Ulrich Troyer


6 blinde Personen erzählen von ihren Erfahrungen mit Stadt, Raum und Architektur

Die Gespräche mit meinen blinden GesprächspartnerInnen fanden in Wien im Sommer und Herbst 2001 statt. Die Themenblöcke kreisten bei allen Gesprächen um Architektur, Stadt und die auditive Wahrnehmung von Raum im Allgemeinen. Für diesen Beitrag habe ich, um den Appetit auf eine weitere Lektüre anzuregen, einige Kostproben aus diesen Gesprächen ausgewählt: Die vollständigen Interviews, verknüpft mit Fakten und Reflexionen aus den Bereichen Akustik, Raumakustik, Bauakustik, Psychoakustik und Schallwahrnehmung, habe ich in Form eines »Hörspiels für ArchitektInnen« aufbereitet. Die Lektüre dieses »Hörspiels« stellt auf der einen Seite ein unmittelbares, persönliches Plädoyer für die Anliegen blinder Menschen in Hinblick auf ihre gebaute Umgebung dar und ermöglicht des weiteren, durch die Reduktion der Wahrnehmung von Raum auf nichtvisuelle, hauptsächlich akustische Informationen, eine neue Sichtweise auf die Wahrnehmung und Rezeption von Architektur. Die Kombination von Original-Ton auf der einen Seite und den Fakten oder bereits gefilterten Reflexionen auf der anderen sollen des weiteren auf sinnliche und anregende Art und Weise in Form eines Lese- und Gedankenbuches ArchitektInnen den Aspekt des Hörens in der Architektur und die meist etwas trocken abgehandelte Thematik der Bau- und Raumakustik näher bringen. Die blinden InterviewpartnerInnen besetzen dabei die Rolle von ExpertInnen, die uns Sehenden im Erzählton, in Hinblick auf die Wahrnehmung unserer akustischen Umgebung, die Augen öffnen können.

Räume

»Ich höre Räume. Ich kann ungefähr sagen, wie groß der Raum ist. Man hört wie hoch ein Raum ist. Wenn’s zu groß ist oder zu viel Lärm, dann nicht. Bei einem sehr großen Platz, kann ich nicht einschätzen, wie viel Meter das sein können. Wenn ich auf einem Berg stehe, dann spür ich vor mir den ganzen Raum, dass es bergab geht. Das ist alles so offen und so irrsinnig weit weg, also das hört man schon. Oder in einem kleineren Raum, natürlich. Akustik kann auch täuschen, wie auch Optik täuschen kann. Wenn ich zum Beispiel auf einem Hügel bin, also höher als die Autos auf jeden Fall, dann höre ich, wie sie da unten so klein fahren. Das funktioniert auch schon in einem Haus. Die Straße klingt vom achten Stock aus ganz anders als vom ersten Stock. Ob jetzt eine Treppe hinauf oder hinunter geht, dann hört man das, wenn wer die Treppe benützt. Also, ob er herunter oder hinauf geht. Wenn’s gar keine Geräusche gibt, dann weiß ich nicht, ob die Treppe hinauf oder hinunter geht. Meistens mache ich aber mit dem Mund –[schnalzt ]– oder mit den Fingern –[schnipst]– Geräusche und ich höre dann, je nach dem, wie die Reflexionen zurückkommen, ob es hinauf oder hinuntergeht. Wenn die Treppe nach oben geht, dann kommen die Reflexionen schneller zurück. Wenn’s hinuntergeht, dann klingt es wie ein Loch. Wir waren im Spiegelkabinett im Prater. Die Sehenden haben so Ur-Schwierigkeiten gehabt, da rauszufinden – [lacht] – Die sind gegangen: ‘Ah, da ist eine Tür!‘ Aber es war ein Spiegel. Ich hab anhand der Geräusche gleich rausgefunden. Ich habe die Sehenden geführt, weil ich hab gehört, wo der Ausgang ist. Für mich waren das nur Glasscheiben.«
(aus dem Interview mit Beatrix Klinger)

Geräusche

»Es entstehen immer Geräusche, wenn man geht. Mit dem Stock kann man auch Geräusche machen. Diese Geräusche kommen irgendwann wieder von Wänden oder Bäumen zurück. Durch diese Geräusche kann ich dann feststellen, ob da zum Beispiel ein Auto steht. Ein Auto ist ein niedrigerer Gegenstand. Es ist eher breit, aber nicht so hoch. Ein Baum oder eine Säule ist ein schmaler, langer Gegenstand. Wenn ich irgendwo vorbeigehe, dann kann ich anhand der zurückkommenden Echos erkennen, dass ich irgendwo vorbeigegangen bin. Ich kann vielleicht nicht sagen, ob es sich um einen Baum oder eine Säule handelt, aber ich kann sagen, dass es lang und schmal ist. Hier bei uns in der Siedlung gibt’s zum Beispiel Tannen. Die schauen im Sommer und im Winter gleich aus. Auch wenn sie verschneit sind. Die Laubbüsche klingen im Sommer und im Winter anders, weil sie dann kahl sind.«
(aus dem Interview mit Beatrix Klinger)

»Blind als Blinder«

»Wenn Lärm zu stark wird, verliert man die Orientierung. Da kann man wirklich überspitzt sagen, man weiß nicht mehr, wo links und rechts ist. Diskotheken zum Beispiel, da ist man fast auf den Partner angewiesen, der einen da durchlotst. Keine Chance, sich zu orientieren. Da ist es echt vorbei, da ist man wirklich blind als Blinder. Da ist’s echt aus.«
(aus dem Interview mit Josef Knoll)

Signallaute

»Ich habe z. B. oft den Aufgang zur Linie 43 beim Schottentor im Jonasreindl nur gefunden, weil dort davor der Augustinverkäufer gestanden ist, und laut: ’Augustin!‘ gerufen hat. Da hab ich ’s dann immer gefunden. Der war für mich ein wichtiges akustisches Signal. Beim Orientieren spielen auch so Dinge wie Springbrunnen und solche Dinge auch eine Rolle. Wo man weiß, aha, okay, da ist jetzt — es setzt natürlich das Wissen voraus, dass man sich da auskennt, wo man sich bewegt und weiß, da kommt dieses und jenes. Dann kann man sich akustisch danach richten. Oder wenn man weiß, man kommt jetzt an einer Baustelle vorbei und es läuft schon der Caterpillar. Dann weiß man, okay, es kommt jetzt dieser Punkt bald auf einen zu.«
(aus dem Interview mit Josef Knoll)

Gürtel und Kärntnerstraße

»Wenn man jetzt den Gürtel mit der Fußgängerzone Kärntnerstraße vergleicht, da ist es beim Gürtel relativ eindeutig punkto Orientierung. Da ist der starke Fliessverkehr, da muss ich entlang gehen. Da ist der Querverkehr, da muss ich so und so agieren. Bei der Fußgängerzone fällt das weg als Orientierungshilfe, als akustische. Dort habe ich auch den Nachteil, da kann ich mich nicht immer 2 Meter von der Hausmauer entfernt bewegen, weil dort eben Dinge herumstehen. Jetzt fällt die Orientierungshilfe Hausmauer auch weg, jetzt rein akustisch, oft. Und das ist alles ein bisschen schwierig, wenn ich allein unterwegs bin. Da tu ich mir fast auf – bzw. neben – so einer Straße wie dem Gürtel leichter.«
(aus dem Interview mit Josef Knoll)

Die Funktion des Blindenstockes

»Eine Funktion des Blindenstockes ist ja nicht nur die, dass man Hindernisse damit aufgabelt oder alte Damen zusammen mit ihrem Pudel drauf aufwickelt, sondern wichtig ist eigentlich auch das Geräusch, das er erzeugt. Und das sich dann an den Hauswänden, oder egal was einem da entgegenkommt, bricht oder nicht bricht. Oder wie es sich bricht. Das sind alles Räume, die Treustrasse genauso wie – dann kommst du an einem Haustor vorbei und es ist eine starke Änderung der Akustik. Das ist alles auch wichtig für die Orientierung eigentlich, dass ich eine eigene Schallquelle bin, und fledermausmäßig praktisch meine Signale aussende und wieder zurück kriege. Oder dass ich auch zu deuten weiß, andere Schallquellen, die da sind. Irgendwelche Autos oder was weiß ich was, das selber Lärm macht. Auch wie sich das wiederum an seiner Umgebung bricht oder spiegelt. Und dass ich mir aus dem Ganzen dann irgendwie für mich brauchbaren oder beängstigenden Raum konstruiere, der meine eigene Realität ist. Also, der ist nur für mich brauchbar. Da gibt es wahrscheinlich wenig Möglichkeiten, das für andere Menschen wirklich so zu verbalisieren, dass sie auch was damit anfangen könnten.«
(aus dem Interview mit Otto Lechner)

Temperaturstrahlungen und Reflexionen

»Die meisten Dinge, die einen Raum ausmachen, greif ich ja nie an. Die Decke zum Beispiel. Ich streife auch nicht mit Vorliebe an der Wand entlang. Das ist gar nicht so stark von haptischen Qualitäten beeinflusst, ob ich mich da jetzt wohl fühle oder nicht. Sondern eigentlich wirklich mehr von Temperaturstrahlungen und Reflexionen.«
(aus dem Interview mit Otto Lechner)

Innenraum und Außenraum

»Was jetzt für mich in einer Raumwahrnehmung sehr interessant ist, ist eigentlich die Relation von Innenraum und Außenraum. Insofern ist man ja in der Sinneswahrnehmung einer Umgebung – ich sage jetzt einmal: Raum ist Umgebung, äußere Umgebung von mir. In irgendeiner Form ist die immer begrenzt. Und die Wahrnehmung dieser Umgebung und dieser Außenräume hat ja immer mit dem zu tun, wie meine Innenräume gerade funktionieren. Das heißt, dadurch ergeben sich eigentlich auch ziemliche Tagesverfassungen. Das simpelste Beispiel dafür sind einfach Stirnhöhlen, Nebenhöhlen. Das hat sehr sehr viel mit der eigentlichen Wahrnehmung und Positionierung im Außenraum zu tun, wie offen die eigenen Innenräume sind. Die komplexere Wahrnehmung eines Außenraumes, eines mich umgebenden Raumes, hängt einmal ganz mit dem zusammen, wie meine inneren Resonanzen sind. Dadurch kriegst du sehr verschiedene, von Tag zu Tag eigentlich sehr differierende Raumwahrnehmungen zustande. Meine Befindlichkeit in der Umwelt hängt wirklich sehr stark mit Tagesverfassungen zusammen, die wiederum recht stark – ich hab’s immer mit Stirnhöhlen oder die ganzen, alles, was da irgendwo um die Ohren herum ist und so weiter – überhaupt: die körperliche Befindlichkeit ist, bei mir zumindest, von Tag zu Tag sehr verschieden und hat sehr stark mit der Wahrnehmung des Raumes um mich herum zu tun.«
(aus dem Interview mit Otto Lechner)

Stiegenhäuser in Wien, Kirchen in Italien

»Wenn ich jetzt in ein Haus hineinkomme: die Abfolge von Räumen, so wie sie passiert, ist wahrscheinlich ein sehr wesentlicher Ausgangspunkt dafür, wie es dir dann geht oder was du da jetzt machen wirst. Ich glaube, dass es emotionell ziemlich was ausmacht, welche Raumabfolgen du hast. Ich gehe wen besuchen und es ist dieses Stiegenhaus, durch das du kommst. Da ist rein, wie das Stiegenhaus klingt, soviel Erinnerung an andere Stiegenhäuser drinnen, in denen du schon gewesen bist. Mit denen du das und das, möglicherweise, assoziierst – mag das jetzt aus der Realität oder aus dem Traum sein. Und dass sie deine Haltung dadurch schon relativ gestalten. Solche Raumabfolgen sind ziemliche Erinnerungsträger, glaub ich. Zumindest für mich ist das so. Da macht es dir plötzlich die Assoziationen in irgendeine Richtung auf. Tja, so bin ich dann später auch noch zum Kirchengeher geworden. In Italien, in Siena, hab ich dann plötzlich die totale Lust gehabt, in jeden Dom und in jede Kathedrale hineinzugehen und das akustisch zu genießen, was da ist. Das bringt’s. Das Erlebnis, da wo zu sitzen, und du hörst nur eine Frau, die hinten beim Tor hereinkommt, mit so Stöckelschuhen, und geht da durch. Da ist echt was los. Das ist ein Ereignis für sich.«
(aus dem Interview mit Otto Lechner)

Orient

»Ich bin eigentlich immer am Hören und am Riechen. Das ist irgendwo schon klar. Und ich bin deswegen auch so gern in orientalischen Ländern. Da erlebt man wirklich was, diesbezüglich. Sinnlich ist da was da. Außer Englisch kann ich ja nicht wirklich andere Sprachen. Da bin ich eher schon der Atmosphäriker. Ich bin nicht unbedingt der, der mit jedem bekannt werden will dort. Und mit jedem einen Kaffe trinken und über die Weltlage plaudern muss oder sich zu Hochzeiten einladen lassen muss. Sondern ich tu halt gern einfach so wo sitzen. Und Atmosphären erleben.«
(aus dem Interview mit Otto Lechner)

Lärm und Stille

»Stille ist für mich eigentlich etwas sehr Ungewohntes. Etwas, was ich immer behaupte, dass ich es eigentlich gar nicht brauch. Die totale Stille, die ist mir unsympathisch. Das mag ich eigentlich überhaupt nicht, wenn ich mir’s überleg. Und Lärm, würd ich fast sagen – so lang es nicht Maschinenlärm ist, der so wie Presslufthämmer ist, und das dauernd direkt neben meinem Ohr, dass ich nix anderes mehr hör – stört mich Lärm eigentlich gar nicht. Weil ich find, dass jeder Lärm eine Information ist, für mich. Da hab ich eigentlich fast gern mehr Lärm, weil dann weiß ich, was sich da draußen alles tut und was sich herinnen alles tut. Und das ist mir eigentlich sehr willkommen. Und wirklich stören tut mich Lärm eigentlich nie. Also ich würd sagen, sogar ein Presslufthammer, wenn er nicht grad direkt neben meinem Bett steht, sondern nur auf der Straße, da kann ich ruhig schlafen dabei. Das stört mich nicht. Wenn ich weiß, dass er’s ist, dann hab ich ihn geortet. Ein unbekannter Lärm ist unheimlich. Aber wenn ich weiß, das ist der Presslufthammer, weil die bauen da die U-Bahnstation, dann können die ruhig die ganze Nacht bauen. Das stört mich überhaupt nicht.«
(aus dem Interview mit Dr. Elisabeth Wundsam)

Kochen mit den Ohren

»Also beim Kochen brauch ich sie auf jeden Fall, die Ohren. Das ist ganz wichtig. Wie gesagt, wenn’s Wasser ein bisschen kocht, dann ist es so ein leises Gezirpen. Wenn’s ordentlich kocht, dann ist es wirklich so ein schweres Geblubbert. Da ist ein Riesenunterschied. Und wenn die Eier platzen, beim Kochen, das hört man auch sehr gut. Wenn die Würstel aufspringen, hört man’s auch. Ist zwar dann ein bisschen spät, wenn man dann erst kleiner dreht. Aber immerhin, besser als gar nicht. –[lacht]– Wenn man irgendwas Fettes abbratet oder Schnitzeln paniert, in der Pfanne, dann muss eben auch das Fett den richtigen Ton machen, dass es die richtige Hitze hat, das hört man wirklich. Und auch die Schnitzel, wenn sie anfangen sich anzulegen, unten, klingt’s plötzlich ganz dumpf und fast verzweifelt. Dann muss man halt schnell umdrehen.«
(aus dem Interview mit Dr. Elisabeth Wundsam)

Ulrich Troyer
1 Hörspiel für ArchitektInnen
Wien 2002 (Eigenverlag)
138 S.
erhältlich unter http://www.mdos.at (info@mdos.at).


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