» Texte / Zwei Seelen Wohnen, ach, in der Moderne Brust

Iris Meder


Der Jahrtausendwechsel bildet den eher überflüssigen Aufhänger für Gerd de Bruyns Rückschau auf das Jahrhundert der Moderne. Diese wird allerdings für noch nicht erledigt erklärt – allzu jammervoll ist auch das Bild der aus dem Hafen des architektonischen Idealismus Gespülten: »Schiffbrüchigen gleich klammern sich die meisten an den technologischen Fortschritt und an die Möglichkeiten der Spezialisierung«. Im Sinne einer differenzierteren Betrachtung der gebeutelten Moderne unternimmt de Bruyn eine Analyse des immanenten selbstkritischen Potenzials des Neuen Bauens und der Post-Postmoderne.
Ausgehend von der elementaren Frage des Neuen Bauens, der nach der Beziehung von Form und Zweck, ortet er die klassische Dualität von Aufklärung und Romantik auch in den beiden Prinzipien von Funktionalismus und Rationalismus, wie sie Adolf Behne in seinem grundlegenden Werk »Die moderne Zweckbau« bereits 1923 unterscheidet. Nach Behnes Definition ist das Wesen des Rationalismus das Ausgehen vom Ganzen, von der Gesellschaft als Kollektivum, das zur Norm und damit potentiell zum Schema wird, im Gegensatz zum stark individualistischen und daher im Kern a-sozialen Funktionalismus Hugo Härings, der den umgekehrten Weg beschreibt.
Analog sieht de Bruyn im Wechselspiel zwischen dem Fortschrittsoptimismus der Aufklärung und romantischer Zivilisations-skepsis das Erbe der Aufklärung in der Gesellschaftskritik und das der Romantik in der Kulturkritik. Die »scheinbare Einigkeit« der Protagonisten der Moderne entlarvt er dabei zu Recht als Strategie und benennt auch die noch immer enorm unpopuläre Tatsache, dass Theorie und Praxis der Moderne keineswegs in eins zu setzen sind: »Viel zu deutlich sind ja die Spuren des Klassizismus im Werk Otto Wagners, Berlages, Behrens', Perrets, Mies van der Rohes und ebenso beim ,Palladianer’ Le Corbusier, als dass man ihrer funktionalistischen Selbstinterpretation so ohne weiteres Glauben schenken dürfte.«
Es folgen die Fallbeispiele Hugo Häring, Bruno Taut und Hans Scharoun plus, als Vertreter des späten 20. Jahrhunderts, Peter Eisenman und ihrer Bezüge zur zeitgenössischen Philosophie. Zur Sprache kommt natürlich auch Walter Benjamin und sein Begriff der Armut als positives Barbarentum und des Neuen Bauens als unauratisch – eine These, die der Praxis des funktionalistischen Bauens noch nie standgehalten hat.
Zu erinnern wäre in diesem Zusammenhang auch an die Stimme des Schweizer Architekten und Kritikers Peter Meyer, der, wie Julius Posener, schon während der Hochblüte des Neuen Bauens die ,unbewusste Unaufrichtigkeit’ der rationalistischen Manifeste mit ihrer Form-Phobie konstatiert und Le Corbusiers 1923 aufgestellte These, die Bedürfnisse der Menschen seien im wesentlichen gleich, entsprechend interpretiert: »Wer die eingeebnete, homogene Masse, die strukturlose Gesellschaft als schon vorhanden oder als Wunschziel postuliert, der postuliert den totalen Staat«. Als Anhänger Gottfried Sempers sieht Meyer die Aufgabe der Architektur im Eingehen auf die Bedürfnisse der Gesellschaft und deren Heterogenität als positiv. »Die moderne Architektur sucht doch die ganz direkte Lösung jeder einzelnen Aufgabe: also muss sich auch die Richtigkeit der vorgeschlagenen Lösung jedesmal unmittelbar aus den lokalen Voraussetzungen von neuem beweisen lassen«. Wie sein mit Hugo Häring eng befreundeter Wiener Kollege Josef Frank erkennt Meyer die Eindimensionalität des Rationalismus und sieht daher wie dieser die einzige Chance in der Aufgabe seiner Kompromisslosigkeit. »Mit dem heute in Architekturdiskussionen beliebten Begriff der ,Wahrheit’ ist nicht viel anzufangen, denn leider stehen verschiedene ,Wahrheiten’ verschiedener Ebenen gegeneinander« (nachzulesen in Katharina Medici-Malls 1998 erschienenem Buch »Im Durcheinandertal der Stile«). Auch die modernekritische Gedankenwelt Josef Franks und seines von der Wiener Sprachkritik beeinflussten Kreises, der die weit über rationalistische Dogmata hinausgehenden heterogenen Dimensionen moderner Architektur erkannte und benannte, bleibt bei de Bruyn, wie Meyer, unerwähnt.
Die Selbstkritik der Moderne werde niemals an ihr Ende kommen, schließt de Bruyn nach einer Analyse von Peter Eisenmans postmodern geprägter Modernekritik. Mit ihrer Negation des funktionalistischen Sozialethos führt diese für de Bruyn in eine Sackgasse. Die konstruktive Selbstkritik verteidigt er entschieden gegen eine vollständige Revision des Prinzips Moderne. Romantisches und aufklärerisches Erbe, Gesellschafts- und Kulturkritik dürfen, so de Bruyn, künftig nicht mehr als Widerspruch betrachtet werden. Ein sehr positiv stimmendes Résumé eigentlich. Und ein sehr modernes.

Gerd de Bruyn
Fisch und Frosch oder Die Selbstkritik der Moderne (Bauwelt Fundamente 124)
Gütersloh/Berlin/Basel/Boston/Berlin 2001
(Bertelsmann/ Birkhäuser)
167 S., EUR 22.-


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