Christoph Laimer

Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.


Genau 100 Jahre ist es her, als die sozialdemokratische SDAP die ersten freien Kommunalwahlen in Wien mit absoluter Mehrheit gewonnen hat und die Ära begann, die später das Rote Wien genannt werden sollte. Damals war vom Neuen Wien die Rede, das erinnert an das Neue Frankfurt, das in einigen Jahren ebenfalls sein 100-Jahr-Jubiläum feiern wird. (Im DAM läuft übrigens noch bis 18. August unter dem Titel Neuer Mensch, Neue Wohnung eine Ausstellung über das Wohnbauprogramm des Neuen Frankfurt, die einen interessanten Vergleich mit dem Roten Wien ermöglicht.) Das Rote Wien ist aus heutiger – vielleicht noch mehr als aus damaliger Sicht, das muss einfach gesagt werden, eine unglaublich beeindruckende Leistung. Man hält es kaum für möglich, dass dieses »Projekt der radikalen Spätaufklärung« (Wolfgang Maderthaner) unter den elenden Bedingungen und schwierigsten Voraussetzungen, die nach dem Ersten Weltkrieg herrschten, umgesetzt werden konnte. Ob dieser Tatsache ist man einigermaßen verwundert, dass die Stadt Wien mit dem Jubiläum überraschend zurückhaltend umgeht. Eine Zurückhaltung, die für Wien ungewöhnlich ist. Gerade heute, wo die Idee des Munizipalismus als neue Hoffnung der linken Stadtpolitik gilt, sollte ein großer internationaler Kongress zum Roten Wien und seiner Bedeutung für die Gegenwart wohl das Mindeste sein, was man sich erwarten können müsste. Umso erfreulicher, dass das Wien Museum sich der Aufgabe angenommen hat, eine Ausstellung über das Rote Wien zu zeigen und das trotz der räumlich beschränkten Möglichkeiten, die das umbau-bedingte Ausweichquartier im MUSA zu bieten hat.
Die erste Überraschung beim Betreten des Ausstellungsraums ist die angenehm luftig-helle Atmosphäre, die einen erwartet. Viel helles Holz und eine maximale Ausnutzung der Wandflächen haben es ermöglicht, auf im Raum positionierte Stellwände zu verzichten. Die Projektionsflächen und die wenigen Ausstellungsobjekte, die im Raum stehen oder hängen, schränken das Blickfeld keineswegs ein, wodurch ein angenehmes Raumgefühl erzeugt wird. Möglich ist diese Zurückhaltung allerdings natürlich nur, weil die Ausstellung über eine Vielzahl von Außenstellen verfügt, ein großes Begleitprogramm geboten wird und ein umfangreicher Katalog vorliegt, auf den an anderer Stelle noch eingegangen werden wird.
Die Ausstellung beginnt mit Einblicken in die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung in den Jahrzehnten vor dem Roten Wien. Neben amüsanten Ausstellungsstücken, wie einer roten Rodel mit der Friedrich Adler, sozialdemokratischer Politiker und Sohn des Gründers und langjährigen Vorsitzenden der SDAP Victor Adler, als Kind offenbar Wiens verschneite Hänge hinabrutschte, beeindruckt in seiner inhaltlichen Klarheit vor allem eine Titelseite der Arbeiter-Zeitung vom 2. Februar 1896. Die Überschrift lautet klipp und klar: »Was die Sozialdemokraten von der Kommune fordern!« Dann wird ein Punkt nach dem anderen aufgezählt und kurz erläutert und man fragt sich, warum man sowas heute nicht zu lesen bekommt. Es geht um das Wahlrecht, um Bildung, Wohnen und vieles anderes; schlicht und einfach und gerade deswegen überzeugend.
Über den auf Augenhöhe zu sehenden Objekten sind in der ganzen Ausstellung Reproduktionen von fantastischen, großformatigen Fotos aus dem 1924/25 von Otto Neurath gegründeten Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum zu sehen. Die meisten wurden 1926 angefertigt und zeigen zahlreiche Aufnahmen von Gemeindebauten, aber auch von Siedlungen wie derjenigen in der Hoffingergasse von Josef Frank oder Adolf Loos’ Siedlung am Heuberg. Zum Teil handelt es sich um Luftaufnahmen, die auch die jeweilige Umgebung zeigen, was natürlich speziell für WienerInnen besonders interessant ist, weil sie einen Vergleich mit dem Heute ermöglichen. Auf den Fotos zu sehen sind auch ArbeiterInnen bei der Ziegelproduktion oder ein Kalkwerk, Kinder im Freibad oder Leute in ihren kleinen Selbstversorgergärten.
Der Wohnbau als international bekanntester Aspekt des Roten Wien nimmt in der Ausstellung natürlich einen wichtigen Teil ein, ist aber trotzdem nur einer von zahlreichen. Die Reformpädagogik Otto Glöckls, das Bildungsprogramm der Volkshochschulen, das Gesundheitswesen oder die Arbeiterkultur sind weitere wichtige Abschnitte der Ausstellung. Klarerweise könnte man über jeden einzelnen Aspekt eine eigene Ausstellung machen, alleine über den oben erwähnten Otto Neurath gäbe es Unmengen zu erzählen und zu zeigen. Die Notwendigkeit, sich jeweils auf Ausschnitte des Themas zu beschränken, meistern die KuratorInnen sehr gut.
Mit der Demonstration gegen den Freispruch der »Arbeitermörder von Schattendorf« im Zuge derer 84 TeilnehmerInnen von der Polizei erschossen und der Justizpalast angezündet wurde, werden die Grenzen des Konzepts des reformistischen Kommunalsozialismus sichtbar. Spätestens ab diesem Zeitpunkt hätte der Spitze der SDAP klar sein müssen, dass es dem äußerst aggressiv auftretenden politischen Gegner nicht um einen Wettstreit der politischen Ideen, sondern um die Vernichtung des verhassten Roten Wien ging. Dass die politische Auseinandersetzung in diesem Jahr schärfer wurde, unterstreicht auch ein Aufruf führender Intellektueller, Wissenschaftler und KünstlerInnen, der in der Ausstellung zu sehen ist. Hans Kelsen, Alma Mahler, Robert Musil, Sigmund Freud und zahlreiche andere unterzeichneten vor den National- und Gemeinderatswahlen im April 1927 einen Aufruf, der als Wahlempfehlung für die Sozialdemokratie und als Warnung vor der Einheitsliste von Christlichsozialen, Großdeutschen und NationalsozialistInnen gewertet wurde: »Angesichts des politischen Kampfes in dieser Stadt fühlen wir uns vor unserem Gewissen verpflichtet, folgende Erklärung abzugeben.« »Das geistige Wien«, so die Arbeiter-Zeitung, strich darin die »großen sozialen und kulturellen Leistungen« hervor und warnte, sich von »ökonomischen Bewegungen und politischen Schlagworten« betäuben zu lassen. Das Wahlergebnis bei den Wiener Gemeinderatswahlen 1927 war mit 60 Prozent das beste, das die SDAP erreichte. 1929, zwei Jahre später, setzte die Weltwirtschaftskrise Wien hart zu. 1932 erreichten die SozialdemokratInnen bei den Wahlen noch einmal 59 Prozent, doch erstmals schnitt auch die NSDAP mit 17 Prozent stark ab. Der Bürgerkrieg im Februar 1934 besiegelt das Ende des Roten Wien.
Antworten auf die vielen Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, liefert die Ausstellung natürlich nicht, das ist aber auch nicht ihre Aufgabe. Ob es ein Fehler der SDAP war, den Wienern und Wienerinnen zwar eine breite Palette an Kultur-, Sport- und Bildungseinrichtungen anzubieten, politische Diskussion allerdings nicht zu fördern und ausschließlich auf eine Top-down-Politik zu setzen, wäre nicht nur rückblickend ein spannendes Thema. Dass oppositionelle linke Stimmen gerne diskreditiert wurden, zeigt ein weiteres Plakat in der Ausstellung aus 1919, in dem gegen »gewissenlose Scheinradikale« gehetzt und die »Provokation der Unbesonnenen« kritisiert wurde, gemeint waren die AnhängerInnen der Rätebewegung.
Den KuratorInnen Werner Michael Schwarz, Elke Wikidal und Georg Spitaler ist es, was die Schwerpunktsetzung anbelangt, gelungen, eine inhaltlich sehr ausgewogene Ausstellung zusammenzustellen, die einen ausgezeichneten informativen Überblick liefert. Darüber hinaus haben sie versucht, auf spezielle Themen, auf die nicht ausführlich eingegangen werden konnte, zumindest mit einzelnen Objekten zu verweisen. Wer genug Zeit hat, findet in den zahlreichen aufliegenden Büchern vielleicht die eine oder andere Antwort auf offene Fragen. Schauen Sie sich das an!


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