Christa Kamleithner


»Für den Wohnungsbau ist Architektur die zweitwichtigste Größe.« So Walter Zschokke im Vorwort, und so versteht sich auch das Handbuch zur Siedlungskultur nicht als Architekturführer mit Schwerpunkt Siedlungsbau, sondern das kulturelle Phänomen des Siedelns selbst wird untersucht - ein Versuch, Nahes und Bekanntes einem Blick von außen zu unterziehen. Damit ist das Handbuch eher einzigartig in der architekturspezifischen Publikationslandschaft: Zwar als Führer angelegt, auch mit Angabe von Reiserouten, werden touristische Erwartungen enttäuscht und statt dessen ein Forschungsgeist angesprochen, dem etwas daran gelegen ist, die übergeordneten Tendenzen des Wohnens und Bauens aufzuspüren. Während der Sommermonate 2000 reisten die AutorInnen der Studie quer durch Niederösterreich, um dabei die vorherrschenden Siedlungsstrukturen und Bauformen herauszufiltern. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit in Bezug auf flächendeckende Erfassung und kunsthistorisch wertvolle Bausubstanz wurden dabei symptomatische Beispiele gesammelt, die einen Überblick geben, wie in Niederösterreich (aber auch anderswo) seit der Industrialisierung »Wohnen« verstanden wird. Untersucht wurden dabei nicht Siedlungstätigkeiten im Allgemeinen, sondern was man seit dem 19. Jahrhundert unter »Siedlung« versteht, nämlich relativ geschlossene und zentral organisierte und errichtete Anlagen, die im Gegensatz zu sukzessiv gewachsenen Ansiedlungen stehen, wie einerseits traditionellen, multifunktionalen Dorf- oder Stadtstrukturen oder andererseits neueren monofunktionalen Einfamilienhaussiedlungen. Im Gegensatz zu zweiteren handelt es sich um relativ dichte Strukturen, ein Merkmal, das ein wesentliches Kriterium bei der Auswahl der Beispiele war. Häufig wird in solchen Anlagen der Versuch unternommen, die Dichte der Wohneinheiten durch Gemeinschaftseinrichtungen zu kompensieren - was einen weiteren Unterschied zu Einfamilienhaussiedlungen darstellt. In dieser Kombination des »Wohnens« mit anderen Funktionen ist zwar eine Ähnlichkeit mit traditionellen Dorf- oder Stadtformen zu sehen, in deren zentraler Organisation liegt aber wieder ein wesentlicher Unterschied. Der sich auch in einer verordneten Identitätsbildung äußert: Durch die zentralen Zusatzeinrichtungen und die einheitliche architektonische Sprache wird eine homogene Gemeinschaft suggeriert, die nicht immer der Realität entsprechen muss. Und die daher häufig von Gesten der Wiederaneignung und Selbstrepräsentation der BewohnerInnen überlagert wird. Zwischen kompakter und heterogener Stadt und individualistischer, individualisierender Zersiedelung kristallisiert sich damit so etwas wie die »moderne Siedlung« heraus, deren unterschiedliche Gesichter diese gemeinsamen Merkmale oft schwer erkennbar machen. Das Interessante an der Studie liegt insofern vor allem in der Versammlung von auf den ersten Blick sehr unterschiedlich anmutenden Siedlungsformen. Der Bogen wird dabei von historischen Werkssiedlungen über Kleinhaussiedlungen bis zum klassischen sozialen Wohnungsbau - von Wohnhöfen über Hochhausscheiben bis zum verdichteten Flachbau - gespannt, der sein vorläufiges Ende im »Themenwohnen« findet. Ein solcher Kurzschluss von Arbeitersiedlungen und Freizeitwohnen, das meist nur von Besserverdienenden bezahlt werden kann, lässt nachdenklich werden ... und einen gemeinsamen Nenner vermuten, der größer als Dichte und einheitliche Fassadengestaltung ist. Die ganze Ambivalenz von »Gemeinschaft«, wie sie geschlossene Siedlungen erzeugen, wird darin sichtbar. So wurden die Werkssiedlungen durchwegs zur Kontrolle der ArbeiterInnen geplant, die durch die Übersichtlichkeit der Anlage und die wirtschaftliche Bindung an das Unternehmen erreicht wurde. Vollkommen autark, da die Siedlung sowohl Arbeitsplätze wie auch Versorgungs- und Freizeiteinrichtungen umfasste - also Fabrik, Hausgärten, Geschäft und Wirtshaus-, war sie vom anschließenden Dorf segregiert und jede Vermischung mit der ansässigen Bevölkerung unterbunden. Andererseits wurde aber durch die Kompaktheit und Multifunktionalität eine Wohnqualität erreicht, die angesichts nachfolgender Wohnkasernen nostalgisch stimmt. Und ein Gemeinschaftsleben und ein Gefühl der Solidarität ermöglicht, das sich dem Aspekt der Kontrolle entgegenstellte. Waren hier noch unterschiedlichste Tätigkeiten im Wohnumfeld möglich, verkam dieses in modernen Wohnanlagen häufig zu reinen Abstandsflächen. Wurde die optische Einheitlichkeit der Werkssiedlung durch die individuellen Aktivitäten automatisch gebrochen, sind die BewohnerInnen des nachfolgenden sozialen Wohnbaus zu oft seltsamem Tür- und Balkonschmuck gezwungen, um ihre Individualität geltend zu machen. Die Konsequenzen daraus wurden in den 80er-Jahren gezogen; die modernen Wohnmaschinen kamen in Verruf und wurden fortan durch Bemalungen oder verschiedensten Arten formaler Auswüchse »differenziert«. Als Gegenkonzept entstand in letzter Konsequenz schließlich, was man heute unter dem Begriff »Themenwohnen« versteht: »Wohnen als die Summe individueller Bedürfnisbefriedigung, realisiert durch die Ausformung der gebauten Umwelt und das Angebot lebensstilspezifischer und zielgruppenorientierter Dienstleistungen.[1]« Darunter fallen vorbildliche Öko-Siedlungen ebenso wie Schotterteichsiedlungen oder - in Österreich bis jetzt einzigartig gebliebene - Phänomene wie der Wohnpark Fontana in Oberwaltersdorf. Inwieweit in solchen Siedlungen tatsächlich Gemeinschaft erreicht wird, ist fraglich - klischeehaft erzeugt und als Produkt erwerbbar, reduziert sie sich eher auf eine gemeinsame optische Repräsentation. Und wie die strukturelle Nähe zu den historischen Arbeitersiedlungen zeigt, ist der Effekt der Kontrolle, wie er durch zentralisierte Organisation und Segregation vom Umland erzeugt wird, der Preis, der für diese Art der Gemeinschaft zu zahlen ist.

Sabine Pollak, Edeltraud Haselsteiner, Roland Tusch, ORTE architekturnetzwerk niederösterreich.
In nächster Nähe. Ein Handbuch zur Siedlungskultur in Niederösterreich.
St. Pölten 2002 (Schriftenreihe der Niederösterreichischen Wohnbauforschung, Band 3)
225 S., Kostenlos zu bestellen bei ORTE architekturnetzwerk niederösterreich, Steiner Landstraße 3, 3504 Krems-Stein, gegen Abgeltung der Versandkosten.

Fußnoten


  1. »Wohnträume. Nutzerspezifische Qualitätskriterien für den innovationsorientierten Wohnbau«, eine Studie, durchgeführt vom Österreichischen Ökologie-Institut für angewandte Umweltforschung, Wien 2001 ↩︎


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