» Texte / Wien ist Filmstadt – Urbane Kinokultur divers und emanzipatorisch leben

Ursula Maria Probst


Die Viennale 2023 will vor allem eines: Neugierig machen auf ein diverses, emanzipatorisches, politisches Kino, das Polarisierungen nicht scheut. In den vergangenen Jahren hat die Viennale als internationales Festival einen ihrer Programmschwerpunkte zunehmend auf den österreichischen Film verlagert. Wien befindet sich als Filmstadt auf Expansionskurs, will die identitätsstiftende Wirkung des Films als Auslöser für gesellschaftsrelevante Diskurse nützen und urbane Kinokultur leben. Das gelingt, wie wir anlässlich der 61. Viennale durch Filme wie Club Zero von Jessica Hausner, Stillstand von Nikolaus Geyerhalter oder Vista Mare von Julia Gutwenger und Florian Kofler sehen, durch den Ausbau entsprechender Ressourcen in der Förderung und Produktion. Die Viennale gestaltet sich infolgedessen zu einer wichtigen nachhaltigen Plattform, wo entsprechende politische und strukturelle Akzente gesetzt werden. Weiterhin eine zentrale Rolle spielen die Arthousekinos mit ihrem authentischen Flair als innerstädtische Austragungsorte, während an der Peripherie Wiens in Simmering eine Filmstadt im Entstehen ist, wo ab 2024 die Hafenstudios für österreichische und internationale Filmproduktionen in Betrieb gehen. Die Retrospektive des Ausnahmeregisseurs Raul Ruiz gibt mit Filmen wie El Realismo Socialista Einblicke in ein Kino, das sich laut Viennale-Direktorin Eva Sangiorgi gegen Dogmatismus, Konventionen und Orthodoxien wendet. Es ist auch kein Zufall, dass dieser Programmschwerpunkt zeitgleich mit dem 50. Jahrestag des Putschs in Chile gesetzt wurde, über den Ruiz einen mehrteiligen Film gedreht hat. Der Putsch setzte Visionen einer gerechten Gesellschaft ein blutiges Ende. Es folgte eine jahrzehntelange Diktatur, deren Traumata tief sitzen.
        Wie humanitäre aktivistische Hilfsmaßnahmen kriminalisiert werden und welche geopolitische Machtdynamiken Menschen in Not durch Pushbacks und Verbarrikadierungen an der EU-Außengrenze erleben, thematisiert eindringlich das Politdrama Zielona Granica / The Green Border von Agnieszka Holland. Als Farbfilm beginnend switchen die Szenen, welche die Ankunft einer syrischen Familie in Belarus zeigen, in affektvolle, an das Gewissen der Zuschauer:innen appellierende Schwarzweiß-Bilder. In der Hoffnung auf eine bessere Zukunft wollen die Protagonist:innen über Belarus zu Verwandten nach Schweden. Ein Plan, der durch den Tod ihres Sohnes im Sumpfgebiet der Grünen Grenze tragisch erschüttert wird. Der Film führt drastisch vor Augen, wie der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko durch eine perfide Visa-Masche systematisch Migrant:innen aus Afghanistan, Syrien, Iran, Jemen und Kongo ins Land lockt und diese dafür benutzt, um politischen Druck auf die EU und vor allem Polen auszuüben. Das Versprechen einer sicheren Durchreise entlarvt sich als Lüge, weder Polen noch Belarus wollen die Geflüchteten aufnehmen oder passieren lassen. Agnieszka Holland konfrontiert uns damit, wie Menschen wie ein junger Grenzschutzbeamter (Tomasz Wosok) oder eine Aktivistin (Maja Ostaszewska) in Extremsituationen agieren, ob das Verlangen nach Gerechtigkeit oder das eigene Sicherheits- und Komfortbedürfnis, Obrigkeitsgehorsam oder Opportunismus siegen. The Green Border ist ein humanitäres Meisterwerk, das für Polarisierungen sorgt. Einschüchterungsmethoden polnischer Politiker:innen und Hasskampagnen zwangen die Regisseurin, selbst Personenschutz zu beanspruchen.
        Mit Machtgefällen und Neokolonialismen in den Krisenregionen befasst sich der Film Europa der Regisseurin Sudabeh Mortezai, der den diesjährigen Spezialpreis der Jury erhielt. Europa nimmt uns mit auf die Reise der ehrgeizigen Managerin Beate Winter, gespielt von Lilith Stangenberg, die sich als Botschafterin eines skrupellosen Systems auf geheimer Mission befindet und für das internationale Konzern-Europa in Albanien die Bewohner:innen zum Verkauf ihres Landes animiert. Gestartet wird der kapitalistische Eroberungsfeldzug in einer Universität in Tirana, wo unter der Vorgabe feministischen Empowerments Sympathisant:innen gewonnen werden sollen. Die Eskalation ist programmiert, eine kleine Gemeinschaft autarker Bauern setzt sich zur Wehr und entlarvt deren Motive. Der Film Les Meutes von Kamal Lazraq, der in einem Vorort von Casablanca spielt, wirft einen anderen Blick darauf, wie durch prekäre Lebenssituationen ein brutaler Überlebenskampf entsteht.
        Stark vertreten ist dieses Jahr wieder der mexikanische Film, der uns durch Filme wie Tótem von Lila Aviles unmittelbar in Fragestellungen darüber eintauchen lässt, wie in der Routine von Alltäglichkeiten gefangen Trauerarbeit möglich ist. Welchen Risiken der aktivistische Kampf im brasilianischen Regenwald ausgesetzt ist, behandeln Filme wie Crowrã / The Buriti Flowr von João Salaviza und Renée Nader Messora und A Invencao do outro / The Intervention of the other von Bruno Jorge. The Interventions of the other nimmt uns mit auf die Expedition einer Gruppe vom Volk der Korubo auf der Suche nach deren Verwandten, die bisher keinen Kontakt zur Außenwelt hatten und deren Reservoir durch kapitalistische Invasionen extrem gefährdet ist. Beglückende Momente des Zusammentreffens können nicht über die latenten Bedrohungen hinwegtäuschen. Der das Projekt vorbereitende und begleitende Aktivist und Ethnologe Bruno Pereira wurde 2022 von illegalen Fischern ermordet, als er mit dem britischen Journalisten Dom Phillip für Recherchen zu How To Save The Amazon über illegale Rodungen, Brände und zur Gier der Menschen am Fluss unterwegs war.


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