A perfect day – Kunst im Realitäts-Check
Besprechung der »Wiener Festwochen«Wiener Festwochen
»Es passiert hier und jetzt. In dieser Zeit, an diesem Ort«, lautet ein im Stil eines spekulativen Realismus gefärbter Slogan der erstmals unter Intendanz von Christophe Slagmuylder stattfindenden diesjährigen Wiener Festwochen. Aus dem Wollen einen Raum für Imagination und Widerspruch zu öffnen, resultiert ein auf die Lust zur Entdeckung außergewöhnlicher Spielorte und experimentelles Theater abzielendes, politisch ambitioniertes, multidisziplinäres Festival, das nicht nur thematisch in der Programmierung, sondern auch in der praktischen Umsetzung durch die Wahl von Austragungsorten in der Wiener Donaustadt in kulturelle Randzonen außerhalb der üblichen im urbanen Zentrum angesiedelten Spielorte vordringt. So findet die Eröffnung in der Donaustadt, im 22. Bezirk statt, dem Wiener Gemeindebezirk mit dem höchsten Bevölkerungswachstum und dem niedrigsten Durchschnittsalter. Als ursprüngliches ArbeiterInnenviertel und Gemeindebauten-
Hochburg, schrieb er bereits als eine der Bastionen des Roten Wiens gegen den Austrofaschismus Geschichte.
Neue künstlerische Strategien zur direkten Kontaktaufnahme mit dem Publikum sind angesichts der steigenden Notwendigkeit, in Realitäten einzugreifen oder überhaupt fernab von Populismen anderen Stimmen Gehör zu verschaffen, derzeit ein wichtiges Thema bei Festivals.
Die Performance Corbeaux (Krähen) von Bouchra Ouizguen und ihrer schwarz gekleideten Frauengruppe hatte ihre Premiere 2014 bei der Marrakesch-Biennale. Seitdem tourt die Gruppe durch internationale Städte, um mit lokalen Tänzerinnen die Choreographie ortsspezifisch neu zu erarbeiten. In dem sich Einlassen auf neue Formationen eröffnen sich so Zugänge, welche die Anthropologin Lila Abu-Lughod als eine Ethnographie des Besonderen bezeichnete. Mit weißen Tüchern individuell ins Haar gebunden, formierten sich die Frauen zu einer eindringlichen Klangskulptur. In symmetrischer Anordnung wiegen sie den Oberkörper wie in rituellen Trancepraktiken vor- und rückwärts neigend, die Köpfe vor und zurück, wodurch Affekte freigesetzt werden, die im Heranzoomen der Gruppe auch auf das rings um sie stehende Publikum überschwappt. Der Austragungsort der Performance im Foyer der Vienna International School wirkte als Raum allerdings beengend, eindeutig besser funktionieren würde die Performance an öffentlichen Plätzen.
Der Künstlerin Anna Witt gelingt mit Beat House Donaustadt im Alfred-Klinkan-Hof an der Donaustraße ein umsichtiges Ressentiments überwindendes an den Gemeinschaftssinn appellierendes Projekt. 1.000 Menschen leben in 533 Wohnungen auf 13 Geschossen und 17 Stiegen. 1973–1975 wurden hier unter dem Vorzeichen einer Sozialisierung des Wohnungsbaus wichtige Grundgedanken des Roten Wohnbaus der 1930er Jahre wiederbelebt. Die Soundperformance Beat House Donaustadt ist das Ergebnis von Herzschlägen von BewohnerInnen, die Anna Witt mit einem Ultraschallgerät aufgenommen hat. Abgespielt wurden die Aufnahmen in den einzelnen Wohnungen. Durch Öffnen der Fenster schallte der Herzschlag-Sound nach draußen für alle anderen BewohnerInnen und das Publikum hörbar in den Alfred-Klinkan-Hof.
Ebenfalls komplex konzipiert ist der fünfeinhalbstündige Theatermarathon Diamante von Mariano Pensotti (Grupo Marea), der in Anspielung auf aktuelle Softwarehochburgen im Dschungel oder in der Wüste den Aufstieg und Niedergang einst vielversprechender sozialkapitalistischer Utopien von Werksiedlungen behandelt. Die Unternehmer warben mit besseren Wohnbedingungen, Infrastrukturen zur Freizeitgestaltung und besseren Bildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten. Im Gegenzug dazu nahmen die Unternehmen durch zwingende Vorgaben starken Einfluss auf das Privatleben. Ging der Konzern bankrott, verließen auch die ArbeiterInnen die Stadt und Geisterstädte blieben zurück. Angesichts der zunehmenden machtpolitischen Dominanz von multinationalen Megakonzernen wirft Mariano Pensotti provokant die Frage auf, ob die Welt zu einer großen Werksiedlung mutiert. Der argentinische Theaterregisseur gilt als erfahrener Festivalregisseur, der seine selbstgeschriebenen Stücke im großen Format inszeniert. Eigens gebaut wurde dafür in der Größe von Markthütten dimensioniert in der Halle 3 der Erste Bank Arena ein aus Wohnhäusern, einer Bar, einer Polizeistation, einem Gemeinschaftszentrum und Parkplatz gestaltetes Stadtviertel der fiktiven Stadt Diamante, deren Namenscousine im Nordosten Argentiniens real existiert. Die Story des fiktiven Diamante erzählt von einer Werksiedlung, die von der multinationalen Öl- und Bergbaugesellschaft Goodwind im Stil einer skandinavischen Stadt vor 100 Jahren im Norden Argentiniens gebaut wurde und sich niemals in die Region integrierte. Der hohe Lebensstandard (MitarbeiterInnen bekommen Massagen bei der Arbeit, Meditationskurse, Schwimmbäder, Theaterkurse und bioorganische Nahrungsmittel) befindet sich im krassen Gegensatz zur Armut der umliegenden Dörfer. Es regiert die Angst und im Verlauf des Stückes äußert sich die Anspannung zwischenmenschlicher Beziehungen durch Eskalationen. Einblick in die sich in den Häusern abspielenden Szenen bekommt das Publikum durch Plexiglasfenster, der Dialog der SchauspielerInnen dringt via Mikroport nach außen. Die Uraufführung dieses gelungenen Theater-Experiments fand 2018 bei der Ruhrtriennale statt.
In der ehemaligen IS-Hochburg Mossul wurde von dem Schweizer Theaterregisseur Milo Rau mit einem flämisch-deutsch-irakischen Ensemble das Rachedrama Orest in Mossul produziert. Bereits in seinen früheren Produktionen – seine Produktionsfirma heißt International Institute of Political Murder und verfolgt das Ziel ein anderes aktuelles Verständnis von Theater zu entwickeln – zog es Milo Rau angetrieben von dem Impuls sich real zu involvieren in Krisengebiete. Die wörtliche Adaption von Klassikern auf der Bühne lehnt er radikal ab und entwickelte einen manifestartigen Zehn-Punkte-Plan. Mindestens eine Theaterproduktion jährlich in einem Krisengebiet in dem es an kulturellen Infrastrukturen fehlt, steht darin festgeschrieben. Die Uraufführung von Orest in Mossul fand in der ehemaligen IS-Hochburg im Norden des Iraks statt. In der Inszenierung für die Wiener Festwochen, die in ausverkauften Halle E im Museumsquartier stattfand, mischen sich Texte aus der gewaltreichen antiken Trilogie der Oriestie von Aischylos (eines der bedeutendste Werke der Antike) mit Berichten und Videoeinspielungen zum Prozess der Entstehung des Werkes in Mossul. Der antike Mythos wird zu den aktuellen Bedingungen in Beziehung gesetzt, unter denen die Menschen in der 7000 Jahre alten Stadt Mossul die durch den IS erlebten Gewalttraumata durch Kunst verarbeiten und dabei erneut mit Gewalt durch Autobomben konfrontiert sind. Die Thematisierung von Homosexualität und der Kuss zwischen zwei Männern gestalten sich lebensgefährlich. In den drei Jahren in welchen die Terrororganisation Islamischer Staat Mossul besetzte, wurden mutmaßliche Homosexuelle durch das Stürzen vom höchsten Haus der Stadt hingerichtet. (Eine Methode, die übrigens auch bei der Hamas im Gazastreifen üblich ist). Die Bevölkerung zwangen sie dabei zuzuschauen. Die von Milo Rau mit seiner viersprachigen Theatercrew in Mossul produzierten Videos werden eingespielt. Die irakischen SchauspielerInnnen und die involvierten SchauspielschülerInnen und Laien erhielten kein Visum. Als Real-Theater bezeichnete Alexander Kluge Milo Raus Arbeitsmethoden. Er selbst nennt sie Sozialdrama, KritikerInnen suchen nach neuen Begrifflichkeiten und bringen dabei theatralische Reflexionen, Doku-Theater und realistisches Erzähltheater ins Spiel. Auch andere bei den Wiener Festwochen an verschiedenen Spielorten aufgeführten Stücke wie Five Days in March, Re-creation von Toshiki Okada, Matadouro live von Marcelo Evelin (Demolition Inc), Hugo Wolf Quartett, La vita nuova von Romeo Castellucci (Societas), Hass-Trptychon-Wege aus der Krise von Ersan Mondtag, Sibylle Berg, Fever Room von Apichatpong Weerasethakul, Contes Immoraux-Partie 1: Maison Merre von Phia Menard (Compagnie Non Nova), Borborygmus von Mazen Kerba, Lina Majdalanie, Rabih Mroue oder Voicelessness von Azade Shamiri sind durch eine äußerst inspirierende, widerständige Kunstpraxis charakterisiert.
Ursula Maria Probst