Auf dem Weg in eine Sicherheitsgesellschaft: Das Versprechen von Sicherheit führt zur Verunsicherung
Volker Eick im Gespräch mit Tobias Singlnstein und Peer Stolle„Sicherheit: Ideologie und Ware“ war der Schwerpunkt von dérive, Heft 24. Volker Eick interviewte für dérive Tobias Singelnstein und Peer Stolle, die beiden Autoren des Buches „Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert“, und liefert damit eine Fortführung des Themas.
Volker Eick: Der Bremer Professor Stephan Quensel hat Euer Buch unlängst als „kritischen Überblick“ gelobt. Wo seht Ihr die zentralen Charakteristika der von Euch als „Sicherheitsgesellschaft“ bezeichneten Entwicklungen im Sicherheits- und Ordnungsbereich?
Tobias Singelnstein: Unserer Auffassung nach lässt sich ein ganz grundlegender Wandel im Bereich sozialer Kontrolle beobachten, der vor allem von drei Entwicklungen geprägt ist. Einerseits gibt es eine Verlagerung sozialer Kontrolle vom privaten Nahraum noch mehr hin zu professionellen Akteuren. Andererseits verändern sich die Mechanismen und Institutionen in diesem Bereich angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen. Dazu zählt das Bestreben, Kontrolle effektiver zu machen, indem sie früher, vielfältiger und breiter stattfindet. Zum anderen findet eine zunehmende Ver-abschiedung vom wohlfahrtsstaatlichen Ideal der umfassenden sozialen Integration statt. So erleben Mechanismen des sozialen wie auch des repressiven Ausschlusses eine Renaissance. Peer Stolle: Vor diesem Hintergrund ist Sicherheit zu einem zentralen Bezugspunkt und einem Schlüsselkonzept westlicher Gesellschaften geworden. Eine aufkommende Risikologik führt nicht nur dazu, dass immer wieder neue Risiken gefunden werden, vor denen es sich zu schützen gilt. Sie produziert auch ständig neue Unsicherheiten, da Gefahren und Risiken immer und überall lauern. Dies hat zur Folge, dass sich Sicherheitsstrategien verstärkt in unseren Alltag einschreiben und unser soziales Leben bestimmen. Sicherheit wird damit zu einem Element der gegenwärtigen sozialen Ordnung, so dass es unserem Erachten nach gerechtfertigt ist, von einer Sicherheitsgesellschaft zu sprechen.
VE: Euer Fokus liegt auf neuen Formen „sozialer Kontrolle“. Und Ihr unterscheidet Sozialkontrolle zunächst nach der Ebene der Normgenese und der Durchsetzungsebene, ihr unterscheidet sodann nach formellen und informellen Verhaltens-anforderungen, und ihr identifiziert als Träger von sozialer Kontrolle staatliche, kommerzielle und private Akteure sowie Mechanismen struktureller Sozialkontrolle. Das wirft die Frage auf, ob es irgendetwas gibt, was Ihr nicht als „soziale Kontrolle“ fasst?
TS: Soziale Kontrolle ist unserem Ver-ständnis nach die Gesamtheit der Mechanismen, mit denen eine Gesellschaft versucht, ihre Mitglieder zur Einhaltung ihrer sozialen Normen anzuhalten. Dementsprechend handelt es sich um sehr vielfältige Erscheinungsformen, die sich auf verschiedenen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens finden lassen. Sie können von Akteuren ebenso wie strukturell geprägt sein. PS: Du hast natürlich Recht, dass der Begriff der Sozialkontrolle sehr weit ist. Aus diesem Grunde haben wir uns auch in der „Sicherheitsgesellschaft“ auf bestimmte Formen sozialer Kontrolle konzentriert und die ganze Frage des sozialen Nah-raums etc. herausgenommen.
VE: Wenn Regieren über Verunsicherung erfolgt und gleichzeitig Sicherheit versprochen wird, wie Ihr schreibt, wird dann Sicherheit durch Verunsicherung versprochen?
TS: Ich würde es eher umgekehrt formulieren: Das Versprechen von Sicherheit führt zu Verunsicherung. Denn Sicherheit wird ja nicht konkret versprochen, sondern als abstraktes, schwammig bleibendes Ziel. Es handelt sich um einen Zustand, der nicht mess- und fassbar und letztlich auch nie zu erreichen ist. In diesem Sinne ist Sicherheit immer bedroht und ein Ideal, für dessen Erreichung immer neue Maßnahmen und Anstrengungen nötig sind. Dabei impliziert das Versprechen von Sicherheit, dass diese eben nicht vorhanden und erreicht ist.
VE: Bezogen auf das Ziel sozialer Kontrolle in der neuen Sicherheitsgesellschaft schreibt Ihr, es bestehe in der „Herstellung umfassender sozialer Ordnung“ und solle „die Ermöglichung einer allgegenwärtigen Kontrolle von allen Bürgern durch möglichst viele andere Bürger unter der Fahne der Risikominimierung“ ermöglichen. Wer sind denn diese „anderen Bürger“?
TS: Das kann im Prinzip jeder sein – mit Ausnahme vielleicht derjenigen, die von den noch bestehenden Inklusionsversprechen nicht mehr erreicht werden können oder sollen. Es geht darum, einen möglichst großen Teil der Bevölkerung zu aktivieren und zu responsabilisieren, selbst im Sinne der beschriebenen Sicherheitsproduktion zu wirken. PS: Ja, es sind potenziell alle. Es sind diejenigen, die dafür sorgen, dass muslimisch aussehende Reisende das Flugzeug verlassen müssen; es sind auch die, die sich in Nachbarschaftsinitiativen engagieren, um das eigene Viertel von Unordnung und Kriminellen frei zu halten. Es sind aber auch wir alle, die auf den Rückzug des Staates beim Schutz vor Eigentums- und Vermögenskriminalität auf individuelle Präventionsbemühungen setzen: Wir schließen unsere Fahrräder mit zwei Schlössern oder lassen es erst gar nicht auf der Straße stehen, benutzen Lenkradkrallen, schließen Versicherungen ab und lassen die Kinder nicht mehr alleine auf der Straße spielen. Das Primat der Risikominimierung und Sicherheitsoptimierung bestimmt große Teile unseres gegenwärtigen Alltags.
Tobias Singelnstein; Peer Stolle:
Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft,
2006. 160 Seiten, 19,90 Euro.
Volker Eick