» Texte / Wohnungsfrage – kollektive Inseln und Archipele

Adina F. Camhy


Rund um das Ausstellungsprojekt Wohnungsfrage, das 2015 im Haus der Kulturen der Welt in Berlin gezeigt wurde, entstand eine gleichnamige thematisch als auch optisch bunt gestaltete Publikationsreihe bei Spector Books. Neben historischen Texten und aktuellen Case Studies werden in der zwölfteiligen Reihe auch Projekte von an der Ausstellung beteiligten Arbeitsgruppen präsentiert. In dialogischen Prozessen zwischen Architekturbüros und stadtpolitischen Initiativen wurden neue Wohnformate als 1:1-Modelle realisiert. Die Publikationen Dogma + Realism Working Group: Communal Villa. Production and Reproduction in Artists’ Housing und Kotti & Co + Estudio Teddy Cruz + Forman präsentieren den Output von zwei dieser Projekte.
Das letztgenannte Handbuch erschien in Doppelausgabe mit einem 240-seitigen Buch: und deswegen sind wir hier dokumentiert den jahrelangen Protest der MieterInnengemeinschaft Kotti & Co gegen steigende Mieten und Verdrängung und steht im Kontext der Geschichte des Berliner Bezirks Kreuzberg, die stark mit dem Thema (Arbeits-)Migration verknüpft ist. Das 2012 errichtete Gecekondu (türkisch für: »Über Nacht gebautes Haus«) am Kottbusser Tor ist Ort der Begegnung und Austragungsort für sichtbaren Widerstand: der Protest wird in den Alltag der BewohnerInnen getragen. Das Buch bildet dies ab und versammelt neben Stimmen aus der Kerngruppe auch Flugblätter und Pressemitteilungen.
Das Gecekondu von Kotti & Co, verstan- den als »Manifestation einer Idee« – ein Prozess, der durch die Verbindung von öf- fentlichem Raum und Wohnen neue soziale Räume erschließen kann –, bildet den Aus- gangspunkt für die Überlegungen des Architekten Teddy Cruz und der Politikwissenschaftlerin Fonna Forman. In Bezugnahme auf ihre Arbeit an der Grenze zwischen Tijuana und San Diego sehen sie Gemeinsamkeiten in einer Stadtentwicklung von unten. Lässt sich das Gecekondu am Kotti auf andere Orte übertragen?
Kotti & Co + Estudio Teddy Cruz + Forman nähern sich dieser Frage mit einem konkreten Entwurf an. Der Prozess und die Ergebnisse werden im viersprachigen Handbuch gezeigt, das Manual, Fotodokumentation, Gesprächsprotokoll sowie Visualisierung von Szenarien umfasst.
Das 1:1-Modell Retrofit Gecekondu kombiniert Standardelemente industrieller Lagersysteme zu einer elementaren Infrastruktur. Die Fertigteile dafür könnten laut Konzept aus einer maquiladora in Tijuana stammen – einer multinationalen Fabrik, deren Arbeitskräfte aus den dortigen Slums stammen. Die AutorInnen regen an, dass eine Top-Down-Distribution derselben dazu dienen könnte, in informellen Siedlungen an der US-mexikanischen Grenze mittels »kleiner Injektionen« urbane Prozesse von unten zu unterstützen. Unbeantwortet bleibt die Frage, ob das, was am Kotti an baulicher Struktur entstanden ist, auch auf andere Orte übertragbar ist. Lässt sich eine Bottom-Up-entwickelte räumliche Taktik nutzen, um als Top-Down-Strategie emanzipatorische Prozesse zu initiieren?
Der Entwurf einer Communal Villa von Dogma und Realism Working Group stellt die Frage nach einer gemeinschaftlichen Wohn-/Arbeitsmischform für KünstlerInnen. Er reformiert dabei das Konzept der bürgerlichen Villa und denkt es innerhalb der Strukturen des Mietshäuser Syndikats, eines Zusammenschlusses von deutschlandweit über 100 Hausprojekten. (Das Modell des Mietshäuser Syndikats, das die Häuser dem Immobilienmarkt entzieht, indem es einen Verkauf verhindert, existiert seit 2015 unter dem Namen Habitat auch in Österreich; siehe dérive 63).
Das englischsprachige Heft umfasst Darstellungen der Communal Villa und des Systems des Mietshäuser-Syndikats. Zu Wort kommen Robert Burghardt, ein in das Syndikat involvierter Architekt, und Florian Schmidt, Atelierbeauftragter Berlins.
Ein Essay nähert sich der Typologie der Villa und ihrer Einbettung in die Sphären von Produktion und Reproduktion an. Die freistehende Villa auf dem Land wird als individualistische Verräumlichung einer hierarchischen Ideologie der Häuslichkeit und des Privateigentums beschrieben – als eine »ideologische Decke«, die die Arbeit versteckt, die für ihren Erhalt notwendig ist. Der historische Überblick reicht von der romanischen über die palladianische Villa bis zu ihrer Demokratisierung als Einfamilienhaus. Am Ende des Essays steht der Wandel einer Dystopie zur Utopie – der Communal Villa.
Öffentliche Brachen in Berlin könnten der aus vorgefertigten Stahl- und Betonelementen bestehenden Communal Villa mit ca. 50 BewohnerInnen als Versuchsfeld dienen. Die »bewohnbare Wand«, die in der Ausstellung aufgebaut wurde, trennt persönliches Refugium von multifunktionalen Gemeinschaftsräumen. Eine rohe und abstrakte »Architektur der De-Individuation«, die kollektives künstlerisches Arbeiten forcieren soll, ist sowohl dem Studio, der traditionellen Villa als auch ihrer Fortsetzung im Einfamilienhaus diametral entgegengesetzt. Fragen nach dem Verhältnis der BewohnerInnen zu einer ausbeutenden und ausgebeuteten Creative Industry als auch die Rolle einer »Co-Working Villa« als möglichem Katalysator für Gentrifizierungsprozesse werden im Heft nicht thematisiert.
Communal Villa und Retrofit Gecekondudenken die Wohnungsfrage im Kontext aktueller ökonomischer, sozialer und politischer Konstellationen, die sich in Berlin manifestieren. Bei beiden Projekten spielt– wenn auch hinsichtlich Arbeitsmigration nicht sichtbar – die Beziehung von Arbeit und Wohnen eine bedeutende Rolle.
Mit dem Mietshäuser Syndikat und dem Gecekondu von Kotti & Co greifen die Entwürfe auf bereits vorhandene solidarische Netzwerke zurück. Der Versuch des In-Beziehung-Setzens der Beispiele auf globaler Ebene ist dabei entscheidend. Einzelne Projekte bzw. Orte als kollektive Inseln können als Teil eines Archipels sozialer Kämpfe gedacht werden. So macht das Aufeinandertreffen von Kotti & Co, Cruz und Forman eines besonders deutlich: die globale Relevanz der Wohnungsfrage und die Notwendigkeit die sie begleitenden Kämpfe von unten solidarisch zu denken: »Und spätestens als wir euch kennengelernt haben, [...] habe ich verstanden, dass es die ganze Welt betrifft.« (Zehra Ulutürk, Kotti & Co)


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