Helge Mooshammer

Peter Mörtenböck


 Uzume – CAVE application , Foto: Petra Gemeinböck
Uzume – CAVE application , Foto: Petra Gemeinböck

Welches Versprechen liegt in aktuellen Fantasien von dynamisch fließenden Landschaften und frei zirkulierenden Bedeutungen gegenüber objekthafter Architektur und inszenierter Zuschreibung? Was treibt unser Begehren nach einer Abwendung von statischer, auf einfachen Repräsentationsmechanismen beruhender Architekturtheorie und -praxis und unsere Suche nach konkreter Intensität und gelebter Dynamik räumlicher Erfahrung an? Wie lässt sich dieser Neuorientierungsprozess als ein aktives Ent-Identifizieren und Ent-Positionieren auf dem Weg zu neuen epistemologischen Denkweisen verstehen?
In dieser Diskussion über die Effekte kultureller Praxis untersucht ein von Think Architecture (Helge Mooshammer, Peter Mörtenböck) initiiertes mehrjähriges Forschungsprojekt in interdisziplinärer Zusammenarbeit die Entstehung eines neuen Subjekts im heutigen Spannungsfeld materieller und virtueller Räume.[1] Themen dieser Auseinandersetzung werden von den beteiligten ForscherInnen, unter anderem Thomas Lorenz, Universität Stuttgart, und VR-Künstlerin Petra Gemeinböck, Electronic VisualizationLaboratory, University of Illinois at Chicago, ab Herbst 2001 auch in den an der Architekturfakultät der TU Wien neu eingerichteten Studienschwerpunkt Visuelle Kultur eingebracht.[2] In einer Vielfalt an Projektzugängen geht es etwa um folgende Fragen: Was machen wir aus dem zunehmenden Bewusstsein, dass die um uns vorhandenen Texte, Bilder und gebauten Objekte gemeinsam mit den rhetorischen Gesten, über die sie vermittelt werden, eher ihre eigenen kulturellen Effekte produzieren als die Bedeutungen und Bedingungen zu reflektieren, die in sie eingeschrieben worden sind? Welche Form von veränderter Forschungspraxis erfordert ein dynamisches Wechselverhältnis von physischen und virtuellen Umwelten?
Ausgangspunkt für diese Arbeit ist die Beobachtung, dass viele der traditionellen Wege, über die wir gewohnt sind, räumliche Ordnung in Architektur, Stadtplanung oder -politik herzustellen, und die Art der Konzepte, die wir daraus formulieren, heute wenig Aussagekraft haben für (a) die Realität räumlicher Praxis und (b) die vorhandene Möglichkeit, soziales Leben über die Effekte neuer Technologien völlig neu zu reflektieren. Dabei sind diese Effekte auf entscheidende Weise nicht in den neuen Technologien isoliert und an sie gebunden vorhanden, sondern über das freie Spiel von Bedeutungsträgern in visueller Kultur handlungsanleitend für das gesamte Feld materieller Praxis. Auf einer Ebene ermöglichen sie, materielle Räume anders zu denken und zu konzeptualisieren als bisher der Fall: Neue technologische Räume eröffnen häufig neue Kombinationen von kulturellen Aktivitäten und räumlichen Erfahrungen, die zuvor nicht vorhanden waren. Dadurch beginnen sich nicht nur individuelle Erfahrungen um Erlebnisse in virtuellen Räumen zu erweitern, lokale Stadträume mit globaler Technologie anzureichern und globale Geografien in ihrer Wirkung neu zu gestalten, sondern auch unsere gesamten Beziehungen von sozialer Identität und materiellem Raum über bisher nicht vorhandene Bedeutungszusammenschlüsse zu transformieren.
Die kulturellen Effekte neuer Technologien bringen auf einer anderen Ebene aber auch ein neues Verständnis dazu hervor, in welcher Weise wir unser Leben ständig neu in den Raum einschreiben und so Raum als ein für innere Dynamiken durchlässiges Gewebe kennen lernen, das nicht nur über das Verräumlichen von aufgetragenen Bedeutungen und ideologischen Imperativen, sondern in konkreten Bezügen zu Subjektivität und Erfahrung herstellbar und bewohnbar ist. In dieser Linie bieten sich über technologische Veränderungen Wege an, traditionelle quasi-stabile Räume neu zu denken und in Bedeutungszusammenhängen zu verankern, die sowohl unseren Begehrensstrukturen als auch unserer Lebenspraxis besser Rechnung tragen.
Grundlegend für das Nachdenken über die Folgen von neuen Technologien für Raum und Identität ist in diesem Forschungsprojekt daher die Frage der Zusammenführung von materiellen und virtuellen Räumen. Gehen wir beispielsweise davon aus, dass sich soziale und räumliche Muster im Materiellen und Virtuellen gegenseitig informieren, dann lassen sich die verschiedenen Formen sozialer Kontaktaufnahme in diesem Gewebe als ein Prozess lesen, der neue Räume zugleich sucht und schafft. Ein geläufiges Beispiel für die Überlagerung materieller und virtueller Räume sind Chatrooms im Internet: Über die Teilnahme an gemeinsam geschriebenen Protokollen tragen sich mehrere physisch abwesende UserInnen in einen sozialen Raum ein, der zunächst einmal von einem gemeinsamen Begehren gekennzeichnet scheint, mit anderen online zu sein. Diese quasi-ziellose Verbundenheit wird oft als alleinig definierendes Merkmal von Internet-Gemeinschaften und ihrer virtuellen Räume gesehen. Anstatt aber Chatrooms lediglich als ein weiteres Beispiel innerhalb eines Katalogs von räumlichen Analogien einzuführen, können die hier entstehenden sozialen Dichten auch durch die Art, wie sie in unserer Vorstellung existieren und dadurch, welche Effekte sie dabei auszulösen vermögen, von konventionellen Bildern von Gemeinschaften unterschieden werden, denen wir eine klare soziale Kohärenz und instrumentelle Logik zuschreiben.[3] Insofern lassen sich aus der Praxis neuer Medien Modelle entwickeln, mit denen sich traditionelle Vorstellungen über die Produktion von Kollektivität und Raum hinterfragen lassen.
Um der Tradition des Repräsentationsraums in der westlichen Kultur und dem damit verbundenen Glauben an die Macht von Bedeutungszuweisungen ein dynamisches Verständnis von Prozessen des Schreibens und Neuschreibens von Raum gegenüberzustellen, wird also im Forschungsprojekt beabsichtigt, eine Bandbreite von Mustern und Programmen zu diskutieren, über die sich in der heutigen Alltagskultur konkrete Handlungsräume unangeleitet zu entwickeln und Wirkung auszuüben beginnen: Etwa in Gestalt von Virtual Environments oder Cruising Areas, den Praktiken von Joyriding[4] oder global agierenden Anti-Globalisierungs-Protesten bzw. in Form der diese Prozesse begleitenden Figurationen wie etwa Donna Haraways Cyborg[5]. Worum es hier geht, sind aber weder diese Räume und Figuren an sich, noch ihre historische oder ideologische Einordnung, sondern ihre Performanz und Modellhaftigkeit in Bezug auf die Entwicklung neuer epistemologischer Sichtweisen zu sozialer Identität und Raum. Judith Butler, Julia Kristeva, Irit Rogoff und viele andere haben die performative Praxis dieser neuen Art von Kartografien, Einschreibungen und Bezeichnungen als einen Prozess des aktiven Verlernens traditioneller Raumordnungen beschrieben, der auch im Sinn eines politischen Projekts zu neuen Zusammenschlüssen von Körper, Raum und Bedeutung führt. Damit verbunden stellt sich die Frage nach den möglichen Strategien eines Reformulierens von Raum als flexibles Gefüge von Grenzbereichen, die mehrfach bewohnt, widersprüchlich und abjekt sind, und die sich der Politik von Bestimmungs- und Territorialisierungspraktiken widersetzen, indem sie eine Form von Multipositionalität zum Bewohnen anbieten können, über die sich diese neuen Zusammenhänge in unsere Alltagswelt eintragen.
Das Forschungsprojekt verfolgt dazu mehrere Leitlinien, in denen die Effekte neuer Technologien über verschiedene Aspekte von Bedeutungspolitik, Alltagskultur und künstlerischer Produktion mit Fragen der Neuformulierung von räumlicher Praxis zusammengebracht werden:[6]

  • Effekte des Ineinandergreifens von virtuellen Räumen untereinander sowie mit physischen Umgebungen in den verschiedenen Bereichen visueller Kultur.
  • Bedeutungstransfers und -neuformulierungen im Austausch von kulturellen Vorstellungen und Fantasien mit dominierenden Bildern in der Entwicklung neuer Technologien.
  • Transformation traditioneller räumlicher Organisationsmodelle über die neuen Räume digitaler Technologie und virtueller Kultur.
  • Neue Aspekte im Prozess der Identitäts- und Kollektivitätsbildung.
  • Entwicklung neuer epistemologischer Ansätze über performative und unangeleitete Formen der Eröffnung von materiellen und virtuellen Räumen.

Friendly Versilia / ThinkArchitecture Karte der einzelnen Orte des Cruising Grounds, Gay Beach Lecciona, Versilia. Landschaftsmuster, soziale Muster, Lebensort
Friendly Versilia / ThinkArchitecture Karte der einzelnen Orte des Cruising Grounds, Gay Beach Lecciona, Versilia. Landschaftsmuster, soziale Muster, Lebensort

Um in diesen Untersuchungen ein Gewicht auf die temporären, performativen und mehrdeutigen Qualitäten von Raum zu legen, werden die flüssigen Übergänge von virtuellen und materiellen Räumen hier als Landschaften thematisiert, denen sich Körper und Subjekte zuschreiben. Als einer unter mehreren Ausgangspunkten dafür, wie solche Landschaften funktionieren, wird im Projekt etwa die kulturelle Praxis des Cruisings analysiert (Abb. ‚Friendly Versilia‘/Think Architecture), dessen räumliche Grundlage eine vermeintlich neutrale und abstrakte Umgebung ist. Cruising findet an höchst heterogenen Orten, vom Park über den Strand bis zum Einkaufszentrum statt. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass hier innerhalb von beinahe beliebig austauschbaren räumlichen Szenarien und Orten ein System von performativer Gestaltgebung operiert, das Begehrens- und Handlungsmuster mit Landschaftsmustern in Verbindung setzt. In dieser Bezugnahme geht es gerade nicht darum, isolierte, klar zu erkennende Orte zu schaffen, die nur einer Bedeutungslinie folgen, sondern darum, räumliches Wissen, Identität und Soziales in ‚unreinen‘ und widersprüchlichen Formen von Beteiligung neu zusammen zu denken.

Friendly Versilia / ThinkArchitecture. Sequenzaufnahme Gay Beach Lecciona, Versilia.
Friendly Versilia / ThinkArchitecture. Sequenzaufnahme Gay Beach Lecciona, Versilia.

Dieses Aufeinandertreffen von räumlichen und sozialen Mustern in solchen Prozessen des Ent-Identifizierens von Orten ist auch ein wesentliches Moment im Ausformulieren virtueller Räume. Das macht eine kulturelle Praxis wie jene des Cruisings für räumliche Erfahrungsbedingungen durchlässig, wie sie in virtuellen elektronischen Umgebungen vorhanden sind. In diesem Sinn versucht das Forschungsprojekt neben einem Querlesen materieller Räume auch in virtuellen Umgebungen Arbeiten zu realisieren (Abb. CAVE application/Petra Gemeinböck), die Ed Sojas Konzeptualisierung solcher Bedingungen als ‚thirdspace‘, Homi Bhabhas ‚inbetweenness‘ oder Henri Lefebvres Konzeption von gelebtem Raum in den Bereich digitaler Medien weiterführen.
Dazu sollen zu den genannten Fragestellungen verschiedene Perspektiven verfolgt werden, die auf neuen Modellen des Agierens in solchen Landschaften beruhen. Bildhafte Phrasen bilden die Startpunkte für diese architektonischen Projekte zur Erforschung der Implikationen virtueller Landschaften: dynamic viewing of virtual landscapes, arts of virtual landscaping, virtual landscapes of sexuality and desire, life in virtual landscapes, travel routes through virtual landscapes, new imperialism of virtual landscapes. Dynamic viewing meint etwa, dass in den technologischen Frames digitaler Kultur immer mehrere Räume parallel präsent sind und parallel verfolgt werden können. Keiner dieser Räume ist dabei in seiner komplex konzipierten Vollständigkeit sichtbar, sondern bildet vielmehr den jeweiligen Hintergrund für die visuelle Repräsentation anderer Räume als Icon oder Platzhalter. Durch den Verweis virtueller Landschaften aufeinander wird Bedeutung nicht mehr ausschließlich im Material, sondern immer häufiger in den wechselseitigen Bezügen des Materials zueinander gesucht.
Darüber hinaus lenkt das kontinuierliche Neu-Erzeugen dieser Landschaften unsere Aufmerksamkeit weg von eingeschriebenen Bedeutungen auf die (kulturellen) Effekte, die aus wechselnden Inhalten, Intensitäten und Orten innerhalb dieser Räume entstehen. Damit verbunden ist nicht nur die Frage neuer Rollen und Lebensbilder zu stellen, sondern auch jene der Verhandlung von Zugängen und Routen zu diesen Optionen. Diese erweiterte Sichtweise umfasst daher auch die Frage von Herrschaftsansprüchen, die an neu umkämpfte Territorien, Geografien und Subjektbilder gestellt werden. So geschehen im ersten Cyberkrieg im April 1998, in dem das amerikanische Pentagon zivile Server attackiert hat, nachdem es von diesen mit Massen-E-Mails (‚Sit-Ins‘) bombardiert worden war.

Peter Mörtenböck und Helge Mooshammer betreiben gemeinsam das Projekt ThinkArchitecture (www.thinkarchitecture.net)

Fußnoten


  1. http://www.thinkarchitecture.net ↩︎

  2. http://arch.tuwien.ac.at/visuellekultur ↩︎

  3. Jones, S.G. (1997). The Internet and its Social Landscape. In S.G. Jones (Hg.) Virtual Culture: Identity and Communication in Cyberspace. Thousand Oaks, CA: Sage, 15-18. ↩︎

  4. Campbell, B. (1993). Goliath: Britain’s Dangerous Places. London: Methuen. ↩︎

  5. Haraway, D. (1989). A Manifest for Cyborgs: Science, Technology and Socialist Feminism in the 1980s. In E. Weed (Hg.) Coming to Terms: Feminism, Theory and Politics. New York: Routledge. ↩︎

  6. siehe auch: Mörtenböck, P. (2001). Die virtuelle Dimension: Architektur, Subjektivität und Cyberspace. Wien: Böhlau. ↩︎


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