Bestand Re-Modernisieren
Baustelle: NachkriegsmoderneWir sind, am Beginn des 21. Jahrhunderts, in Europa mit einem enormen Gebäudebestand konfrontiert. Dieser Tatbestand ist in zweifacher Hinsicht interessant.
Erstens: Die Bautätigkeit im Hochbaubereich verschiebt sich statistisch gesehen signifikant vom Neubau in Richtung Sanierung und Erhaltung. Renovierung, Instandsetzung, Sanierung, Assanierung, Erneuerung, Restaurierung, Modernisierung: Es gibt viele Synonyme, die Bautätigkeit im Kontext des Bestandes zu beschreiben versuchen. Das Bauen als Planungs- und Produktionsprozess ist vordergründig als Errichtung des Neuen konzipiert. Was verändert sich am Bauen, wenn Bautätigkeit am und im Bestand stattfindet?
Zweitens stellt sich in Zusammenhang mit dem großen Baubestand die Frage: Was tun mit dem Bestand? Was tun mit Geschoßwohnbauten und Siedlungen der fünfziger und sechziger Jahre? Sind Wohnungsneubauten überhaupt noch notwendig? Europaweit werden die Schrumpfung der Städte und der Leerstand bei Geschoßwohnbau thematisiert, in Österreich wird das Thema jedoch erst zaghaft angesprochen.
Die Baukonzerne haben auf die Frage »Was tun?« eine einzige, einfache Antwort: Ersatzbau. So sprach sich der Generaldirektor der Porr, Horst Pöchhacker, anlässlich der Enquête »Chance Hochbau« im Dezember 2003 für Abriss und Ersatzbau bei Bauten der fünfziger und sechziger Jahre aus. Das schlechte Image der Gebäude aus den Nachkriegsmoderne-Jahren ist auffallend. An Bauten, die in der Wiederaufbauphase entstanden sind, insbesondere bei Geschoßwohnbauten, kann die wirtschaftliche Knappheit und Bescheidenheit der damaligen Zeit abgelesen werden. Die Umstände, so Friedrich Achleitner, zwangen zur Bescheidenheit, jeder Ziegel wurde zweimal umgedreht, bevor man ihn verlegte, so geriet alles etwas hautnaher, proportionaler, verhältnismäßiger.[1] Die statische Tragfähigkeit dieser Bauten weist kaum Reserven auf. Gebäude selbst und ihre Gebäudetechnik entsprechen nicht den heutigen Wärme- und Schallschutznormen sowie den Anforderungen der Erdbebensicherheit.
Auch Gründerzeitbestand war am Beginn der siebziger Jahre für den Abriss vorgesehen. Doch durch den gesellschaftlichen Widerstand, die Hausbesetzungen einerseits und das Engagement kritischer Architekturschaffender andererseits, wurde der Kahlschlag verhindert. Durch die Wiederentdeckung und die Sichtbarmachung der guten Merkmale (hohe, große, nutzungsneutrale Räume) wurde der Gründerzeitbestand mit kulturellem Kapital ausgestattet. »Klassischer Altbau«, so lautet die Werbeformel der Immobilienmakler.
Doch auch Wohnbauten und Siedlungen der fünfziger und sechziger Jahre haben, neben ihren Nachteilen, ihre guten Seiten und versteckten Vorzüge. Freistehende Zeilen im »Abstandsgrün«, die genau nach Himmelsrichtung ausgerichtet sind, eignen sich hervorragend für neue Anbauten wie Balkone und Terrassen und für passive Nutzung der Sonnenenergie an den besonnten Fassaden. Infrastruktur und öffentliche Verkehrsmittel sind schon da. Der Stil der fünfziger und sechziger Jahre wird zunehmend modern und beliebt, Retrowelle und Ostalgie sind wirksam, der Kultfaktor (camp) und somit das kulturelle Kapital steigen. Den Wohnsiedlungen der Nachkriegsmoderne liegen Planungsprinzipien der *funktionellen Stadt des CIAM zugrunde, die nach den vier »Funktionen« Wohnen, Erholung, Arbeit und Verkehr konzipiert war. In Zeiten des Postfordismus, wenn die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Büro und Wohnung verschwinden, können Siedlungen, die streng nach dem funktionalen Raster konzipiert wurden, zu einer anachronistischen, potenziell widerständischen Enklave werden.
Was also tun?
Es gibt, so Niklaus Kohler, im Wesentlichen vier Strategien zur Befriedigung eines Bedarfes, der mit Tätigkeiten in Gebäuden verbunden ist: a) Neubau, b) Weiternutzung und Bewirtschaftung existierender Gebäude, c) Umbau, Anpassung von existierenden Gebäuden, d) »Nicht-Bau« Lösung / Bauverzicht. [2] Eine einfache Antwort, wie Abriss und Ersatzbau, verkommt zu einer einfältigen Lösung, wenn man als Entscheidungshilfe die Ergebnisse wissenschaftlicher Erforschung der Lebenszyklusanalyse von Gebäuden hinzuzieht. Mit Lebenszyklusanalyse befasst sich zum Beispiel das Institut für Industrielle Bauproduktion an der Universität Karlsruhe. Bei einer Lebenszyklusanalyse werden die kumulierten voraussichtlichen Belastungen und Kosten zum prinzipiellen Entscheidungsinstrument.
Beim Vergleich von Umweltbelastungen und Ressourcenverbrauch werden drei verschiedene Lebenszyklusstrategien für Gebäude untersucht: Szenario 1: Neubau, Szenario 2: Weiternutzung und Bewirtschaftung existierender Gebäude, Szenario 3: Umbau, Anpassung von existierenden Gebäuden. Klares Ergebnis: Beste Werte bzw. den niedrigsten kumulierten Lebenszyklusaufwand erzielt man mit dem Szenario 3: Umbau und Anpassung von existierenden Gebäuden.[3] Was also tun mit dem Gebäudebestand? Nachfolgend werden die Aspekte der Energieeffizienz, des Denkmalschutzes und der Gebrauchsevaluation bei Sanierungen behandelt.
Energie und Gebäudebestand
Typischerweise war Sanierung (Denkmalpflege mal ausgeklammert) bis zu Energiekrise in den Siebzigern in der Praxis die Instandsetzung vorhandener Bauteile, die Beseitigung von Bauschäden und die Entfernung der altersbedingten Patina. Durch die Energiekrise einerseits und durch ökologische Bewegungen der späten sechziger Jahre andererseits wurde auch bei Sanierungen die Thematik der Nachhaltigkeit, Energieeffizienz und ökologischer Verträglichkeit und Ressourcenschonung bei Bauteilen immer wichtiger.
Das Motiv der Energieeinsparung verdrängt momentan alle anderen Beweggründe bei Sanierungen wie auch beim neu Bauen. Bedingt durch staatliche Förderung thermisch-energetischer Sanierungen (z. B. durch nicht rückzahlbare Zuschüsse, Thewosan in Wien und die bevorstehende Einführung des Gebäudepasses gemäß EU-Gebäuderichtlinie (Energiekennzahlen des Gebäudes, als Energieausweis dargestellt wie an den bekannten Aufklebern bei Waschmaschinen) ist das Thema der Energieeffizienz allgegenwärtig, auch wenn diese Thematik von vielen Architekturschaffenden nach wie vor als nachrangig angesehen und behandelt wird. (Tatsächlich nachrangig in den Planungsprozess eingeplant – also zuerst wird entworfen und danach kommt die energetische Berechnung.)
Energieeffiziente Bautechniken und Materialien werden vorwiegend für Neubauten konzipiert. Eine seltene, seltsame Ausnahme ist das Wärmedämmverbundsystem WDVS, auch bekannt als »Vollwärmeschutz«, das zunächst für die nachträgliche Dämmung von Altbauten entwickelt wurde. Weil WDV-Systeme billig sind und praktisch erscheinen, wurden sie auch im Neubau angewandt und zum Standard.
Bei der Berechnung der energetischen Baumaßnahmen im Gebäudebestand wendet man ebenfalls die Neubau-Normen und die Gesetze aus dem Neubau an. Durch die Anwendung der Standardprodukte und der Normen für Neubau mutieren bestehende Gebäude formal zu »Quasi-Neubauten«. Die heterogene Vielfalt der Stile verschiedener Epochen – von der lebendig abgewitterten Kalkputzfassade bis zum frivol vorgehängten Waschbeton der siebziger Jahre – wird reduziert auf die stets gleiche Oberfläche (Dünnputz auf Vollwärmeschutz) und identische Fensterprofile. Die Orientierung der Bauten wird bei Berechnungen der Energieeffizienz – auch bei Neubauten – nicht berücksichtigt. Alles bekommt den homogenen Energiestandard der Neubauten verpasst. Ein flächendeckender Einsatz der WDV-Systeme und massiver Profile mit Isolierverglasung bedeutet, dass die zarten Konstruktionen der fünfziger Jahre, die Sichtbetonfassaden der sechziger Jahre und die plastischen Gliederungen der siebziger Jahre aus dem Stadtbild verschwinden. Die dicken Dämmungen und die breiten Fensterprofile reduzieren zudem den Lichteinfall. Für modernes Wohnen und modernen Wohnkomfort, so Ursula Schneider (pos architekten), ist aber eine großzügige Belichtung ein wesentliches Element. Es muss vermieden werden, so Ursula Schneider weiter, dass durch die Sanierung zwar die thermische Behaglichkeit steigt, aber der visuelle Komfort sinkt. [4] Neue, hocheffiziente Materialien sind dringend notwendig, sowohl für den Einsatz im Neubau als auch im Bestand. Als wesentliche Eigenschaften sind dünne Schichtung (Auftrag), nachwachsende Rohstoffe, kostengünstige Produktion und Montage zu nennen. Auf die ebenfalls dringend notwendige Reorganisation der Bauproduktion und der Baustelle gehe ich hier nicht ein. Bei Normenwerk und Gesetzgebung ist der Bestand zu berücksichtigen.
Energieeffizienz und Denkmalschutz
Energiebewusstes Bauen und Sanieren nach Grundsätzen des Denkmalschutzes stehen scheinbar im Widerspruch. Bei energetisch motivierter Sanierung wird das ursprüngliche Erscheinungsbild grundlegend verändert. Bei Bauten unter Denkmalschutz hingegen werden oft nicht einmal die minimalen Maßnahmen für die Verbesserung des Energiestandards durchgeführt. Moderne Sanierungspraxis soll jedoch keines der treibenden Motive – Energiebewusstsein und Denkmalschutz – gegeneinander ausspielen und unreflektiert bevorzugen.
Moderne, Nachkriegsmoderne und Denkmalschutz
Spezifisch für die Bauten der klassischen Moderne ist ihr zuweilen experimenteller Charakter. Durch die Anwendung innovativer Bautechniken sind Bauschäden als Folge von Experimenten bewusst in Kauf genommen worden. Bei Bauten der Nachkriegsmoderne sind Bauschäden aufgrund wenig ausgereifter Bautechnik nicht so gravierend. Hilde Heynen weist in ihrem Artikel »Transitoriness of modern architecture«[5] auf den ambivalenten theoretischen und praktischen Zugang der ProtagonistInnen der Moderne zu Vergänglichkeit und Kurzlebigkeit ihrer Bauten hin, sie postuliert jedoch: Die Moderne ist erwachsen und braucht die Zeugnisse ihrer eigenen Jugend, um sich weiter zu entwickeln.Bei Bauten vergangener Epochen bis zum 20. Jahrundert ist Materialauthentizität besonders wichtig. Bei der Moderne und Nachkriegsmoderne rückt das architektonische Konzept in den Vordergrund.
Die besondere Bedeutung des architektonischen Konzeptes bei Bauten der Moderne und Nachkriegsmoderne macht es notwenig, bei der Sanierung das gesamte Konstrukt der Planung neu aufzudecken und zu recherchieren. In Vergessenheit geratene, jedoch höchst innovative Gebäudetypologien und Baukonzepte kommen so zutage. Die Technik der kontrollierten Wohnraumlüftung etwa erscheint uns innovativ. Bei näherem Hinsehen findet man die Problematik der Lüftung auch in den Planungen der Nachkriegsmoderne. Damals wurde auf die Querdurchlüftung der Wohnungen besonderer Wert gelegt. Bei Gemeindewohnungen der Stadt Wien bemerkt man den netten und praktischen Klapplüftungsflügel, der bei der nächsten Sanierung wahrscheinlich verschwinden wird. (siehe Abbildung) Historische, architektonische und bautechnische Aspekte zu entdecken und zu beachten: Das ist Respekt vor dem Bestand und eine gute Lern- und Inspirationsquelle.
Gebrauchsevaluation als Möglichkeit
Die Maßnahmen, die im Zusammenhang mit der Sanierung ergriffen werden, beschränken sich, wie bereits beschrieben, fast immer auf einzelne Motive wie zum Beispiel Schadensbehebung bzw. Erhaltung historischer Bausubstanz oder Steigerung der Energieeffizienz. Es gibt darüber hinaus eine weitere Möglichkeit, die durch das erneute Investieren in den Altbau entsteht. Die Chance, im Zuge der Sanierung das Funktionieren von Bauten in Frage zu stellen bzw. eine Evaluation der Nutzung durchzuführen, wird jedoch selten ergriffen.
Funktioniert das Gebäude oder nicht? Werden seine räumlichen Potenziale genutzt? Gibt es Erweiterungsmöglichkeiten, durch die neue Investitionen freigesetzt werden können? Der typische Sanierungsfall bedeutet, dass das Gebäude in seiner räumlichen und funktionellen Konfiguration erhalten und in einem zum Planungszeitpunkt definierten Zustand perpetuiert wird. Jede bauliche Maßnahme an bestehenden Gebäuden ist aber auch eine Möglichkeit, über dessen Gebrauch, über die vorhandenen oder fehlenden oder überflüssigen Gebrauchsmöglichkeiten zu reflektieren. Das kann sowohl in Form eines gemeinsamen Prozesses mit den gegenwärtigen NutzerInnen des Gebäudes stattfinden als auch aus kritischer Distanz zu diesen.
Ein Vergleich zwischen ursprünglich geplanten und tatsächlich stattfindenden Funktionen ist dabei sehr hilfreich. Auch von den vorgedachten Raumfunktionen abweichende Nutzungen beweisen die Qualität der Erstplanung, sind Beweis für die Flexibilität der Planung. Bei brachliegenden Vorsehungen ist zu untersuchen, welche Gründe dazu geführt haben, dass eine bestimmte Möglichkeit der Raumnutzung nicht angenommen wurde. Die Verglasung der Loggien und Balkone als do-it-yourself- Praxis der BewohnerInnen kann sich im Zuge der Evaluation als sinnvolle Maßnahme erweisen. Da in den Jahren 1950 bis 1960 Wohnungen für heutige Verhältnisse sehr knapp bemessen wurden, ist eine Integration der Loggia in die Wohnfläche folgerichtig. Die Balkonverglasung verbessert bei richtiger Nutzung die Energieeffizienz und ist ebenfalls sinnvoll. Die Wohnnutzung als Zweitwohnung wird in der Begutachtung eher negativ bewertet.
Die kulturellen Praxen des Raumgebrauchs und der Raumaneignung sind keinesfalls als natürliche, authentische Instinkte der BewohnerInnen zu sehen. Vielmehr handelt es sich um komplexe Prozesse, die zwischen den traditionellen Verhaltensweisen und dem Aufgreifen und Verfremden neuer Gebrauchsangebote verortet sind. Die Sanierung des Bestandes löst neue Kommunikationsprozesse zwischen den BewohnerInnen aus. Menschen, die sich vorher nur gegenseitig grüßten (nodding acquaintance – Alison und Peter Smithson), lernen sich kennen, weil sie bei der Sanierung gemeinsame, konsensuelle Entscheidungen treffen müssen. Gemeinsames Entscheiden führt zu Entstehung einer nicht so anonymen Hausgemeinschaft. Hannes Nutz, Bauleiter der Sozialbau AG bei Thewosan-Sanierungen, beschreibt es so: « Ich komme als Bauleiter auf die Baustelle und werde vor Ort zum Mediator, nicht nur im Baumanagement der Gewerke, sondern auch bei nachbarschaftlichen Konflikten. Die Hausverwaltung ist auf einmal, in mir als Person, ständig anwesend und leichter ansprechbar. Besonders kommunikationsfreudig sind ältere, allein stehende Menschen.«
Bewirtschaftung von Gebäudebestand, politisch
Eine Art der Gebrauchsevaluation ist auch auf der Ebene der städtischen und staatlichen Planungen noch zu führen. Ist zusätzlicher Neubau von Wohnungen eine gesellschaftliche Notwendigkeit aufgrund des tatsächlichen Mangels, oder geht es um Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik und sind darüber hinaus Unantastbarkeit bestehender Rechte bei Anspruch auf geförderten Wohnungsbau im Spiel? Diese Angelegenheiten sind von Fachleuten und engagierten BürgerInnen – uns allen – zu behandeln.
Fußnoten
Friedrich Achleitner, Perspektiven des Machbaren. Zur Architektur des Jahres 1955, in: Wiener Architektur. Zwischen typologischem Fatalismus und semantischem Schlamassel, Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 1996, S. 118. ↩︎
Niklaus Kohler, Modelle und Lebenszyklus des Gebäudebestandes, in Hrsg: Uta Hassler, Niklaus Kohler, Wilfried Wang, Umbau. Über die Zukunft des Gebäudebestandes, Tübingen, Berlin: Wasmuth, 1999, S. 27. ↩︎
Niklaus Kohler, Modelle und Lebenszyklus des Gebäudebestandes, in Hrsg: Uta Hassler, Niklaus Kohler, Wilfried Wang, Umbau. Über die Zukunft des Gebäudebestandes, Tübingen, Berlin: Wasmuth, 1999, S. 27. ↩︎
Ursula Schneider, grünes LICHT, Sanierung eines großvolumigen Wohnbaues zum Passivhaus, Projektbeschreibung, Programm »Haus der Zukunft«. Link: http://www.hausderzukunft.at/results.html? id=3606&menulevel1=3&menulevel2=0 ↩︎
Hilde Heynen, Transitoriness of modern architecture, in Hrsg: Allen Cunningham, Modern Movement Heritage, London: Routledge, 1998, S. 29, S. 35. ↩︎
Maja Lorbek