Beweismittel Architektur
Besprechung von »Forensic Architecture – Violence at the Treshold of Detectability« von Eyal WeizmanEyal Weizman
Forensic Architecture -
Violence at the Threshold of Detectability
New York: Zone Books, 2017
368 Seiten, ca. 38,-
Die Arbeit von Forensic Architecture konnte in den letzten Jahren immer wieder Aufsehen erregen und wurde schließlich bei der Architekturbiennale in Venedig 2016 einem breiten Publikum bekannt. Unter der von Alejandro Aravena kuratierten Thematik Reporting From the Front waren die Projekte von Forensic Architecture damals in gleich mehreren Pavillons vertreten. Dabei legten alle Beiträge der in London ansässigen Research Agency unmissverständlich dar, dass das Berichten von der Front ihre primäre Aufgabe ist.
2010 von Eyal Weizman gegründet, versteht sich Forensic Architecture als eine multidisziplinäre Forschungsagentur, die aus KünstlerInnen, FilmemacherInnen, SchriftstellerInnen und ArchitekturforscherInnen besteht. Das Untersuchen und Aufdecken von staatlicher und korporativer Gewalt, um einerseits den Betroffenen eine Stimme gegenüber den Mächtigen zu geben und andererseits die Mächtigen zu kontrollieren, ist die selbst definierte Aufgabe. Die faktenschaffende Arbeit des Teams unterstützt internationale NGOs, politische Organisationen, Umweltrechtsgruppen und Institutionen wie die UNO bei Gerichtsverfahren und Anklageschriften. Immer dann, wenn urbane, dicht besiedelte Territorien betroffen sind oder die Analyse räumlich manifestierter Verbrechen gefragt ist, wird die sehr spezifische Expertise angefordert. Die gebaute Umwelt ist für Forensic Architecture ein Netz hoch sensibler Sensoren. Bauwerke erhalten eine neue Ebene der Nutzung – Architektur als Beweismittel.
So wie die ProtagonistInnen entstammen auch die Arbeitstechniken und -werkzeuge einem multidisziplinären Umfeld. Für die finale Präsentation werden meist Darstellungsmethoden aus dem Bereich der Architektur wie 3D-Modelle oder mapping-basierte Analysen und Animationen herangezogen. Die Frage nach einer ästhetischen Neudefinition und klar verständlichen Visualisierung ist dabei ständig präsent, gerade weil es um die Dokumentation von Verbrechen und Sachverhalten geht, deren Betrachtung verstörend ist. Um möglichst wissenschaftliche und unumstößliche Ergebnisse zu liefern, bedient man sich einer Vielzahl innovativer Möglichkeiten. Sensortechnologien werden genau so herangezogen wie Luftbilder und Soundanalysen. Oft genug entwickeln die MitarbeiterInnen von Forensic Architecture neue Werkzeuge, um sie direkt in der Feldforschung anzuwenden. In gewisser Weise leistet man so Pionierarbeit, die auch das Arbeitsfeld Architektur neu auslegt und radikal erweitert.
Letzten Herbst präsentierten Forensic Architecture in ihrer bisher umfassendsten Ausstellung im Museu d’Art Contemporani de Barcelona unter dem Titel Towards an Investigative Aesthetics ihre Projekte. Die dort gezeigten Untersuchungen finden sich auch in dem neuesten, 2017 veröffentlichten Buch Forensic Architecture – Violence at the Threshold of Detectability wieder. Eyal Weizman bietet darin zum ersten Mal eine gründliche Einführung in die Geschichte und Arbeit der investigativen Praxis von Forensic Architecture und zeigt auch die damit einhergehenden Probleme und Potenziale. Diese Fragen werden anhand der Projekte und der Schwierigkeiten, die dabei auftreten, erklärt. Kein Projekt ist bloße Bearbeitung eines Sachverhalts sondern immer auch ein Verhandeln von grundlegenden Fragen.
Zu Beginn erwartet die LeserInnen ein Einführungskapitel, das sich der Schwelle der Erkennbarkeit (the threshold of detectability) widmet. Ein Gerichtsverfahren rund um den Holocaustleugner David Irving, dem nicht eindeutig beweisende Luftbilder genügen, um die Existenz von Gaskammern in Abrede zu stellen, und die Frage nach der ungleichen Zugänglichkeit zu Satellitenbildern bilden dabei den Rahmen. Obwohl Satellitenbilder für die Öffentlichkeit zugänglicher als je zuvor sind, wird – wie Weizman anmerkt – die hohe Auflösung zum Töten verwendet (Geheimdienstaufklärung und militärische Drohnen) und die niedrige Auflösung zur Untersuchung des Tötens (öffentlich zugängliche Daten wie z.B. Google Maps). Der weitere Inhalt des Buchs ist in drei Hauptabschnitte gegliedert, deren Titel wie folgt lauten: What is Forensic Architecture, Counterforensics in Palestine und Ground Truth.
Beschriebene Fallstudien umfassen unter anderem die Rekonstruktion eines geheimen syrischen Gefangenenlagers aus dem Gedächtnis seiner Überlebenden, die 3D-Modellierung von Bombenwolken, die dann als Finger-abdrücke für die Lokalisierung israelischer Luftangriffe in der dichten, städtischen Umgebung von Gaza dienen und die Visualisierung des unsichtbaren Kriegs mit Drohnen in Pakistan und Afghanistan.
Um welche Analyseebenen sich die Arbeit von Forensic Architecture bereits erweitert hat und zukünftig weiterentwickeln könnte, zeigt der letzte Teil des Buches. Zusätzlich zur Betrachtung detaillierter Stadtsituationen und einzelner Gebäude werden überregionale Gebiete in den Fokus genommen – zur Beweisführung von Menschenrechtsverletzungen kommt die Analyse der systematischen Zerstörung von Natur und ökologischen Systemen.
Die Buchseiten sind äußerst dicht an Information, Bildern und Karten, die aufzeigen, wie sich ein mittlerweile globaler Bottom-up-Aktivismus eine Vielzahl an Fähigkeiten und Technologien aneignet, diese neu einsetzt und so eine bemerkenswert wissenschaftliche Genauigkeit im Kampf gegen die Verbrechen der Gewalt- und Machtmonopole erzielt.
Umso befremdlicher ist die bei Weizmann schon öfter beobachtete Selbstinszenierung, die den anderen ProtagonistInnen des Forensic Architecture-Universums im Buch wenig Platz lässt. Es wäre interessant und fruchtbar gewesen auch die Perspektiven anderer Beteiligter einzubinden.
Wegen der schweren Thematik ist das Buch oft lähmend und deprimierend. Der Beweis systematischer, staatlich geförderter Gewalt macht das Lesen unangenehm und zeigt, dass diese vom Kultur- und Rechtssystem akzeptiert wird. Erst durch visualisierte, forensische Beweisführung ist es möglich, diese zu entlarven. Umso wichtiger ist es, sich nicht entmutigen zu lassen und die in den Projekten beschriebenen Möglichkeiten genau zu studieren. Selten bekommt man ein Buch zu lesen, das thematisch so spezifisch und akkurat ist und dennoch die grundlegendsten Dinge menschlichen Zusammenlebens diskutiert. 9Forensic Architecture – Violence at the Threshold of Detectability ist definitiv kein Wohlfühlbuch, aber ein Muss für all jene, die nach wissenschaftlichen Methoden suchen, die auch im Sinne eines zivilen Ungehorsams eingesetzt und weiter entwickelt werden können.
Studierte an der Akademie der bildenden Künste Wien - Institut für Kunst und Architektur (MArch 2020). Er interessiert sich für die Parameter der räumlichen Verteilung, die verborgenen politischen und finanziellen Prozesse der Architekturproduktion und alternative Ansätze. Er arbeitet ua. in den Bereichen: Architekturtheorie, Architekturkonzeption, Dokumentation, raumgreifende Performances/Installationen und Stadtforschung.