Patricia Köstring


Topografie bedeutet soviel wie »Beschreibung und Darstellung geografischer Örtlichkeiten«. Das Wort selbst macht deutlich, dass es um mehr geht als nur um ein Abbildungsverhältnis von Land und Plan: Die Lage wird erst zur Lage durch die Beschreibung, die gleichzeitig eine Aneignung ist.

»Topografie« war das Schlüsselwort von Wien umgehen, »Zeit« der Schlüssel zu dieser ersten Factory Season des Tanzquartier Wien. 23 Bezirke hat Wien, 23 Künstlerinnen und Künstler hatte das Tanzquartier für Mai und Juni 2002 eingeladen, jeweils einen dieser Bezirke zu erkunden, zu beschreiben, zu umgehen.
Folgende Fragestellungen galt es, mit Leben zu erfüllen: Kann eine vor Ort realisierte künstlerische Praxis den urbanen Raum Wiens neu vermessen? Wie speisen sich die Codes, aus denen die Karten einer Stadt bestehen? Das Ziel: eine andere Karte Wiens, eine Karte bestehend aus Bewegung, aus Handlungs-Choreografien, eine Karte, die eben nicht als Geste der territorialen Aneignung bestehen bleibt, sondern das soeben abgetastete Gebiet auch wieder loslassen kann.
Der Gesamtprojektdauer von acht Wochen standen kleine Zeiteinheiten gegenüber: maximal zehn Tage Aufenthalt im Bezirk waren eingeplant, vor der Folie dieser Vorgabe galt es, die eigenen künstlerischen Vorgehensweisen zu Rate ziehend, eine Methode zu entwickeln, eine Handlung zu setzen, die eben diesen zugewiesenen Bezirk zu fassen vermöge.
Wann auch immer der Aufenthalt eines Künstlers/einer Künstlerin begann, offiziell endete er mit der Teilnahme an einem von acht Samstag-Salons, die jenen Präsentationsrahmen darstellten, an dem die Ergebnisse der künstlerischen Recherchen in Video, in Zeichnung, im performativen Akt einem »zweiten Publikum« vorgestellt wurden. Dem zufälligen Publikum der Straße folgte eines mit Erwartungshaltung, eines, das Ergebnisse und Erkenntnisse sehen wollte. Es war eine erstaunlich große Gruppe von Menschen, die auch bereit waren, über das Gesehene zu diskutieren, ihren Blick auf die kleinteiligen Räume der Stadt Wien mit jenem der Künstlerinnen und Künstler zu vergleichen. Die Entdeckungen Wiens in dieser engen samstäglichen Zeitstruktur zu verdichten, Analogien zu dem zu finden, was in den maximal zehn Tagen erlebt, erarbeitet und ergangen wurde – darin lag eine letzte und besondere Herausforderung an die lokalen und internationalen Beteiligten, die ihre Recherchen aus verschiedenen künstlerischen Produktionsfeldern wie Tanz und Performance, Bildender Kunst, Theater und Theorie entfalteten: Wien umgehen präsentierte unmittelbare Analysen der Stadt. Zeit zum Üben gab es keine.
Wien umgehen, dieses Projekt in und mit öffentlichem Raum, bündelte sich über acht Wochen lang jeweils mittwochs, freitags und samstags am Ort Tanzquartier.
Der Studiokomplex, während des Jahres Raum für Training, Workshops und Labore, wurde zur Hauptspielstätte. Mittwochs und freitags für tänzerische und performative Arbeiten, die in der intimen und konzentrierten Atmosphäre der Studios stattfanden, jeweils samstags für den Bausatz aus Vortrag, Bezirksbetrachtung und Filmprogramm. Filmprogramm und eben insbesondere auch die Vorträge internationaler ReferentInnen aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, von denen einige auf den folgenden Seiten abgedruckt sind, ergänzten das Projekt durch unterschiedliche theoretische Zugänge zu topografischen, kartografischen, kognitionstheoretischen und choreografischen Fragestellungen.
Neben der ephemeren Struktur der präsentierten Handlungen, der Gedankengänge und Analogien verwandelte sich das Tanzquartier auch zum archivarischen Raum, jeweils ein Relikt aus dem Aufenthalt galt es, in eine wachsende Archivlandschaft der Künstlerin Barbara Holub einzubauen. Die Stadt fügte sich neu in einer verschlüsselten Landschaft der Referenzobjekte.
Die jetzt vorliegende Dokumentation zur ersten Factory Season des Tanzquartier Wien ist wie diese Archivlandschaft, vielleicht auch wie die Samstage selbst, ein Ausschnitt, ein Einblick, eine Reminiszenz, eine Denkanregung, eine Analogie. Nicht umsonst hat sich Wien umgehen in einem letzten Schritt in eine Zeitschrift eingefügt, die sich unter dem programmatischen Titel dérive Diskursen des Urbanen und der Stadtforschung widmet und die für mehr steht als nur für gebaute Architektur.

TeilnehmerInnen:
Anette Baldauf, Katharina Bamberger, Werner Bechter, Paolo Bianchi, Sabine Bitter, Andrea Bold, Pavel Braila, Gabriele Brandstetter, Alice Chauchat, Katrina Daschner, Ugo Dehaes, Ricarda Denzer, Bernadette Dewald, eSeL, João Fiadeiro, Simon Frearson, FSK (Justin Hoffmann, Wilfried Petzi), Miguel Angel Gaspar, Laurent Goldring, Myriam Gourfink, Katharina Gsöllpointner, Nik Haffner, Mona Hahn, Bettina Henkel, K. J. Holmes, Barbara Holub, Jaroslaw Kapuscinski, Gabriele Klein, Hubsi Kramar, Elke Krasny, Krassimira Kruschkova, Walter Lauterer, Xavier Le Roy, Siegfried Mattl, Mihai Mihalcea, Nicholas Mortimore, Michael Moser, Wolfgang Musil, Marius Pfannenstiel, Barbara Pichler/sixpackfilm, madcc psukb/theaterkombinat wien, Paul Rajakovics, FE Rakuschan, Stella Rollig, Gernot Schmiedberger, Georg Schöllhammer, Michael Schreckenberg, Hooman Sharifi, Wolfgang Stengel, Davide Terlingo, Claudia Triozzi, Helmut Weber, Paul Wenninger, Michael Widmer-Willam, Michael Zinganel


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