultur- und bildungspolitisch relevantes Ergebnis des Projekts bleiben wird, ist die über 500 Seiten starke Publikation. Die politischen Entscheidungen der 1960er Jahre, die zu Anwerbemaßnahmen von GastarbeiterInnen führten, werden in den Folgewirkungen, globalisierten Dynamiken und neuen Migrationsbewegungen der letzten zwei Jahrzehnte untersucht. Der geografische Fokus liegt auf den Relationen von Zentraleuropa und Südosteuropa, den Beziehungen und transnationalen Über/Lebensbedingungen zwischen Österreich, Kroatien, Serbien und der Türkei. Die Textsammlung mit Beiträgen von Hakan Gürses, Vida Bakondy, Silva Meznaric, Katrin McGauran, Aysem Biriz Karacay, Joachim Stern, Sabine Strasser, Renée Winter, Sabine Hess, Ljubomir Bratic und anderen eröffnet ein differenziertes Spektrum an Perspektiven auf EU-Gesetzgebung, Integrationsfragen, Arbeitsmigration, Investitionen in Herkunftsländer, Wahlrecht, Staatsbürgerschaft und Governance. Nikita Dhawan und María do Mar Castro Varela zeigen die Potenziale auf, die queer theory für die Forschungsfrage Migration haben kann. Vlatka Frketic dekonstruiert die Stereotypisierung der Zuschreibung, dass MigrantInnen homophob seien. Eine juristische Timeline zu Migration und Asyl ergänzt die einzelnen Essays.
Zugleich macht die Publikation als Materialsammlung und gegenwärtige Bestandsaufnahme einer kritischen und politisch emanzipatorischen Migrationsgeschichte deutlich, wie wichtig Forschungsnetzwerke und methodisch präzise wie grenzüberschreitend organisierte Forschungsprozesse für die Entwicklung eines polyperspektivisch-diasporischen Geschichts- wie Gegenwartsbewusstseins sowie die Artikulation politischer Forderungen sind. Viel Glück! Migration heute wurde als exemplarische Kollaboration von Rechercheteams in den vier Städten, die ForscherInnen, KünstlerInnen, Kulturschaffende und AktivistInnen involvierten, realisiert. Die Geschichte der Gegenwart zeigt sich in ihrer Schreibung. Viel Glück! setzt jenen Perspektivenwechsel fort, der mit der ersten Ausstellung Gastarbejteri, die die Initiative Minderheiten mit dem Wien Museum im Jahr 2004 zeigte, begonnen wurde. Immer noch geht es, wie schon im ersten Projekt, um den Kampf gegen Klischees, um die wieder und wieder bemühten Stereotypisierungen und um die Notwendigkeit neuer Bildproduktionen, um die alten zu überwinden. Migration schlägt, wie Hakan Gürses argumentiert, eine Kerbe in die herrschende Ordnung. Die Kerbe hinterlässt Spuren und erzeugt neue. Viel Glück! ist diesen Spuren in intensiver Suche nachgegangen.

Ausstellungen

Grenzpegel — Kreativität und Kontroverse
Migrantische Musikszenen
Kuratiert von Ruby Sircar und Fatih Aydoǧdu
12. November 2010 bis 14. Jänner 2011
Wienbibliothek im Rathaus

Living Across — Spaces of Migration
Kuratiert von Christian Kravagna
5. November bis 5. Dezember 2010
xhibit, Akademie der bildenden Künste Wien


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