Andreas Quednau

SMAQ

Sabine Müller


Verstädterung - ein globales Phänomen.
Dennoch sind die Logiken der Stadtproduktion überaus unterschiedlich und nicht unbedingt vergleichbar. Während in Europa das Urbane expansiv die Landschaft erfasst, entwickeln sich in Lateinamerika im Marktabseits und in Selbstorganisation höchst verdichtete Stadtstränge innerhalb existierender Städte.

Am Beispiel von Caracas spürt die Studie City Boids den spezifischen Bedingungen, Logiken und Handlungsmustern der »informellen« Raumproduktion nach. In der venezolanischen Metropole kolonialisieren wandernde VerkäuferInnen die Rhythmen der täglichen Rushhour-Staus. So genannte Barrios eignen sich die kleinen Flusstäler an, die die formale Stadt aufgrund des starken Gefälles und der geologischen Unsicherheit nicht einbinden kann; die informellen Siedlungen ziehen die Sackgassen der Rasterstadt hinauf auf die Hänge, die als nicht profitable galten. Anschmiegsam überformen sie hektarweise die Hügel. Tausende StraßenhändlerInnen nutzen bestehende Infrastruktur und Aktivitätsströme und verwandeln dabei die prominente Fußgängerzone in ein Marktlabyrinth. Luxusapartmenthäuser werden nach Bauabnahme aufgestockt.

Diese Arten der Stadtproduktion gleichen sich in ihrer enormen Anpassungsfähigkeit. Sie nutzen die Lücken des dominierenden Systems aus und kehren dessen Fehlschläge subversiv in ihren eigenen Vorteil. Opportunistisch sind sie abhängig von Gelegenheiten und vom richtigen Moment. Nach de Certeau sind dies taktische Verhaltensweisen, die angewendet werden, wenn kein eigenes Territorium kontrolliert wird, sondern im »Herrschaftsbereich« des anderen agiert werden muss. Es ist kein Zufall, dass es zunächst die Unbemittelten sind, die taktisches Geschick entwickeln müssen. Es ist ein Handeln ohne Überblick: blind, tastend, hartnäckig, gleichzeitig flink und wendig. Für das Objekt Stadt sind diese Eigenschaften ungewöhnlich. Ein geschmeidiger und reaktionsfähiger Urbanismus ist schwer zu erfassen. Dennoch liegen diesen Fähigkeiten klare Prinzipien zu Grunde.

Informelle Stadtproduktion baut auf Kleinsteinheiten auf: Häuser, Hütten, Stände, einzelne Personen, die sich gruppieren, häufen und durch die Wiederholung ähnlicher Interventionen sich zu weiten, gar endlosen multidirektionalen differenzierten Feldern ausdehnen. Diese »Moleküle« sind einerseits abhängig von äußeren, globalen Bedingungen, andererseits – und das mag die positive Seite des Auf-sich-gestellt-seins sein – sind sie unabhängig im lokalen, eigenen Bereich – d. h. zumindest nicht im Voraus bestimmt. Diese Eigenständigkeit und Undeterminiertheit kann noch genauer lokalisiert werden: Sie bezieht sich auf den Ort, auf die Zeit, in der Dinge realisiert werden und auf die NachbarInnen. So muss der/die einzelne SiedlerIN oder HändlerIN seine/ihre Ansprüche und die Eigenheiten des Ortes gegeneinander austarieren, nach eigenen Kriterien vermessen: Z. B. streckt er/sie sich hin zu Stromanschlüssen, Wasserläufen oder Zugängen, deren Lage selten miteinander korrespondiert. Er/Sie muss Topografie und Fundament effizient ausbalancieren. Dabei gilt: je geringer die Mittel, desto genauer deren Beziehung auf die Gegebenheiten. Des Weiteren wartet der/die »KolonistIN« auf günstige Gelegenheiten, um aufzustocken, zu expandieren oder die Position zu verändern. Abhängig von nur unregelmäßig verfügbaren Ressourcen lauert er/sie auf den Moment, um Bedürfnisse befriedigen zu können: Er/Sie materialisiert phasenweise, verändert, baut um. Auch Grenzziehungen sind nicht unbedingt festgelegt. Es gibt Überlappungszonen, in denen die NachbarInnen ihre Territorien verhandeln. Die eine agiert, der andere reagiert. So hat das Grundstück selten denselben Umriss über die gesamte Höhe. Überkragen und zurückweichen bestimmen den räumlichen Dialog.
Den Prinzipien der Selbstorganisation entsprechend gibt es relativ einfache Grundsätze, die in einer beschränkten Reichweite der Nachbarschaft wirksam werden. Die Handlungen eines jeden Moleküls entwickeln sich gewissermaßen in einem offenen und aufnahmefähigen Feld, welches erst vor Ort und in der Zeit aktualisiert wird. Zwischenmolekulare Beziehungen und Bindungen lassen ganze Systeme entstehen. Dabei bleiben die Eigenschaften und Fähigkeiten der Einzelnen erhalten, sie werden synthetisiert. Komplexität entsteht durch die Vielzahl präziser und lokal angemessener Operationen, die aufeinander reagieren. Molekularer Urbanismus fügt unzählige Momente, Zeitabschnitte und Örtlichkeiten über lokale Interaktionen in eins. Diese Art der Stadtproduktion gründet sich also auf einer Vielfalt zeitlich paralleler, nachbarschaftlich vernetzter Einzel-Rationalitäten und wird dadurch geschmeidig und anpassungsfähig.

So betritt mit dem »Informellen« ein anderes Verhältnis zu Zeit und Ort das Konzept der Stadt. Ein Verhältnis, das jedoch nur schwer Eingang in die vogelperspektivischen Denkweisen der Planungsdisziplinen findet. Stadtplanung und Architektur bevorzugen Resultate und Fakten. Ihre Repräsentationstechniken können Offenheit, Potenziale, Kohäsionskräfte und damit verbundene mögliche Entwicklungen kaum aufzeigen. Um nun die Molekularstruktur der urbanen AkteurInnen »durchzupausen« verwendet City Boids diagrammatische Notationen. Da diese über ein zu Grunde liegendes Prinzip, über Möglichkeiten, Phasen, Verbindungen, nicht aber über konkretisierte Form spricht, wird die Wirkungsweise des molekularen Urbanismus greifbar gemacht.

City Boids - Molecular Urbanism entstand im Rahmen des CaracasCase Projects, einem Initiativprojekt der Kulturstiftung des Bundes und dem Caracas Think Tank.


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