» Texte / Wohnmodelle mit beschränkter modellhafter Wirkung

Markus Bogensberger


1966 forderte Viktor Hufnagl zusammen mit Wolfgang und Traude Windbrechtinger anlässlich der ÖGFA-Ausstellung Neue Städtische Wohnformen höchste künstlerische Qualität für den Wohnbau als verantwortungsvollste Bauaufgabe unserer Zeit ein.
44 Jahre später haben sich die Kuratoren Oliver Elser und Michael Rieper dazu entschlossen, mangels zeitgenössischer lokaler Alternativen die Terrassen-haussiedlung der Werkgruppe Graz in ihre Ausstellung Wohnmodelle – Experiment und Alltag im Stadtmuseum Graz aufzunehmen. Ein Projekt, welches bereits im Katalog der einstigen ÖGFA-Ausstellung ausführlich erläutert wurde. Dieses kleine Déjà-vu ist ein Hinweis darauf, dass Politik und Verwaltung den (experimentellen) Wohnbau in den vergangenen Jahren sträflich vernachlässigt haben.
Den Kern der Ausstellung bilden 11 Projekte, die im Zuge eines Symposiums zum Thema Wohnbauten weltweit von ArchitekturkritikerInnen aus verschiedenen Ländern und Kontinenten aus einem Fundus von 60 vorgestellten Projekten ausgewählt wurden. Experiment und Modellhaftigkeit in der Praxis und eine Distanz zu zeitgeistiger Architektur für Hochglanzmagazine sollten die vor höchstens zehn und mindestens zwei Jahren fertiggestellten Gebäude miteinander verbinden.
Das Spektrum der vorgestellten Bauten ist dementsprechend weit gestreut. Vom Baugruppenmodell ten in one in Berlin über 17 Reihenhäuser in den Niederlanden, die Adaption von Geschoßbauten aus den 1950er Jahren in Chicagos Chinatown bis zum 420 Wohnungen umfassenden Shinonome Canal Court-Projekt in Tokio spannt sich der Bogen an Varianten des Wohnens.
Besonders schwierig stellte sich offenbar die Suche nach avancierten Wohnbauten in den ostmitteleuropäischen und südosteuropäischen Ländern dar. Diesen Umstand nahmen die Organisatoren zum Anlass, die Ausstellung nach dem Wiener Künstlerhaus im Belgrader Museum of Yugoslav History und in der Sofia Art Gallery zu zeigen, wo sie intensiv geführte Diskussionen unter den lokalen AkteurInnen anregte.
Das Ausstellungskonzept an sich basiert auf Modelldarstellungen aus Karton in verschiedensten Maßstäben, ergänzt durch Pläne, Datenblätter und Hinweise auf die Besonderheiten der Projekte. Diashows mit meist von BewohnerInnen erstellten Aufnahmen der Gebäude im Gebrauchszustand vermitteln einen Eindruck von deren Alltagstauglichkeit und den sich durchaus international ähnelnden Aneignungsweisen der NutzerInnen. Vor allem die begehbaren 1:1-Modelle funktionieren gut, um AusstellungsbesucherInnen alternative Möglichkeiten für räumliche Konzeptionen zu vermitteln.
Sowohl die gelungene Gestaltung des Kataloges als auch die ansprechende Szenografie und Ausstellungsgrafik spiegeln die umfangreiche Erfahrung des Kuratorenteams Oliver Elser – mittlerweile am DAM in Frankfurt tätig – und Michael Rieper wider. Michael Rieper stellt in seiner Multifunktion als Lehrender an der TU Wien, Teil des Architekturbüros Frank Rieper, Entwickler von temporären Strukturen zusammen mit Peter Fattinger und Veronika Orso sowie Betreiber der Agentur für visuelle Medien MVD networks ohnehin eine Ausnahmeposition in der österreichischen Architekturszene dar.
Ergänzt werden die Projekte durch eine 1:1-Installation von »Österreichs häufigstem Wohnzimmer« – eine Leihgabe der Werbeagentur Jung von Matt, welche recht ernüchternd die kulturelle Ausgangsbasis für innovativen Wohnbau illustriert.
Eine zentrale, wenn auch ursprünglich vermutlich nicht intendierte Aussage der Ausstellung ist jedoch, dass kaum eines der vorgestellten Projekte eine modellhafte Wirkung entfalten konnte. Lediglich am bestehenden Wohnungsmarkt orientierte Projektansätze wie die Schweizer Wohnüberbauung Balance Uster, die in Form von Punkthäusern hohe Flexibilität und eine mit Einfamilienhäusern vergleichbare Wohnqualität bietet, scheinen auch auf eine entsprechende Nachfrage zu treffen. Weder der mit industriellen Gewächshäusern erweiterte Wohnbau von Lacaton & Vassal in Mulhouse noch die für Eigenausbau konzipierten Bauten von Elemental in Chile sind in größerer Anzahl reproduziert worden. Und selbst das Wiener Vorzeigemodell der Sargfabrik hat es bis dato nur zu einem einzigen Ableger geschafft. Offenbar sind der erforderliche Energieaufwand und der Anspruch an das persönliche Engagement aller Involvierten von einem derart großen Ausmaß, dass eine Reproduktion bzw. Wiederholung der über das Normalmaß hinausreichenden Prozesse die langfristigen Möglichkeiten der AkteurInnen übersteigt.
Umso bedeutsamer erscheint der mit dieser Ausstellung unternommene Versuch, der Wohnbaudiskussion frischen Schwung zu verleihen und somit weiterhin nach neuen städtischen Wohnformen zu suchen.


Ausstellung
Wohnmodelle. Experiment und Alltag
Eine Ausstellung von Oliver Elser und Michael Rieper
Stadtmuseum Graz
26. November 2010 bis 27. März 2011


Heft kaufen