Iris Meder


Untersuchungen zu architektonischen und städtebaulichen Entwicklungen in Mittelstädten tendieren meist dazu, die Relationen aus den Augen zu verlieren und den fokussierten lokalen Verhältnissen unverhältnismäßig große Bedeutung beizumessen. Antje Senarclens de Grancys Buch zur Reformarchitektur in Graz um 1900 bildet eine Ausnahme, nicht zuletzt in ihrer dem Gegenstand angemessenen Betrachtungsweise und dem »Blick auf das Ganze«, der nicht nur das so überschriebene Schlusskapitel kennzeichnet. Thema ist das Phänomen Provinz, nämlich die Mechanismen und Strukturen der Aneignung zeitgenössischer Entwicklungen im Wechselspiel mit retardierenden, vermittelnden oder auch ganz bewusst neue Synthesen suchenden Tendenzen – das heißt »in welchem Verhältnis Moderne und Tradition, moderne und vermeintlich ‘antimoderne’ Tendenzen zueinander standen und welche Interferenzen sich daraus ableiteten« (S. 19).
Dieser Ansatz bietet nicht zuletzt auch die Gelegenheit zur nach wie vor gemeinhin eher unpopulären Infragestellung herkömmlicher Kategorisierungen von gut-modern-progressiv und böse-traditionalistisch-reaktionär. Hier ist besonders die Rolle des Heimatschutzes thematisiert, der für die Hagiographie der Moderne – bereits durch seine Rolle in Opposition zum progressiven Deutschen Werkbund in den zwanziger Jahren, endgültig aber mit dem Schulterschluss seines Masterminds Paul Schultze-Naumburg mit der Blut-und-Boden-Ideologie des Nationalsozialismus – auf ewig in die Hölle des Antifunktionalismus verbannt schien. Eine differenzierte Betrachtung des Heimatschutz-Konzepts in seinen unterschiedlichen Facetten und des Potentials, das in der ursprünglich durchaus im Sinne der Moderne primär gegen den ästhetischen Wildwuchs des Historismus gerichteten Bewegung steckte, ist eines der Verdienste von Senarclens de Grancys Buch. Dabei werden für Nicht-Insider in prägnanter Form immer auch die Hintergründe und Voraussetzungen dargelegt, die die Grazer Architektur beeinflussten und prägten.
Trotz nur mäßiger Einflüsse der Otto-Wagner-Schule entwickelte sich in Graz nichts der undogmatisch modernen »Wiener Schule« von Adolf Loos, Oskar Strnad und Josef Frank Vergleichbares. Stattdessen verschrieb man sich mehr und mehr dem »Bodenständigen«. Absurd mutet unter anderem die Grazer Selbstdarstellung als »deutsche« Stadt an (S. 90ff.), für die zeitweise der als »deutsch« reklamierte »Fischer-von-Erlach-Stil« stehen sollte. Eine der Folgen dieser zunehmend national geprägten Selbstwahrnehmung war die nachdrückliche Propagierung des aus der Münchner Architekturszene importierten Heimatschutzstils, der die tradierten Grazer Bauformen (wie die charakteristischen »Grabendächer«) zugunsten eines abstrakten Konstrukts von süddeutscher »Heimatlichkeit« (mit dem bevorzugt eingesetzten, genuin französischen Mansarddach) ignorierte, ähnlich wie die Neogotik des 19. Jahrhunderts gelegentlich echte gotische Altäre durch neogotische zu ersetzen beliebte. Der nicht ideologisch besetzte Begriff des »genius loci« wurde dabei sukzessive durch den der »Heimat« ersetzt (S. 344ff.).
Exemplarisch beleuchtet Senarclens de Grancy u. a. Planungs- und Baugeschichte und Rezeption von größeren Projekten der Otto-Wagner-Schule wie dem Parteihaus der steirischen Arbeiterschaft (Franz und Hubert Gessner) und dem Anbau des Grand Hotels Wiesler durch Marcel Kammerer sowie Arbeiten lokaler Größen wie Alfred Kellers Sanatorium Hansa und Andreas Gisshammers Einküchenhaus Theresienhof; außerdem das Schaffen von Adalbert Pasdirek, dem Architekten mehrerer eigenwilliger Flachdachvillen (dessen Karriere eine einschneidende Zäsur erlebte, als er wiederholt wegen Exhibitionismus verhaftet wurde), und seiner Beziehungen zum Heimatschutz. Bedauerlich ist, dass manchmal Abbildungen zum Vergleich herangezogener Projekte, wie etwa Wunibald Deiningers Hotel National in Mährisch Ostrau zugunsten weitgehend bekannt vorauszusetzender Vorbilder wie Josef Hoffmanns Sanatorium Purkersdorf fehlen.
Die Reformarchitektur des Heimatschutzgedankens geriet schließlich unwiderruflich in das Fahrwasser des Reaktionären, das das Neue Bauen nur als »Versündigung gegen den bodenständigen Geist« sah (S. 426), womit stilistische Fragen endgültig an ideologische Termini gebunden waren. Provokativ endet die Darstellung mit der Abbildung eines echt »bodenständigen« Schlafzimmers mit Himmelbett, gedrechselten Bettpfosten und gewürfeltem Bettzeug. Schöpfer des im Jahr 1931 entstandenen Interieurs: der Grazer Le-Corbusier-Schüler Herbert Eichholzer, der als Kommunist mit Grete Schütte-Lihotzky aus dem türkischen Exil nach Österreich zurückkehrte, um im Widerstand gegen das Nazi-Regime zu arbeiten, und 1943 hingerichtet wurde. Einmal mehr wird deutlich: Die Geschichte der Moderne ist keineswegs so eindimensional, wie sie lange Zeit vermittelt wurde.


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