» Texte / Autogestion, Self-Management, Partizipation

Elke Krasny

Elke Krasny ist Kuratorin, Stadtforscherin und Professorin für Kunst und Bildung an der Akademie der bildenden Künste Wien.


Im Jahr 1986 beteiligten sich der französische Philosoph Henri Lefebvre und die beiden Architekten Serge Renaudie und Pierre Guilbaud an dem internationalen Wettbewerb für Novi Beograd. Mehr als zwanzig Jahre später wurde dieser Wettbewerbsbeitrag, der auch einen unveröffentlichten Text von Lefebvre beinhaltet, wieder entdeckt. Diese sehr spezielle Textsorte eines für einen Wettbewerb verfassten Textes und die Umstände kritischer Zeitverschiebungen in der Lefebvre-Rezeption in unterschiedlichen europäischen Ländern, machen diese Wiederentdeckung, die durch die serbische Architekturtheoretikerin Ljiljana Blagojevic erfolgte, umso interessanter. Im deutschsprachigen Kontext wurden die ab Ende der 1940er Jahre verfassten Texte Henri Lefebvres erst über den Umweg der USA, über Geographen, wie Edward Soja oder David Harvey, ab Mitte der 1990er Jahre rezipiert. Eine fundiert übersetzte, deutschsprachige Ausgabe aller seiner Schriften, vor allem seiner stadt- und raumrelevanten Arbeiten, wird man bis heute vergeblich suchen. Ganz im Gegensatz zur Situation in Jugoslawien, wo Lefebvre ab den 1960er Jahren eine wichtige intellektuelle Rolle spielte. Lefebvre hatte Kontakte zur Praxis Gruppe (einer Gruppe humanistisch-marxistisch orientierter Philosophen und Sozial­wissenschaftler; die Gruppe wurde 1975 verboten), war Teil des Herausgeberbeirats von Praxis, Revue Philosophique und nahm zwischen 1964 und 1974 dreimal an der in Korcula stattfindenden Praxis-Sommerschule teil, in der die komplexen urbanen Entwicklungen in Zagreb, in Split und in Belgrad debattiert wurden.
Dieser in die Vergessenheit abgesunkene Wettbewerbsbeitrag zu Novi Beograd ist im Zuge des von Zoran Eric initiierten, mehrjährigen Kunstprojekts Differentiated Neighbourhodds of New Belgrade wieder aus aus dem kollektiven, zu reaktivierenden Wissensspeicher des Archivs geborgen worden. Diese Wiederentdeckung und intensive Befragung eines unrealisiert gebliebenen Städtebauwettbewerbs reiht sich in die Vorstellungen und Aktivierungen alternativer Vergangenheiten ein, die zeitgenössisch eine Reihe von künstlerischen Praxen, Recherchen und Untersuchungen spezifisch auszeichnen. In Form des ästhetisch höchst überzeugend gestalteten Autogestion or Henri Lefebvre in New Belgrade haben Sabine Bitter und Helmut Weber ihre urbanistische Recherche, die im Rahmen des Belgrader Projekts begonnen hat, zu einem Künstlerbuch gestaltet, das im Rahmen ihrer Ausstellung Right to the City in der Landesgalerie Linz, geleitet von Martin Hochleitner, kuratiert von Stefanie Hoch, entstanden ist. Auch der Originaltext des Wettbewerbs von 1986 ist nun nachzulesen. Von einer Wiederzugänglichmachung ist jedoch gar nicht zu sprechen, da die Wettbewerbsvorstellung von Lefebvre, Renaudi und Guilbaud in dieser Form nie veröffentlicht worden war. Erstmalig eine kritische Öffentlichkeit für diesen Text nun durch den Kunstgriff des Buches zu erzeugen, ist die Strategie, die Sabine Bitter und Helmut Weber verfolgen, um jene Lücke in den aktuellen urbanistischen Diskursen und (fehlenden) Debatten über die Gegenwart der postfordistischen, neoliberal überformten, netzwerkstrategisch operierenden, imagegetriebenen, kreativen, wissensbasierten, flexibel operierenden Stadt zu öffnen: die Lücke des Rechts des Subjekts als Stadtbürger/in.
Auf dem roten Deckblatt taucht man ins Jahr 1986. In altmodisch anmutender Schreibmaschinentypographie mit ihren sympathischen Irregularitäten, die durch das nicht perfekte Zusammenspiel von schreibender Hand und aufzeichnender Schreibmaschine entstanden sind, liest man „International Competition for the New Belgrade Urban Structure Improvement. Equipe N51103“. Die Spurensuche in einer Vergangenheit, die schon beim Aufschlagen der ersten Seite kommuniziert wird, verdichtet sich durch das editorische Verfahren von Sabine Bitter und Helmut Weber zum Buch als Plattform für die Wiederaufführung des auf englisch verfassten Originals, mit einer französischen Zusammenfassung und einem zweiten, dialogisch zu diesem Original tretenden Teil, der heutige Stimmen von Neil Smith, Klaus Ronneberger, Ljiljana Blagojevic, Zoran Eric sowie Bitter und Weber enthält.
„The right to the city comes as a complement, not so much to the rights of man (like the right to education, to health, security, etc.), but to the rights of the citizen: who is not only a member of a political community whose conception remains indecisive and conflictual, but of a more precise grouping which poses multiple questions: the modern city, the urban. This right leads to active participation of the citizen-citadan in the control of the territory, and its management, whose modalities remain to be specified”, so stellt sich die drängende Frage nach der Konzeption politischer Teilhabe am Raum des Urbanen aus dem Jahr 1986 für heute.
Blagojevic untersucht in ihrem Essay The Problematic of a New Urban: The Right to New Belgrade und Eric stellt in seinem Beitrag The Third Way: The Experiment of Workers’ Self-Management in Socialist Yugoslavia vor. Klaus Ronneberger ergründet in seinem Beitrag Henri Lefebvre and the Question of Autogestion. Ronneberger betreibt Begriffsgeschichte, die „autogestion“ als travelling concept von anarcho-syndikalistischen Zirkeln des frühen 19. Jahrhunderts, nach Jugoslawien, nach Algerien ins Frankreich der 1960er Jahre verfolgt. Ronneberger verweist auf den französischen Sozialwissenschaftler Frank Georgi, der verdeutlichte, dass es sich bei autogestion um eine wörtliche Übersetzung des serbo-kroatischen Begriffs samoupravljanje (self administration) handelt. Im postkolonialen Algerien wurde nach der Unabhängigkeit autogestion als Begriff für die Verwaltung des agrarisch genutzten Landes verwendet. Territorium, Partizipation, Selbst-Verwaltung, Self-Management, Rechte, sie alle spielen in der autogestion ihre Rollen.

Im Vorwort schreibt der Stadtgeograph Neil Smith von der „Suche nach radikaler Offenheit“, die Lefebvres Leben auszeichnete. In ihrem Nachwort betonen Bitter und Weber, dass es genau diese „Offenheit“ ist, mit ihrer spezifischen Spannung und ihrer eigenen Energie, die Lefebvres Werk für KünstlerInnen heute so produktiv macht.


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