Elke Rauth

Elke Rauth ist Obfrau von dérive - Verein für Stadtforschung und Leiterin von urbanize! Int. Festival für urbane Erkundungen.


Unsere Gesellschaft driftet auseinander: Wachsende Einkommensunterschiede, Vertrauensverlust in Medien und Politik, rigide Staatsbürgerschaftsgesetze, die von demokratischer Teilhabe ausschließen und zu einer Erosion von Öffentlichkeit führen, Klimakatastrophe, Kriege und Energiekrise erzeugen massive Verunsicherung und sorgen für ein Erstarken der extremen Rechten. Gleichzeitig frisst sich die Betongold-Profitmaschine seit Jahrzehnten durch unsere Städte, untergräbt zunehmend das Menschenrecht auf Wohnen und lässt kaum einen Flecken unverwertet. Vor dem Hintergrund dieser multiplen sozialen, ökonomischen und ökologischen Krisen scheint es so wichtig wie noch nie, Orte der Begegnung zu schaffen, Räume der Aushandlung und Aneignung, des Entwerfens von möglichen Zukünften und gemeinsam tätig Werdens – demokratische Räume (siehe auch dérive 81) im besten Sinn. Die Notwendigkeit solcher urbanen Orte wird zunehmend klar, gleichzeitig stellen sich dabei eine ganze Reihe an Fragen: nach der architektonischen Form und dem Raumprogramm genauso wie nach Möglichkeiten der Organisation, der Verwaltung und – natürlich – der Finanzierung. Wie lässt sich ein Gebäude als inklusiver öffentlicher Raum, als offen zugängliches, urbanes Gemeingut denken und gestalten? Woran kann angeknüpft werden, wo finden sich hilfreiche Theorie und inspirierende Praxis in Geschichte und Gegenwart?
        Martina Baum, Direktorin des Städtebau-Instituts und Professorin für Stadtplanung und Entwerfen an der Universität Stuttgart, und Markus Vogl, Direktor des Walter Gropius Lehrstuhls der Fakultät für Architektur, Design und Urbanismus an der Universität Buenos Aires, haben sich gemeinsam mit Mitarbeiter:innen des Studio Urbane Strategien Stuttgart und Studierenden beider Fakultäten im Rahmen eines Forschungsprojekts in Vorbereitung auf die IBA’27 Stuttgart auf die Suche nach »Orte[n], an denen der gesellschaftliche Reichtum einer Stadt zu einem Nährboden für Teilhabe, Gestaltung und Kollaboration wird« gemacht. Mit der Überzeugung, dass in der Stadt als Ort der Vielfalt »einer der Schlüssel [liegt], den großen Herausforderungen der Menschheit gestaltend zu begegnen«, tragen die Architekt:innen und Stadtplaner:innen theoretische Versatzstücke zu einem soliden Fundament zusammen, auf dem inspirierende Praxis beleuchtet wird. Den daraus resultierenden Vorschlag nennen die Herausgeber:innen – passend zur Revolutionierung des urbanen Alltags nach Lefebvre – das Täglich, ein »öffentliches und inklusives Gebäude«, ein »konzeptioneller wie räumlicher Typus der Interaktion, der gesellschaftlichen Debatte und der Produktion von Stadt: ein Ort der Teilhabe und gelebter Demokratie im Stadtalltag, zugleich Möglichkeitsraum und kritische urbane Infrastruktur.« Qualitäten und Bedingungen eines solchen »klassischen, öffentlichen Gebäudes als Gemeingut« werden mit 22 Thesen abgesteckt, die kurz und knapp auf je zwei Seiten den »Kosmos des Täglich« beschreiben. In diesem vielschichtigen Universum geht es ums Aushandeln, Aneignen und Begegnen, ums Ermöglichen, Identifizieren und Improvisieren, um Polyvalenz, Inklusivität und Zwanglosigkeit. Mit Anleihen an das Denken bedeutender Architekt:innen, Theoretiker:innen und Urbanist:innen verknüpfen Baum und Vogl in ihrem Aufsatz Täglich: ein öffentliches, offenes und inklusives Gebäude die vielen Einzelbausteine des Projekts zu einer konzeptionellen Architektur, die soziale und gesellschaftspolitische Fragen mit der Verfügbarkeit von öffentlichen Raumressourcen und am Gemeinwohl orientierter, kraftvoller Stadtarchitektur zusammendenkt. Klar ist den Autor:innen auch, dass ein so visionäres »offenes Haus« durchdachte Modelle für die Organisation und eine stabile Finanzierung braucht, um als urban commons langfristig seine Kraft zur Stärkung der urbanen Gesellschaft entfalten zu können. Ein eigener Teil widmet sich zahlreichen internationalen, historischen wie aktuellen Praxis-Referenzen, in deren Vorstellung sich unterteilt in die Inspirations-Kategorien räumlich und konzeptionell unterschiedliche Bausteine für das Täglich finden lassen. Auf rund 70 Seiten werden die Projekte auf Basis der Kriterien »Architektur, Konzept, Programm und Besonderes« analysiert, jeweils ergänzt durch räumliche Skizzen und Fotos. So ergab sich eine Sammlung von 34 Beispielen der letzten hundert Jahre: Vom verblichenen Moskauer Konstruktivismus-Klassiker Narkomfin Dom-Kommuna von Moisei Ginzburg und Ignaty Milinis (1930) oder dem modularen Baukasten des Fun Palace von Cedric Price und Joan Littlewood (1964) über Harry Glücks sozialen Wohnpark Alterlaa (1968–1985) mit seinen Clubräumen und Freizeiteinrichtungen, den englischen Working Men’s Clubs und argentinischen Clubes de barrio, der beeindruckenden Seattle Central Library (OMA, 1999–2004) und dem multifunktionalen Oodi (ALA Architects, 2018) in Helsiniki, bis zum Freiraum und Gebäude verbindenden Parc de la Villette (Bernhard Tschumi, 1982–1998) und vielen mehr. Beeindruckend ist auch das Konzept der Sesc-Zentren in Brasilien, die mit einer Größe von jeweils rund 20.000 m2 und einem definierten Raumprogramm als soziale und kulturelle Nahversorger fungieren, finanziert durch 1,5 Prozent der Lohnsteuer. Ergänzt durch zwei literarische Annäherungen an eine gelebte Fiktion des Täglich von Matthias Krumbe und Felix Haußmann entwirft die Publikation einen Kosmos des Möglichen, eine reale Utopie von Raum und eine Vision von Gesellschaft.
        Das lobenswerte Unterfangen findet sich in einem facettenreich gestalteten, hosentaschentauglichen Kleinformat, vollgepackt mit nützlichem Wissen und inspirierenden Ideen. Hier ist Herzblut geflossen und man wünscht sich das auf breite Verständlichkeit angelegte Werk auf den Tisch jedes Amtes für Stadtentwicklung, für Soziales und Kultur – auf dass die Inspiration fließen und das Täglich vielerorts Wirklichkeit werden kann.


Heft kaufen