Noëmi Leemann


Zwanzig Jahre blieb die Schausammlung vom Museum für angewandte Kunst/ Gegenwartskunst (MAK) unverändert; nun ist unter der neuen Direktion von Christoph Thun-Hohenstein mit der Ausstellung Wien um 1900. Kunstgewerbe 1890-1938 der erste Teil einer zweiphasigen Neuaufstellung realisiert worden: Objektnah und mit klaren didaktischen Thesen ist die Ausstellung kulturhistorisch ausgerichtet und hinterfragt eine modernistische Sichtweise auf die kunstgewerbliche Entwicklung um 1900 in Wien. So etwa legt der Kurator Christian Witt-Dörring besonderen Wert darauf, die Objekte in ihrer Historizität, vor allem auch hinsichtlich der Sammlungsgeschichte des MAK zu zeigen. Bei den Exponaten angebrachte Nummern verweisen auf ein Booklet, in welchem sich die Besucherin informieren kann: nicht nur wer es entworfen hat, wann und wo es angefertigt wurde, die Ausführung und das Material, sondern auch das Ankaufsdatum durch das Museum ist hier nachzulesen. Nicht eine kunsthistorisch-stilistische Betrachtungsweise, sondern vielmehr ein mentalitätsgeschichtlicher Einblick in einen spezifisch österreichischen Formfindungs- und damit auch Wertfindungsvorgang bildet den Kontext für die über 500 gezeigten Objekte.
Gegliedert ist die Ausstellung in drei thematische Räume: Auf der Suche nach einem modernen Stil, Der Wiener Stil und Vom Wiener Stil zum internationalen Stil. Den großen Zeitrahmen von 1890 bis 1938 durchschreitet der Besucher zwar chronologisch (durch einen in das Ausstellungsdisplay integrierten Zeitstrahl unterstützt), wird aber immer wieder mit Exponaten aus anderen Zeit- oder Raumkontexten dazu aufgefordert, den Wiener Stil mit ähnlichen Phänomenen aber auch Gegenbewegungen zu vergleichen. Auf diese Weise entsteht ein sehr offenes Narrativ, welches die Programmatik der Entwerfer, den Geschmack der Käufer, aber auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen berücksichtigt und nicht zuletzt auch die Darstellung psychologischer Funktionen von angewandter Kunst beinhaltet.
Im ersten Saal sind vorwiegend zeitgenössische Erwerbungen des Museums aus Großbritannien, Holland, Frankreich und Deutschland zu sehen, wo Reformschritte im Kunstgewerbe bereits um 1890 erfolgreich umgesetzt worden waren und Objekte von dort deshalb in die als mustergültig konzipierte Sammlung des MAK Eingang fanden. Auch das japanische Kunstgewerbe als zentrale Inspirationsquelle, insbesondere für die Sezessionisten, ist hier repräsentiert. In der Mitte des Raumes sind neben einem Schreibtisch von Henry van de Velde als beeindruckendes Beispiel des kurvig-linearen, französisch belgischen Jugendstils, mit Koloman Mosers Buffet Der reiche Fischzug, wie auch mit dem von Otto Wagner für seine eigene Wohnung entworfenen Geschirrschrank Exponate zu sehen, die den spezifisch österreichischen Weg zur geometrischen abstrakten Form nachvollziehbar machen. Zusammen mit den an den Wänden hängenden Plakaten von Ausstellungen des Kunstgewerbevereins, der Secession oder dem Plakat der österreichischen Beteiligung an der Weltausstellung in Paris 1900 ist eine storyline erkennbar, die erstens die vielen ausländischen Einflüsse in der Herausbildung eines Wiener Stils zeigen und zweitens die Bedeutung des Mediums Ausstellung nicht nur in seiner repräsentativen, sondern auch in seiner sozialen, weil gelebten Ausprägung betonen. Auch die radikale Position von Adolf Loos, die den Schlusspunkt vom ersten Saal bildet, fügt sich in diese Erzählung ein: zum einen mit dem anglophilen Formenrepertoire der Sitzecke aus dem Herrenzimmer der Familie Turnowsky und zum anderen mit Loos’ philosophischer Opposition zu der Idee des Gesamtkunstwerks wie es in den Ausstellungen der Secession popularisiert wurde.
Der zweite und zentrale Saal ist der Wiener Werkstätte und der Kunstgewerbeschule gewidmet, gleichsam der formal-stilistischen Moderne der Secession. Im ersten Teil werden die frühen provokanten, im zweiten Teil die ab 1905 lieblicher gestalteten Produkte und Schülerarbeiten gezeigt. Und immer wieder wird die Besucherin überrascht: Neben einem Sessel, den Josef Hoffmann 1904 für den Speisesaal vom Sanatorium Purkersdorf entworfen hat, ist ein Bürostuhl von Frank Lloyd Wright zu sehen. Beides sind industriell gefertigte Produkte, nur hat Hoffmann die Ausführung hinter einer handwerklichen Fassade versteckt und Wright dieselbe radikal betont. Aber auch das Nebeneinander von Wagners Funktionsstil und Hoffmanns Kreationen im Sinne des Gesamtkunstwerk, sind ansprechend inszeniert und machen insbesondere mit den im zweiten Teil gezeigten, formal so überraschenden rokokoaffinen Möbeln von Dagobert Peche die These eines nicht-linearen Formfindungsprozesses nachvollziehbar. So forderte Peche in den 1920er-Jahren die „Überwindung der Utilität“ und stellte sich gegen die von den Secessionisten geforderte Einheit der Künste. Funktion und Form seien zweierlei und das Ornament für den Entwurfsprozess dann legitim, wenn die individuelle Kreativität im Vordergrund stehe. Nicht ein Stil, vielmehr der Geschmack ist für diese Position massgebend, die wiederum der emanzipatorischen Moderne von Adolf Loos ähnlich ist und die Besucherin in den dritten Saal der Ausstellung überführt. Der dritte Saal ist der Zeit vom Ersten Weltkrieg bis zum österreichischen Anschluss 1938 gewidmet und der mit Abstand politischste Raum: neue spezifisch österreichische Repräsentationsformen – von Motiven populistischer Politik in der Gebrauchsgraphik bis zum „Neuen Wohnen“ einer demokratisch modernen Gesellschaft – kommen hier zur Sprache, aber auch der durch die allmähliche Machtübernahme der Nationalsozialisten erfolgte Brain-Drain jüdischer Architekten wie Josef Frank und das neue Selbstverständnis der auf eine kleine Republik zusammengeschrumpften Donaumonarchie.
Im Zentrum steht die sogenannte Zweite Wiener Moderne und ihr Verhältnis zum Internationalen Stil. Die undogmatische, auf Individualität und Wohnlichkeit bedachte, in Anlehnung an Loos aber dezidiert moderne Position der Wiener Architekten wie Josef Frank, Oskar Strnad und Oskar Wlach , ist etwa mit Entwürfen von der Firma Haus & Garten oder mit Möbeln von der Ausstellung Einfacher Hausrat aus dem Jahre 1916 präsentiert; zum Vergleich und als Kontrast dienen Beispiele wie der rotblaue Armlehnsessel von Gerrit Rietveld von der De Stjil-Bewegung oder der Stahlrohrsessel von Marcel Breuer vom deutschen Bauhaus. Gezeigt sind aber auch Kreationen von Josef Hoffmann, der in der Mitte der 1930er-Jahre bei der Spaltung des österreichischen Werkbundes zu den Gallionsfiguren zählte und indes für ein ländliches, rustikales und touristisch geprägtes Image von Österreich steht oder das von der Sozialistin Margarete Schütte-Lihotzky 1925 eingerichtete Wohn- und Schlafzimmer für die Frau von Hermann Neubacher, der zehn Jahre später für den Anschluss agierte und 1938 Bürgermeister von Wien wurde.
Nicht nur diese im Gegensatz zu den beiden ersten Sälen viel heterogenere Geschmacksvielfalt, sondern auch der bewusst gewählte politische Schlusspunkt 1938 macht das Erbe von Wien 1900 nicht nur formal im tradierten Qualitätsbewusstsein der Sezessionisten und kulturell in der Rezeption von Loos’ Kulturkritik erkennbar, sondern auch sozial wirksam im Hinblick auf die aktuelle Wahrnehmung der Ausstellung von den Besucherinnen und Besuchern und der Fachwelt. So ist die Ausstellung nicht zuletzt Teil einer seit den 1980er-Jahren virulenten Wiederentdeckung der Wiener Moderne in Österreich, die sich in der Sammlungspolitik des MAK zeigte und die in der nun intendierten Positionierung des Museums als internationales Kompetenzzentrum für Wien um 1900 gleichsam einen neuen Ort findet.


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