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Besprechung der Ausstellung »Bahnhöfe. Stationen in Europa« im Ausstellungszentrum im RingturmEine Annäherung an das Thema Bahnhof ist weniger einfach als vielleicht vermutet. Für jüngere Wiener:innen dürfte es sich dabei eher um eine Shoppingmall mit Gleisen, eine Haltestelle oder eine U-Bahn- station handeln. Die eigentliche Faszination des Reisens, die in der Mythologie der historistischen Bahnhöfe, die deshalb oft als Kathedralen der Moderne bezeichnet wurden, noch zu erahnen ist, hat sich in den modernen Dauerprozess des Selbst- Eincheckens und Selbst-Versendens verlagert, begleitet vom ständigen Blick auf das Handy. Daher ist jede Erinnerung an eine Geschichte des Bahnhofs willkommen, wenn sie auch nur indirekt auf die alte Romantik der Reise verweist. Dies gelingt zumindest in Spuren der Ausstellung im Ringturm der Wiener Städtischen Versicherung. Der Anlass dafür ist ein wenig ungewöhnlich, nämlich das 200jährige (sic) Jubiläum der Versicherungsgesellschaft, die vielleicht nicht so recht wusste, wie sie diesen Anlass ausstellungsmäßig begehen sollte und sich letztlich für das Thema des Bahnhofs entschieden hat, weil die Versicherung als regionaler Feuerversicherer begonnen hatte und damit geschäftlich von Anbeginn mit den feuerspeienden Geräten der Eisenbahn verbunden war. Daraus ergibt sich eine Analogie zwischen der Geschichte der Versicherung und der der Bahnhöfe. Die Eisenbahn war als Träger der Mobilität ein Motor der wirtschaftlichen Entwicklung und der industriellen Revolution und zugleich ein Instrument der Urbanisierung, weil die großen Bahnhöfe in den unverbauten Zonen der damaligen Vorstädte angelegt wurden und die Stadtentwicklung durch die gerade Linienführung nachhaltig prägten.
Die Strukturierung des Themas in der Ausstellung basiert zunächst auf der österreichischen Geschichte der Eisenbahn, die in der Monarchie beginnt und damit ein Netz entwickelte, das im Wesentlichen noch erhalten ist, wenngleich es aufgrund des Zerfalls der Monarchie auf die Nachfolgestaaten entfiel. Die Bahnhöfe blieben und wurden in diesen oft besser erhalten als in Österreich. Die weitere Auswahl der europäischen Bahnhöfe beruht eher auf der persönlichen Erfahrung und ohne Anspruch auf Vollständigkeit durch den Kurator und Leiter der Ausstellungsreihe Architektur im Ringturm Adolf Stiller. Sie deckt aber ein Gros der Architekturtypen ab und erzielt eine gewisse Repräsentativität. Es galt einen Bogen zu spannen zwischen dem Historismus, über die klassische Moderne bis hin zu den großen technischen Umbauten für neue Anforderungen unter Beibehaltung zumindest eines Teils des Bestands.
Beginnen wir mit den großen europäischen Bahnhöfen des Westens. Hier ist Paris mit sechs klassischen Exemplaren prominent vertreten, die an der Begründung des Mythos Eisenbahn beteiligt waren. Der Fokus der Auswahl liegt bei zwei Elementen, der Fassade des Aufnahmegebäudes und der fortschrittlichen Konstruktion der glasüberdeckten Hallen, die die Gleise überspannten, als technische Meisterleistungen ihrer Zeit galten und ursprünglich für die Pflanzenpavillions der englischen Aristokratie entwickelt worden waren. In kulturgeschichtlicher Hinsicht ist die Fassade noch bedeutender, denn sie erinnert daran, dass im Paris des 19. Jahrhunderts Buchhandlungen, Theater und Bahnhöfe als gleichrangige Vergnügungsinstitutionen betrachtet wurden und Stéphane Mallarmé schrieb, dass es sich bei einer Eisenbahnreise in eine bestimmte Gegend um nichts anderes als den Besuch eines Theaters oder einer Bibliothek handelt. Der Kauf eines Eisenbahnbillets ist mit dem Erwerb einer Theaterkarte zu vergleichen, indem die Landschaft zum Inhalt der Vorstellung wurde. Das Türbogenmotiv der Fassade der Bahnhöfe entspricht dem Durch-gang eines Triumphbogens und damit dem Eintritt in eine Übergangszone, die darauf aufmerksam machte, dass die Exosphäre von anderen, oft auch gefährlichen Kräften besetzt war. Der Bahnhof war ein Passagenort, der unterschiedliche Sphären miteinander verband. Man hatte damals noch ein anderes Raum-Zeit-Bewusstsein und die Vorstellung, in einigen Stunden an einem völlig anderen, weit entfernten Ort zu sein, war aufregend und schien beinahe unmöglich. Dieses Gefühl der Annäherung kam schon vor dem Bahnhof auf und der Blick weitete sich nach dem Durchgang vom Empfangsgebäude in die Halle bereits ins Imaginäre.
Der Bahnhof wies eine merkwürdig ambivalente Charakteristik auf, indem als er als mi-usine und mi-palais bezeichnet wurde (halb Fabrik, halb Palast). Die steinerne Palastseite des Empfangsgebäudes war an der Stadt orientiert, während die Eisen-Glas-Hallen des Bahn-Hofes die industrielle Dimension der Fabriken in der Vorstadt meinten. Die steinernen Bahnhöfe waren Traumsphären und die Architekten wussten oft selbst nicht, ob sie nun eine Burg, ein Schloss oder einen Bahnhof erbauten. Die Hallenkonstruktionen waren Meisterwerke der Ingenieure und Zeichen des Aufbruchs in eine transparente Moderne.
Walter Benjamin empfahl für einen Spaziergang in Paris nach der Einnahme eines Apéritifs einen der großen Bahnhöfe zum Ausgangspunkt zu machen. Hier, in dieser Ausstellung sind sie der Einstieg in das Thema, ergänzt durch einige historistische Exemplare aus anderen Städten. Der neogotische St. Pancras mit seiner gigantischen Halle in London, Eklektizismus aus Gent, Ostende und Köln. In Brüssel befindet sich ein interessantes Beispiel des vom Jugendstilarchitekten Victor Horta geplanten Bahnhofs, der aber seine Errichtung und den Übergang zum Funktionalismus nicht mehr erleben konnte.
Die klassische Moderne beginnt mit einigen prächtigen Exemplaren in Italien aus der Zwischenkriegszeit, vor allem mit dem von Giovanni Michelucci und der Gruppo Toscano erbauten Bahnhof in Florenz. In jenen Jahren waren auch noch weitere Bahngebäude wie für Rom oder Venedig in Planung, konnten aber erst nach Ende des Weltkriegs und Mussolinis Herrschaft durch einige formale Korrekturen errichtet werden. Der Bau von Roma Termini begann 1939, unterbrochen 1942, ehe er nach Kriegsende etwas modifiziert weitergebaut wurde. Die großen Bögen an den Seitenfronten erinnern noch an die Strömung der pittura metafisica. 1948 wurde das große geschwungene Vordach errichtet, das jede:r Rombesucher:in in Erinnerung behält, an Marmor wurde in Italien gewiss nicht gespart.
Eine liebenswürdige Hommage bezieht sich auf die k. u. k. Bahnhöfe der Monarchie und deren aktuellen Zustand. Das Ge- bäude in Triest erinnert daran, dass es sich einmal um die Ankunftsstation einer österreichischen Sehnsuchtslinie zum Meer in Italien handelte. Es wurde von Wilhelm Flattich entworfen, ebenso wie dessen Pendant, der Wiener Südbahnhof. Nicht weit von dort befinden sich Laibach, Riejka (ehemals Fiume), Belgrad, die allesamt noch ein kakanisches Flair aufweisen, wie auch andere ärarische Bauten für Post und Verwaltung aus der Monarchie. Auch in Lwiw (Lemberg) erinnert der Bahnhof an die einstige Zugehörigkeit zur österreichisch-ungarischen Monarchie. Ebenso gibt es die schönen repräsentativen Bahnhöfe in Budapest, das baulich mit Wien wetteiferte. Freilich ist Wien in der Ausstellung gar nicht vertreten. Die alten Bahnhöfe wollte man nach Kriegsende nicht mehr wiederaufbauen, die nachfolgende Generation der Moderne ist teilweise schon wieder bis auf den Westbahnhof verschwunden und die derzeitigen Bauten fallen nicht mehr unter Architektur, sind eher Shoppingzonen und Durchlaufmaschinen. Immerhin sind Salzburg und Innsbruck präsent, als Beispiele gelungener Erneuerung der Konstruktion und in Salzburg auch unter Wahrung des Bestandes. Ein neuer Bahnhof der Schafbergbahn kennzeichnet den Durchbruch des expressiven modernen Funktionalismus im behäbigen Salzkammergut.
Bemerkenswert aber auch jene Gebäude, die in einem Klima des Aufbruchs in einigen Ostblockstaaten, wie der damaligen Tschechoslowakei in den 1950er und 60er Jahren unter der Leitung des Corbusier- und Lurçat-Schülers Josef Danda hochgezogen wurden. Die große lichtdurchflutete Halle in Ostrau bewirkt ein beachtliches Raumerlebnis und auch andere Bahnhöfe des Landes überzeugen formal durch eine Gestaltung, die bis ins Detail durchdacht ist und das Bild einer freundlichen, nicht zu kühlen Moderne vermittelt. In Pardubice etwa wurden besonders schöne, rostfarbene Keramikplatten für die Fassade verwendet, die je nach Sonneneinstrahlung ein changierendes spiegelndes Bild vermitteln.
Aus Finnland grüßt der große Eliel Saarinnen (der Vater von Eero) mit seinem prächtigen monumentalen Jugendstil- bahnhof in Helsinki und noch ferner winkt ein nicht minder beeindruckendes, brutalistisches Meisterwerk aus Tiflis in Georgien aus den Zeiten der Sowjetunion (Architektur: Ramin Bairamaschwili, Irakli Qawlaschwili, Giorgi Schawdia, Alexander Dschibladse), woran man sich weniger gern erinnert. Ja, und natürlich Stuttgart darf nicht vergessen werden, das Megaprojekt mit seinen fulminanten Kelchstützkonstruktionen, das jahrelang unter wütendem Protest stand.
Der Autor schließt mit einem in der Vergangenheit üblichen Kommando: Achtung Abfahrt (in die Ausstellung).
Bahnhöfe. Stationen in Europa
Ausstellungszentrum im Ringturm
9. Juli 2024 – 15. November 2024
Kurator: Adolph Stiller
Manfred Russo ist Kultursoziologe und Stadtforscher in Wien.