Iris Meder


Es gibt sie noch, die großen Rundum-Epochen-Ausstellungen. Früher waren es Themen wie Wien um 1900, die Zeit Prinz Eugens oder des Vormärz, heuer ist die Zeit um 1930 angesagt, mit Wien als Schauplatz. Die Zeit, als die Erste Republik sich langsam aus den Windeln befreite, als wieder genug zu essen da war und allmählich auch Wohnungen für all jene, die Wien vor dem Ersten Weltkrieg zu einer rasant wachsenden Metropole gemacht hatten und teils Untermietzimmer, teils gar nur schichtweise Schlafstellen als „Bettgeher“ hatten. Nun kamen noch mehr in die Kapitale eines auf einen minimalen Bruchteil seiner einstigen Ausdehnung geschrumpften Landes. Wien wurde so zunehmend zum „Wasserkopf“, in dem es nicht nur in den zahlreichen Revuetheatern gehörig brodelte.

Die hemmungslose Aggressivität politischer, aber auch kultureller Auseinandersetzungen thematisiert die unter der Leitung von Wien-Museum-Direktor Wolfgang Kos konzipierte Mammutausstellung, die die räumlichen Kapazitäten des Wien Museums gesprengt hätte und deshalb ins Künstlerhaus ausgelagert wurde, unter anderem mittels einer Videoinstallation mit aneinandergeschnittenen und großformatig auf eine schräge Ebene projizierten Marschierenden, während der Raum daneben Stimmen der Zwischenkriegszeit gewidmet ist, vom schrillen Sportreporterjargon bis zum staatstragenden Politikerbass.

Eine laute Zeit war es, das suggerieren auch die nicht beschallten Abteilungen der Schau, eine hektische, in der man ständi­g Autos hupen, Straßenbahnen klingeln, Jazzbands spielen zu hören vermeint, und eine schnelllebige, in der Radiowellen aus der weiten Welt live in jeden Haushalt dringen konnten und mehr Dinge denn je den unsichtbaren blinkenden Schriftzug NEU! trugen. Die architektonisch vom Büro BWM gestaltete Schau thematisiert diese damals neuen Dinge, die uns heute großteils alltäglich sind, als aufschlussreiche Fußnoten in den einzelnen Abteilungen. Wer hätte sich je Gedanken gemacht, wann Trockenhaube, Elektro­rasierer, Haarwurzelverödung, Kondomautomat, Banane, Staubsauger, Verkehrsampel oder auch der Gummiknüppel in das Leben Mitteleuropas traten?

Auf einmal, sprich: bei einem Besuch, ist es unmöglich, die Ausstellung mit 1800 Objekten auf 2000 m2 in ihrer Gänze auch nur grob zu erfassen. Behandelt wird so ziemlich jedes Thema des Kultur- und Alltagslebens, Exponate wie lederne Autofahrerhauben, gestrickte Badeanzüge und glänzende Tanzschuhe schaffen eine unmittelbare, materielle Nähe zum Alltag einer Zeit, die museal sonst eher in Form von neusachlichen Gemälden, auratischen Stahlrohrfreischwingern und konstruktivistischen Plastiken präsent ist. Die Ausstellung leistet mit der Darstellung sowohl der modernen wie auch der restaurativen klerikal-politischen Tendenzen (so trat 1933 eine Verordnung in Kraft, nach der „Personen, die aus der Kirche austreten wollen, […] sich von der Behörde auf ihren Geisteszustand untersuchen lassen“ mussten) und der Zwischenformen wie etwa der im Ansatz progressiven Wandervogel-Bewegung samt Zopf-und-Dirndl-Dresscode auch einen Beitrag zur Zurechtrückung eines Epochenbildes, das in kultureller Hinsicht immer noch vom überkommenen klassischen Avantgarden-Kanon bestimmt ist. Sorgfältig kuratiert sind sowohl die politischen wie die kulturellen Kapitel, so dass sich selbst für Versierte Neues, noch nicht Gekanntes zeigt. Auf den zum Redaktionsschluss noch nicht erschienenen Katalog darf man gespannt sein.

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Ausstellung
Kampf um die Stadt
Politik, Kunst und Alltag um 1930
Wien Museum im Künstlerhaus
19. November 2009 bis 28. März 2010


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