Zu einer Arbeit von Sean Snyder, ausgestellt in der Wiener Secession
Sean Snyder
Secession, Wien
Februar bis 24. April 2005
Als ich ungefähr sieben Jahre alt war, wurde ich an irgendeinem der trüben, regnerischen oder eiskalten Sonntage einer Wiener Kindheit ins Dommuseum von Sankt Stephan verbracht. Ich kann mich nicht erinnern, dass außer uns, also meiner Familie, dort noch jemand war; jedenfalls entdeckte mich der Aufseher und beschloss anscheinend, mir das Museum zu zeigen (das wird hier nicht besonders spektakulär). Wir sahen uns also eines dieser großen kelchartigen Gläser an, an dem vor allem eine Sache auffällig war (für mich) – nämlich, dass es riesige Löcher hatte. Er fragte mich, was ich sähe, und um ja nicht unhöflich, ungebildet oder kindisch zu erscheinen, gab ich ihm eine ziemlich genaue Beschreibung jeder kleinsten gravierten Blume, die ich entdecken konnte. Er wurde ungeduldig, sagte, hier und hier, aber die Löcher hätte ich dennoch nicht erwähnt, bis er es dann aussprach, um daraufhin detailliert über einen Pilz zu reden, der Berg- oder Bleikristall, oder was es denn auch war, vernichte, der das Museum plage und gegen den man nichts tun könne. Jedenfalls wusste ich nachher, dass es manchmal auch um das Offensichtliche gehen kann, und die Anstrengung, eine Bedeutung zu konstruieren, die gerade das auslässt, was sich direkt darstellt, weil man es für zu platt oder eben auch zu offensichtlich hält, dem Verständnis nicht hilft.
An dieser Stelle geht es jetzt bei Sean Snyders Ausstellung in der Wiener Secession weiter: Es sind vier verschiedene thematische Ansätze – Arbeiten, wird das ja meistens genannt, Umsetzungen also, die ausgestellt werden. Im hintersten Raum der Galerie ist Sean Snyders Forschung über Skopje, die Stadt in Mazedonien, die in den sechziger Jahren von einem Erdbeben zerstört wurde, installiert. In dieser Installation ist für mich das Video in der hinteren Ecke des Raumes, das auf einem Monitor gezeigt wird, das Kernstück. Mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit sieht man diesen Teil der Ausstellung als letztes. Vorne rechts projiziert ein Beamer auf eine transparente Leinwand die Aufzeichnungen des in Skopje aufgestellten Seismografen als von oben nach unten verlaufende blaue Linien mit geringen Abweichungen. Es ist der Seismograf in Skopje, aber das ist natürlich eigentlich egal, es ist jedenfalls eine seismografische Aufzeichnung, die gemeinsam mit einem unbestimmten Grundton im Raum, Lautsprecher oberhalb der Tür, bereits beim Betreten hör- und vielleicht spürbar den – eben – Grundeindruck abgibt.
Möglicherweise zeigt das Video in dem Augenblick, in dem man dazutritt, gerade jüngere, gut aussehende Japaner, die um einen Tisch herumstehen, kleine Modellhäuschen hin- und herschieben, Vierecke in Plänen ausmalen oder versonnen ins Weite blicken, möglicherweise einen älteren Japaner, der mit einem Stift in der Hand Teile eines Plans erläutert, vielleicht auch Tito, der vor einem Modell steht, in einer Versammlung raucht oder durch eine applaudierende Menschenmenge schreitet. Vielleicht auch Aufnahmen von Bauarbeiten, vor allem den Bau von Straßen oder Brücken, und wenn man dann schon lang genug dabei ist, entdeckt man die geschwungenen Auf- und Abfahrtsrampen, die eben noch auf den Plänen zu sehen waren. Vielleicht ist auch das erste, das man sieht, eine Fahrt durch verschiedene Straßen einer Stadt, die nicht sehr gleich und nicht sehr unterschiedlich zu der ist, in der man die Ausstellung sieht. Und plötzlich tut sich in diesem Video ein eigentümlich zärtliches Bild darüber auf, was Planung und Architektur ist. Oder was sie von sich selbst in ihren Träumen glaubt. Skopje stellt, durch den Ausgangspunkt des Erdbebens, der Tabula rasa, des leeren Feldes, dafür einen idealen, wenn auch schon in verschiedenen Formen geträumten Ausgangspunkt dar. (Andere Vorstellungen sind: der Bombenkrieg, Polen als unbesiedeltes Gebiet, die grüne Wiese und sicherlich einige mehr. Das soll jetzt nicht nur negative Konnotationen aufwerfen, aber gegenüber einer Untersuchung unwillkürlicher Architektur, angeeigneter, gebrauchter Terrains, wie sie momentan in der Kunst häufig vorkommt, ist dieser Ansatz ein völlig anderer.)
Die Schnittfolge aus Zeichnen, Radieren, Klötzchen Stellen, an Konferenztischen Sitzen, schwenkenden Kränen und fahrenden Autos komprimiert die Müßigkeit des Plans und das dennoch berechtigte Unterfangen der Gestaltung. Sie zeigt die Wünsche und Überlegungen, hinter denen im Fall von Skopje die UNO selbst stand – deshalb der Titel Solidarity Architecture –, die ja sozusagen das Beste für diese Stadt wollte (hier als Dokument eine Resolution der UNO zu Skopje links an der Wand, in der auch auf die marxistische Stadtbauideologie Bezug genommen wird), dann die unwirklich anmutende Wirklichkeit der Zusammenfassung und Darstellung auf der Ebene eines Konzeptes, also inklusive daran arbeitenden Menschen, die durch ein Interview mit einem der zufällig, wie man auf einem anderen Textauszug lesen kann, Beteiligten, zu Personen werden.
Dazwischen die Präsentationsformen des Politischen, das sich diese Überlegungen als Bilder, aber nur als Bilder, zu Eigen machen muss, aus der Notwendigkeit, aus dem Druck des Faktischen (vielleicht fällt jetzt noch jemandem z. B. der Tsunami ein). Schließlich die Umsetzung und die ganze Sprödigkeit der Materie und ganz zuletzt eine Stadt, die nicht sehr ähnlich und nicht sehr unähnlich der ist, in der man sich die Ausstellung ansieht.
Die Installation zeigt also, wie die, nicht nur der UNO eigene, aber dort in eine Organisation gefasste, Vorstellung von Solidarität, und man könnte das auch auf andere Universalien wie Freiheit ausdehnen, auf den Boden der Realität gesetzt wird. – In den Sand gesetzt, würde sich aufdrängen, wäre es nicht zu polemisch, denn es ist ja unsere Wirklichkeit (Ich bin Skopjer), die diese Universalien weiter betreibt. Dabei liegen aber die Sympathien von Sean Snyder bei jenen Universalien, und es geht an keinem Punkt um eine Denunziation oder um die Beschreibung als Utopie. Die Beschreibung ist in der Folge eine der verschiedenen Kraftlinien, die dieses Feld aufspannen. Das offiziell Politische hat dabei rein repräsentative Züge, kabarettartig und damit zumindest auch als Hinweis auf die Regierungszeit von George W. Bush lesbar. Und wenn man es ausdehnen will, kann man auch noch einmal über die Bedeutung des Wortes Freiheit nachdenken, die ja zurzeit zu den ultimativen Bedrohungen gehört.
Das ist jetzt sicher ausufernd genug, aber ein Hinweis auf die Möglichkeit von Bildern und um hier einen Kreis zu schließen und weil das für die anderen Arbeiten auch gilt. Ich denke, dass es in der Ausstellung von Sean Snyder das Offensichtliche in dem abgebildeten Material ist, das den Inhalt erschließt. Die Ausstellung ist nicht hinter sich selbst verborgen, sondern ausgestellt.
Ariane Müller