Bombay: Stadt der Extreme
Besprechung von »Maximum City. Bombay« von Suketu MehtaMaximum City – Bombay ist ein gut gewählter Titel für ein Buch über eine Stadt, die laut Wikipedia derzeit die bevölkerungsreichste der Welt ist und mit einer ganzen Reihe von Superlativen und Extremen aufwarten kann: Größte Filmindustrie, riesige Slums, Unmengen von Menschen, die auf Gehsteigen wohnen, 200 Sprachen und Dialekte, Autolawinen und übervolle Züge. All diese Themen kommen zwar auch in Suketu Mehtas 780 Seiten dickem Buch über Bombay vor, seine Annäherung an die Stadt ist aber eine ganz persönliche und Statistiken oder Tabellen finden sich nirgends.
Mehta ist in Bombay aufgewachsen und im Alter von 14 Jahren mit seinen Eltern nach New York ausgewandert. Als Erwachsener ist er mit Familie für zweieinhalb Jahre in die Stadt seiner Kindheit zurückgekehrt, um sie wiederzuentdecken oder wie sich im Laufe des Buches herausstellt neu kennen zu lernen. Mehta lässt sich durch die Stadt treiben und erforscht sie, indem er sich von Mördern, Polizisten, SchauspielerInnen, SlumbewohnerInnen, BartänzerInnen und vielen mehr durch ihren Alltag und ihre Welt führen lässt. Über die mörderischen Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Moslems erfährt man somit von den Akteuren selbst, die ohne Skrupel davon erzählen, wie sie an dieser oder jener Ecke einen Menschen mit Benzin übergossen und angezündet haben, weil er die falsche Religion hatte, genauso wie der Autor über Folterungen der Polizei, die er miterleben musste, berichtet.
Mehta geht ohne vorgefasste Meinung auf die Menschen zu und lässt Leserinnen und Leser an dem Entstehen des Bildes, das sich von einer Seite über die nächste wie ein Mosaik aus vielen Begegnungen, Erfahrungen und Eindrücken komplettiert, teilhaben. Der Autor teilt seine Bewunderung und sein Staunen genauso mit den LeserInnen wie seine Abscheu und seinen Ekel. Er sieht sich als Beobachter, der am Rande der Bühne sitzt und manchmal aufpassen muss, dass er von den ProtagonistInnen auf der Bühne nicht mitgezogen wird.
Charakteristisch ist für Bombay die Macht der Gangs, deren Anführer oft vom Ausland aus die Fäden ziehen. Die Auswirkungen lassen sich im Alltag jedes Einzelnen spüren. Die Polizei hat nicht die geringste Chance, auf konventionellem und legalem Wege etwas gegen die Banden auszurichten, weil Bestechung und Erpressung zur täglichen Routine gehören und die Justiz völlig überfordert und ohnmächtig ist. Die Polizei bedient sich deswegen schon gewohnheitsgemäß der Folterung und Ermordung („Encounter“) von Gangstern und jeder weiß davon, doch alle, inklusive Medien und Justiz, „halten die Fiktion der zufälligen Tötung aufrecht“. An der Macht der Gangs ändert das nichts, weil die Bandenbosse das „Spiel“ ebenfalls mitspielen und nichts dagegen haben, wenn einige ihrer eigenen Leute von der Polizei erschossen werden, solange ihre Geschäfte in Ruhe weiterlaufen und es ihrer Bande nicht grundsätzlich an den Kragen geht. Die einzigen, die sehr wohl was gegen diese Polizeimethoden haben, sind die kleinen Gangster und Killer, also die Opfer der Polizeigewalt, unter denen sich, wie Mehta anmerkt, mittlerweile so was wie ein Klassenbewusstsein entwickelt hat.
Ein besonderes Naheverhältnis gibt es auch zwischen der organisierten Kriminalität und der Filmindustrie, weil sich Filmproduktionen ausgezeichnet eignen, um Geld zu waschen, und weil die Bandenbosse noch dazu große Filmfans sind, die es sich gelegentlich auch nicht nehmen lassen, inhaltliche Vorgaben zu machen. Mehta wagt die These, dass es das Phänomen Bollywood ohne das Geld der Gangs nicht gäbe.
Mehta lässt sich aber nicht nur von „ExpertInnen“ durch die Stadt führen, sondern führt die LeserInnen auch selbst, indem er beispielsweise die Schule aufsucht, deren Schulbank er einst gedrückt hat und deren LehrerInnen ihm noch als besonders gewalttätig in Erinnerung sind. Die wohl schönste Stelle im Buch ist Mehtas Erinnerung an das ungeduldige Warten auf und das schließliche Eintreffen des Monsuns, der alle Kinder auf den Straßen tanzen ließ: „Einem kräftigen Krachen am Himmel folgte ein gewaltiges Kreischen, diesmal von unten auf der Erde; aus der Kehle Hunderttausender von Kindern überall in der Stadt, auf die nun der Regen niederging. Den ganzen Tag hatten wir geschwitzt, den ganzen Tag war der Körper bereit gewesen, ihn zu empfangen, hatte instinktiv gespürt, daß er kommen würde, und nun fiel der erste Regen auf unseren Körper.
Die Eltern hatten uns gewarnt, uns nachgerufen: Nimm nie eine Dusche im ersten Regen! Er ist schwarz vom Staub und der Verschmutzung aus der Atmosphäre, du wirst krank davon, aber das war uns egal. Alle Kinder der Welt sind draußen, tanzen auf der Straße und auf den Parkplätzen und auf den Gullys, und dieses eine Mal bringt die mächtige Kinderschar, unterstützt von der unbesiegbaren Kraft des Monsuns, die Autos zum Stillstand. Große Wassertropfen prasseln herab, Wasserwände, Wasserwelten. Und du stehst mitten drin, und siehst nichts als Wasser.“
Verwundern mag vielleicht, dass Mehta ständig Bombay schreibt, obwohl die Stadt seit 1995 offiziell Mumbai heißt. Die Bezeichnung Mumbai ist für Mehta allerdings nur eine absurde Idee und nationalistische Spinnerei von HindufanatikerInnen. Diese stellen jedoch leider die stärkste Partei, die Shiv Sena mit ihrem Anführer Bal Thackery, der im Buch interviewt wird, und auch derzeit wieder den Bürgermeister.
Mehtas Buch ist weder Liebeserklärung noch Abrechnung sondern beides gemeinsam. Er verfällt nicht in nostalgische Schwärmerei und benennt die unglaublichen Probleme der Stadt, hat aber auch die Geduld und Hartnäckigkeit „hinter der heruntergekommen Fassade der physischen Stadt die überschäumende Energie der Bewohner“ zu entdecken, die ihm einen Platz zugestanden haben, den er in New York nie hatte. Aus dem „Nein“, das ihm zu Beginn alle entgegenschleudern, wird am Ende doch ein „Ja“.
Christoph Laimer ist Chefredakteur von dérive.